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von Toni Steiner, Guatemalanetz Zürich
In den vergangenen 30 Jahren sind in mehreren Ländern, in denen innere politische Auseinandersetzungen die herrschenden Regierungen zu blutiger Gewaltanwendung geführt hatten, nachträglich offiziell „Wahrheitskommissionen" eingesetzt worden. Sie hatten zur Aufgabe, durch die Einvernahme von Zeugen und das Studium von Dokumenten den Konflikt zu durchleuchten und einen Bericht zu erarbeiten, der die historische Wahrheit aufdeckt, Verantwortlichkeiten benennt und damit für die nationale Gesellschaft einen Neuanfang ermöglicht. So geschah es etwa in Bolivien, Chile, Argentinien, Uganda, El Salvador und Südafrika.
In Guatemala sind in den 1990er Jahren sogar zwei solche Berichte entstanden: der eine, offizielle, als Folge des Friedensabkommens zwischen Regierung und Guerilla durch die Comisión del Esclaricimiento Histórico /CEH mit dem Titel „Memoria del Silencio"; der andere, der von der katholischen Kirche Guatemalas initiiert wurde, im Bericht „Guatemala - nunca más" seinen Niederschlag fand, jedoch ein umfassendes pastorales Projekt sein wollte, das durch die Wiederaneignung der historischen Erinnerung (Recuperación de la Memoria Histórica /REMHI) in Dörfern und comunidades aber auch auf umfassenderen gesellschaftlichen Ebenen einen Prozess der Anerkennung der vergangenen Geschehnisse und der Aussöhnung in Gang setzen sollte.
Anika Oettler, Mitarbeiterin des Instituts für Iberoamerika-Kunde in Hamburg, hat in ihrer Dissertation die Entstehung, Eigenart und Auswirkung dieser beiden Dokumente untersucht. Sie legt damit eine Studie vor, die Menschen, die an der jüngsten Geschichte Guatemalas interessiert sind, unbedingt zur Kenntnis nehmen sollten. Mit dieser Besprechung möchte ich diese interessante aber auch anspruchsvolle Studie kurz vorstellen. Ich will hauptsächlich zeigen, welche Fragen diese Studie leiten, und dann kurz antönen, was ich dank der Lektüre dieses Buches entdeckt habe.
Oettler zeigt auf, wie es in Guatemala überhaupt zur Einsetzung einer Wahrheitskommission kam, welche Gruppen im Innern - es waren anfänglich hauptsächlich Angehörige von Verschwundenen - und welche Einflüsse aus dem Ausland dazu führten, dass 1994 im Rahmen der Friedensverträge ein Abkommen unterzeichnet wurde, das die Einrichtung einer offiziellen Wahrheitskommission vorsah. Wir erfahren, warum noch im gleichen Jahr die katholische Bischofskonferenz beschloss, ein Projekt zur Wiederaneignung der historischen Erinnerung REMHI aufzugleisen. Wir vernehmen, wie der Auftrag der Wahrheitskommission eingeschränkt und wie ihre Einrichtung verzögert wurden, aber auch welche Dynamik sie schliesslich gewann und auslöste. Die Autorin geht auf die Frage ein, welche Ziele und welche Methodik die beiden Vorhaben verfolgten. Gerade darin unterscheiden sich nämlich die beiden Projekte und nehmen auch in der Gesellschaft Guatemalas einen verschiedenen Stellenwert ein. Wir werden über Inhalt, aber auch Auslassungen der beiden Berichte informiert. Die Autorin lenkt jedoch die Aufmerksamkeit der Leser vor allem auf die beabsichtigten bzw. abgedrängten und verhinderten Auswirkungen der Berichte, die im Guatemala der Nachkriegsjahre konkret geschehen sind.
Mir ist dank dieser Studie vor allem klar geworden, was jeder der beiden Berichte spezifisch geleistet hat. Der offizielle Wahrheitsbericht „Memoria del Silencio" hat - auf einen knappen Nenner gebracht - ein neues nationales Geschichtsbild statuiert und propagiert. Bis zu diesem Zeitpunkt war die offizielle Geschichte Guatemalas immer aus der Perspektive der dominanten weissen und ladinischen Schichten dargestellt worden. Im Wahrheitsbericht aber wurde gezeigt, dass der ausführlich bezeugte Terror der Aufstandsbekämpfung eine lange Geschichte von Autoritarismus und rassistischer Ausbeutung, Marginalisation und Repression der indigenen Mehrheit fortsetzte. Dem Bericht fügte die Kommission Empfehlungen an die Adresse des guatemaltekischen Staates an, die formulieren, durch welche konkreten Schritte das Land sich einem demokratischen Rechtsstaat annähern könnte. Mit der Präsentation dieses Berichts wurde der Nation Guatemala eine Geschichtsstunde erteilt, die wahrscheinlich weiter wirken wird, auch wenn sich ihr die meisten machttragenden Gruppierungen Guatemalas verweigert haben.
Das REMHI-Projekt hat hingegen letztlich versucht, soziale Prozesse der Bewusstwerdung, der Kommunikation und der Versöhnung in Gang zu setzen; es stiess „Erinnerungsarbeit" an. Am Ausgangspunkt stand das Wissen, dass viele der meist indigenen Opfer der Aufstandsbekämpfung, die durch die Armee und ihre paramilitärische Organisation PAC (Patrullas de Autodefensa Civil) terrorisiert worden waren, in ihren Dörfern und comunidades zum Schweigen verurteilt waren, wenn sie nicht neues Unheil auf sich ziehen wollten. Das führte in verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen zu Spannungen, Misstrauen und Blockierungen. Dadurch, dass man Opfer und Täter animierte, auszusprechen, was sie in der Zeit der Gewalt erlebt hatten, wollte man Prozesse in Gang bringen, die nicht nur Personen individuell erleichtern und wieder aufrichten würden, sondern auch soziale Netze wiederherstellen könnten. Durch die im Volk weitgehend positiv bewertete Arbeit der Kirchenleitung und vieler ihrer örtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, durch den Einbezug vertrauenswürdiger Animadores aus dem Volk als Befragende und durch die vorgesehene Nacharbeit der „Rückübermittlung" der Zeugenaussagen nach der Veröffentlichung des Berichts waren Voraussetzungen gegeben, die diesem „pastoralen" Projekt eine echte Chance gaben. Das Projekt kam am ehesten in indigenen comunidades des „Landesinneren" zur Verwirklichung, kaum in urbanen Gesellschaften, und auch dort nur, wo sich Bischöfe und Pfarrer fanden, die das Projekt tatkräftig vorantrieben. Vieles ist stecken geblieben, doch es ist unbestreitbar, dass gerade auf der Ebene von comunidades und Bezirken (municipios) bis heute Aufrichtendes und Heilsames in Bewegung gekommen ist.
Besonders berührt hat mich der Abschnitt über die Formen der Wiederaneignung der historischen Erinnerung (S. 275 - 301), wo Oettler konkret die Folgen der Ermordung von Bischof Gerardi, dem Leiter des REMHI-Projektes darstellt, sowie die Rückübermittlung in bestimmte Regionen des Landes. Der Abschnitt lässt die Feldarbeit spüren, die die Autorin geleistet hat. Überhaupt ist die Studie von treffenden Zitaten durchsetzt, die Oettler persönlich bei Interviews in Guatemala gesammelt hat.
Eine wichtige Entdeckung schliesslich, die mir diese Studie vermittelt hat und die ich hier nur andeuten kann, ist soziologischer Natur: Wie vermag individuelles Erinnern gesellschaftliche Leitbilder zu verändern? Die beiden Berichte sammelten ja erst einmal individuelle Zeugenaussagen von Opfern - und in bescheidenem Masse auch von Tätern. REMHI wollte Räume schaffen, wo solche Erinnerungen ausgetauscht und in gesellschaftliche Verarbeitungs- und Versöhnungspraxis umgesetzt würden. Die Wahrheitskommission fügte die individuellen Erinnerungen in ein umfassendes Geschichtsbild ein und schöpfte daraus Empfehlungen an die Regierung, die eine Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens anvisierten. Sie machte damit zukunftsorientierte Vergangenheitspolitik. Gerade diese grundsätzlichen Überlegungen, die Oettlers Studie durchziehen, regen dazu an, gesellschaftliche Erinnerungsprozesse über Guatemala hinaus in anderen Kontexten zu verfolgen. Auch in der jüngsten Geschichte der Schweiz haben wir ja mit dem Bergier-Bericht einen Fall, wo sich solche Überlegungen durchspielen lassen.
Anika Oettler, Erinnerungsarbeit und Vergangenheitspolitik in Guatemala (Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde Hamburg Bd. 60) Vervuert Verlag Frankfurt am Main 2004, 364 Seiten, 36.- €
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