"Die staatliche Indigenenpolitik ist reine Kosmetik"
Fijáte 467 vom 1. September 2010, Artikel 1, Seite 1
Original-PDF 467 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 --- Das ist zur Zeit das letzte Fijáte am Netz.
"Die staatliche Indigenenpolitik ist reine Kosmetik"
Die politischen Erfolge der indigenen Bevölkerung Guatemalas sind zweifellos ein Ausdruck ihres Organisationsgrades. Historisch ein immer ausgeschlossener und diskriminierter Sektor, bauten die indigenen Völker nach der Unterzeichnung der Friedensabkommen Strukturen auf, dank derer sie die Umsetzung dieser und anderer Abkommen einfordern konnten. Im folgenden Interview stellt Santiago Bastos, Autor des kürzlich erschienen Buchs "El Movimiento Maya en la década después de la Paz 1997 - 2007" (Die Maya-Bewegung in der Dekade nach der Friedensunterzeichnung) die These auf, dass nicht zuletzt die neoliberale Öffnung und die zunehmende Ausbeutung der Naturressourcen durch transnationale Unternehmen dazu beigetragen haben, dass die indigenen Organisationen gestärkt und ihre Forderungen zur Kenntnis genommen wurden. Das Interview erschien am 6. August in der Nr. 1858 von Inforpress Centroamericana. Frage: In welchem Kontext muss man die Situation der indigenen Völker Guatemalas sehen? Santiago Bastos: Die indigenen Bewegungen Guatemalas sind Teil der Bewegungen in Lateinamerika, wobei es länderübergreifende Gemeinsamkeiten gibt, aber auch länderspezifische Elemente. In Guatemala muss man das Thema Indigenas und alles, was damit zu tun hat, im Kontext des bewaffneten Konflikts sehen. Dieser prägte zwar die ganze Gesellschaft, doch im Fall der Mayas ist es wegen des an ihnen verübten Genozids eine spezielle Situation. Es gibt die Hypothese, dass der Genozid und die repressive Politik stattfanden, weil die indigene Bevölkerung schon zu einem grossen Grad organisiert war und deshalb ein ausgezeichneter Verbündeter für die Guerilla war und dass diese Verknüpfung ausschlaggebend war für alles, was danach geschah. Die staatliche Reaktion war Gewalt und Repression, die sozialen Strukturen wurden zerschlagen, die AnführerInnen verschwanden oder wurden umgebracht. Die Militarisierung und der Einsatz der Zivilpatrouillen zerstörten nicht nur die Möglichkeit eines indigenen Aufstands, sondern eine ganze Generation von Menschen. Es ist wichtig, die Auswirkungen der Repression in die Interpretation der aktuellen Situation einzubeziehen - und es ist ebenso wichtig, anzuerkennen, dass sich die indigenen Völker trotz allem organisierten. Frage: Obwohl sich die Organisation hat aufrechterhalten können, ist es nie gelungen, in gewisse politische Sphären einzudringen und auf Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Weshalb nicht? S.B.: Die Frage der Beteiligung am Staat stellte sich bereits in den 80er Jahren, als die Militärdiktaturen demokratischen Transformationen wichen, was den indigenen Bewegungen Auftrieb gab. Sie stellt sich erneut im Kontext des Neoliberalismus, der versucht, die sozialen AkteurInnen in staatliche Aufgaben einzubinden. Die Friedensverhandlungen schufen eine Konjunktur, die es den Indígenas, aber auch anderen Sektoren erlaubte, am Staat teilzunehmen, was bis dahin ein absolutes Tabu war. Mit der Gründung der paritätischen Kommissionen wurde dieses Tabu gebrochen, und die Maya-Bewegungen sahen ihre Beteiligung am Staat als legitim an. Das Problem ist, dass dieses nationale Engagement auf Kosten der lokalen Arbeit geschah. Man verlor den Bezug zur Basis, die Arbeit der AnführerInnen konzentrierte sich auf die Hauptstadt, und die Organisation der Basis wurde vernachlässigt. Ensprechend hatten jene indigenen RepräsentantInnen, die sich in staatliche Strukturen begaben, auch keinen Rückhalt von unten, und wenn es darum ging, im Kongress z. B. das Gesetz über indigene Sprachen durchzubringen, konnte keine Mobilisierung auf die Beine gestellt werden. In diesem Moment trat die internationale Kooperation auf den Plan, deren Unterstützung nicht so sehr in Geld, sondern in politischem Druck auf die Regierung bestand. Damit konnte man einiges erreichen, doch nicht die fehlende politische Unterstützung der Basis ersetzen. Dies sieht man an verschiedenen Institutionen wie z. B. der Akademie der Maya-Sprachen oder dem Indigenen-Fond FODIGUA, die wichtig sind, aber nicht die Aufgabe erfüllen, für die sie gegründet wurden - weil der Staat kein Interesse daran hat. Den Staat interessiert es nur, wenn z. B. Norwegen Geld für eine Institution geben und man somit die "ewig fordernden Mayas" ruhig stellen kann. Frage: Während der Friedensverhandlungen gab es eine Annäherung zwischen den Indígenas und der BäuerInnenbewegung. Welche Methoden wählten sie, um politisch Einfluss zu nehmen? S.B.: Es gab vor dem Krieg schon eine Allianz dieser beiden Sektoren, die jedoch durch die Repression zerstört wurde. In den 80er Jahren fand erneut eine Annäherung statt, im Rahmen der Friedensabkommen sprach man vom "indigenen BäuerInnenkampf". Bereits zuvor gab es jedoch eine Bewegung, die sich nicht über die landwirtschaftliche, sondern über die kulturelle Ausbeutung und Unterdrückung identifizierte. In den 60er Jahren sprachen sie von der Indio-Kultur, in den 80er und 90er Jahren identifizierten sie sich dann als Maya-Volk, als ein Kollektiv, das bereits vor der Ankunft der Spanier existierte. Man kämpfte für die Rückeroberung der Selbstbestimmung, der Würde, der kulturellen Rechte. Doch eigentlich ging es darum, über die eigene Zukunft zu bestimmen - was auf der Gegenseite die entsprechende Angst vor Separatismus auslöste. So wurde z. B. das Thema der Autonomie nicht in das Friedensabkommen über die Identität der indigenen Völker aufgenommen. Es wurden zwar politische Spielräume eröffnet, aber es fehlte an Einflussmöglichkeiten, um über ein gewisses Niveau hinauszukommen. Frage: Als Volk haben die Mayas der Repression und der Gewalt widerstanden. Ist Resistenz der einzige Weg, um die Identität zu bewahren? S.B.: Da hat sich etwas verändert. Seit dem 15. Jahrhundert bis heute war es ein passiver Widerstand, nicht so sehr politische Forderungen oder Demonstrationen. Die Leute besitzen eine riesige Fähigkeit, auszuhalten. Wenn man von kultureller Reinheit spricht, ist es am Schluss die Fähigkeit, sich anzupassen und trotzdem sich selber zu bleiben, welche die Indigenas auszeichnet. Der gemeinschaftliche Zusammenhalt trägt das Seine dazu bei. Die Veränderungen, die seit den 80er und 90er Jahren auszumachen sind, manifestieren sich darin, dass der passive Widerstand sich in öffentliche politische Forderungen wandelt und eine klare politische Ausrichtung zum Ausdruck kommt. Heute sehen wir am Beispiel des Widerstands gegen die Megaprojekte eine Mischung dieser beiden Formen: Auf Gemeindeebene üben die Leute passiven Widerstand, lassen sich trotz aller Repression nicht vertreiben, und politisch artikulieren sie dezidiert ihre Forderungen. Frage: Gibt es eine ideologische oder philosophische Strömung, mit der sich die Maya-Bewegung identifiziert? S.B.: Ja, auch wenn es innerhalb der Bewegung einen breiten Fächer von ideologischen Optionen gibt, nicht nur politisch linke oder rechte, es gibt auch die klassische, die kulturalistische, die autonomistische Ausrichtung usw. Aber in all dem gibt es eine Idee, die alle eint, und das ist die Idee eines Maya-Volks, eines Kollektivs, einer gemeinsamen Geschichte und Kultur. Dieses Bewusstsein ist etwas anderes als ein Klassenbewusstsein, es geht mehr von einem menschenrechtlichen Ansatz aus, vom kollektiven Recht auf eine eigene Sprache, auf Land, auf Bildung, Kultur, Autonomie, auf Selbstbestimmung. Die indigene Bewegung konsolidiert sich in einem Moment, in dem sie nicht mehr von anderen abhängig ist, weder von der Kirche noch von der Guerilla oder von den Vereinten Nationen. Nach oben |
Frage: Sind politische Maya-Organisationen wie z. B. Winaq oder andere jüngere Projekte im aktuellen Kontext mehrheitsfähig? S.B.: Auch diese Organisationen sind Teil der Veränderung. Bisher gab es Gruppierungen, die durch Druck gewisse Spielräume öffnen und etwas Einfluss nehmen konnten. Doch die Entscheide werden im Kongress getroffen, und die Alternativen sind entweder, die Parteien zu "mayanisieren" oder eine Maya-Partei zu gründen. Bereits 1987 gab es in Guatemala eine indigene Partei. Im Jahr 2003 gewann Evo Morales in Ecaudor die Präsidentschaftswahlen und bewies, dass man auch als Indigener an die Macht kommen kann. In Guatemala scheiterte Winaq bei den letzten Wahlen mit bloss 3% der Stimmen. Andere Beispiele in Lateinamerika beweisen, dass es nach 20 Jahren Kampf gelingen kann, an die Macht zu kommen, doch braucht es dazu eine breite Basis, die über den Indigena-Sektor hinausgeht. In Bolivien waren es zuerst die Coca-BäuerInnen, dann die Indígenas und zuletzt alle sozialen Bewegungen, die sich Morales anschlossen. Auch Winaq muss sich, um mittel- und längerfristig erfolgreich zu sein, mit den BäuerInnen, den GewerkschafterInnen und der Mittelschicht verbünden. Ein anderes Problem ist der Personenkult, der Mangel an politischen FührerInnen und eine linke politische Kultur, die es zu überwinden gilt. Frage: Sie sprechen von einem kosmetischen Multikulturalismus seitens des Staates, dem es nicht gelingt, die Anliegen des Maya-Bewegungen zu verstehen. Was meinen Sie damit? S.B.: Mit kosmetischem Multikulturalismus meine ich die Politik des Staates, etwas Schminke aufzutragen, ohne strukturell etwas zu verändern. Dahinter steckt die historische Tatsache, dass die ganze guatemaltekische Gesellschaft auf Strukturen der Ungleichheit aufgebaut ist. Diese Ungleichheit betrifft nicht nur die Indígenas, sie betrifft alle und äussert sich in der Gewalt, im Militarismus, im Autoritarismus, im Machismus. Zu meinen, das Problem sei gelöst, wenn wir nur die indigenen Völker anerkennen, ihre Sprache offizialisieren, den zweisprachigen Schulunterricht fördern und die Maya-Kosmovision anerkennen, ist ein grosser Irrtum. Das sind rein oberflächliche Veränderungen. Interessant ist, dass dieser kosmetische Multikulturalismus - nicht nur in Guatemala - eine Vielzahl von Instrumenten hervorbringt, z. B. das Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die sehr nützlich sein könnten. Nun geht es darum, diese Abkommen einzuhalten: sowohl die ILO wie auch die Vereinten Nationen und der Zentralamerikanische Gerichtshof haben die guatemaltekische Regierung dazu aufgefordert: "Ihr habt unterschrieben, jetzt setzt um". Dies führt zu einer neuen Form indigener Kämpfe, die sich darauf konzentriert, diese Instrumente zu nutzen. Ein grosses Problem ist allerdings, dass man nicht nur gegen den guatemaltekischen Staat anzukämpfen hat, sondern auch gegen internationale Unternehmen, die sich einen Deut um die nationale Gesetzgebung scheren. Auf der anderen Seite globalisiert sich durch die Beteiligung internationaler Unternehmen auch die Solidarität, wobei man realistisch bleiben muss, was die Einflussmöglichkeiten betrifft. Aber allein die Tatsache, dass der Interamerikanische Gerichtshof den guatemaltekischen Staat aufgefordert hat, das Recht auf Konsultation der indigenen Bevölkerung zu respektieren, ist jedoch ein politischer Erfolg und in dieser Beziehung gibt es noch mehr Spielräume, die genutzt werden könnten. In den verschiedenen historischen Phasen haben die indigenen Völker wichtige Kämpfe ausgefochten und Erfolge verbuchen können. Heute stehen wir am Beginn einer neuen Phase, in der es darum geht, das Sklaventum und die Diskriminierung zu überwinden. Ob dies gelingt, hängt nicht zuletzt von den indigenen Völkern selber und ihrer Kapazität der Organisation und der politischen Druckausübung ab. Und es bedingt, dass sie Allianzen eingehen, deren Ziel es sein muss, nur nur das Eigene, sondern das ganze Paket und die Umgebung zu verändern. |
Original-PDF 467 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 --- Das ist zur Zeit das letzte Fijáte am Netz.