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Guatemala, 10 Jahre danach... Den Leuten die Kontrolle über ihr Leben zurückgeben, Teil 2

Fijáte 373 vom 29. November 2006, Artikel 1, Seite 1

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Guatemala, 10 Jahre danach... Den Leuten die Kontrolle über ihr Leben zurückgeben, Teil 2

M.A.G.: Hoffentlich dauert es nicht lange, bis man sich um diese Leute kümmert. Leider ist es aber vom Willen der aktuellen PolitikerInnen abhängig, ob und wann mit dieser Arbeit begonnen werden kann. Es ist offensichtlich, dass viele der Morde, die heute geschehen, mit dem VGorganisierten VerbrechenNF und dem VGDrogenhandelNF in Zusammenhang stehen. Meine jahrelange Arbeit im Gefängnis und mit Sektoren, die noch einmal ganz anders Bescheid darüber wissen, was für unvorstellbare Dinge in Guatemala laufen, haben mich zu dieser Überzeugung kommen lassen. In dieser Schattenwelt geschehen Dinge, von denen wir uns keine Vorstellung machen können.

Leider fehlt es in Guatemala an einer Sozialpolitik, die Gewaltprävention vorsieht. Die Tendenz ist, den VGJugendbandenNF in den marginalisierten Quartieren mit der Politik der "harten Hand", also mit Repression zu begegnen. Das Tragische ist, dass die Leute darauf reagieren und nicht mehr in der Lage sind, überhaupt über andere Möglichkeiten als Repression nachzudenken. Es fehlt an politischer VGErziehungNF, die Leute sind nicht in der Lage, sich eine eigene Meinung zu bilden. Wir - vor allem die Jugendlichen - müssen wieder Denken lernen, damit wir uns nicht übers Ohr hauen lassen von irgendwelcher Propaganda.

Ein weiteres menschliches Phänomen und eine wichtige Komponente von Entwicklung ist die Kommunikation. Unsere zwischenmenschliche Kommunikation ist völlig gestört. Entweder sie ist gar nicht vorhanden oder sie ist konfliktbeladen. Aushandeln heisst bei uns, den anderen oder die andere dazu zu bringen, meinem Willen zu gehorchen. Sämtliche Versuche von politischen Allianzen sind in Guatemala gescheitert, weil man unter Allianz versteht, dass der andere sich mir unterzuordnen hat.

Wie wichtig die Kommunikation ist, sehen wir auch bei unseren re-encuentros (den Wiedertreffen zwischen im Krieg vermissten/verlorenen Kindern und Familienangehörigen, die Red.). Am Anfang dachten wir, die Arbeit wäre erledigt, wenn wir die Menschen physisch wieder zusammenbringen, doch dann haben wir gemerkt, dass ein wichtiger Teil der Arbeit erst dann beginnt. In den Beziehungen der Leute, die sich wieder finden, gibt es ein Zeitloch bis zu 20 Jahren. Dieses Loch kann man nicht einfach auffüllen, aber man kann Steine legen, um es zu überbrücken. Und dabei ist die Kommunikation enorm wichtig. Noch beim ersten Wiedersehen-Treffen schenken wir den Leuten einen Kalender und zwingen sie, darin einzutragen, wer wen wann anruft, wer wen besucht etc., damit sie sich austauschen, miteinander sprechen und gemeinsam diese verlorenen Jahre aufarbeiten können.

Ein weiterer Faktor ist die Erinnerung. Unsere historische Erinnerung ist verzerrt. Wenn man heute in den Schulen über die conquista spricht, errichtet man den "Eroberern" quasi jedes Mal ein neues Monument!

All dies ist Teil der Subjektivität und es beeinflusst, wie du dich und deine Umwelt wahrnimmst.

Frage: Wenn du der Arzt oder der Psychiater Guatemalas wärst, was würdest du dem Land und seinen Leuten für eine Medizin verschreiben?

M.A.G.: Man muss im Kopf behalten, dass die materielle Absicherung für die Leute fundamental ist. Also muss man in öffentliche Politiken investieren, die mit der Absicherung der Lebensgrundlagen der Menschen zu tun haben: VGGesundheitNF, Bildung, Erholung. Dies ist ein wichtiger und grundlegender Teil.

Daneben würde ich eine grosse, nationale Kampagne lancieren, in welche die Regierung, die Medien, die sozialen Organisationen, die Kirchen usw. involviert sind, um humane, soziale zwischenmenschliche Beziehungsformen aufzubauen. Dabei geht es darum, neue Werte zu definieren, den anderen oder die andere als wichtig für mich anzuerkennen. Denn, wenn du für mich wichtig bist, werde ich dich nicht bestehlen, dich nicht misshandeln und dich nicht umbringen. Wichtig ist, dass eine solche Kampagne ohne partei-politische oder philosophisch-religiöse Absichten durchgeführt wird. Im Kern geht es darum, uns wieder beziehungsfähig zu machen, denn genau diese Fähigkeit hat man uns zerstört.

Unsere Medien tragen das Ihre dazu bei, indem sie jeden Tag auf der Titelseite der Zeitung das Bild eines ermordeten Menschen bringen. Die Leute gewöhnen sich daran, und das Bild muss jedes Mal blutiger, die Geschichte schrecklicher sein, damit sie überhaupt noch beeindruckt. Deshalb hätten die Medien eine wichtige Rolle bei dieser Kampagne. Die Liga hat eine Serie von Radiospots aufgenommen zum Thema Gewalt und Jugend. Dazu haben wir nationale Persönlichkeiten interviewt. Wir sind uns bewusst, dass wir damit das Problem als solches nicht lösen können, aber wir können der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten, den Leuten zeigen, was in ihrem Land geschieht und wie sie damit umgehen können. Denn sie haben sich bereits an diese Gewalt gewöhnt, sie erscheint ihnen normal und mit unseren Spots wollen wir den Leuten sagen, dass das überhaupt nicht normal ist.

Vielen Dank für das Gespräch!


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