Die technische Seite des Archivs
Fijáte 421 vom 22. Oktober 2008, Artikel 1, Seite 1
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Die technische Seite des Archivs
Im Sommer 2005 wurde in der Zone 6 der guatemaltekischen Hauptstadt das Archiv der ehemaligen Nationalpolizei gefunden, welches Millionen von Dokumenten enthält, die einerseits die guatemaltekische Polizeigeschichte der letzten hundert Jahre dokumentieren, anderseits aber auch aufschlussreiches Material über die Repressionspolitik der 80er Jahre enthält (siehe u.a. ¡Fijáte! Nr. 340 und 359). Seit rund drei Jahren werden die im Archiv gefundenen Daten sorgfältig gereinigt, sortiert, klassifiziert und konserviert. Dies geschieht der aktuellen Technik gemäss digital. Eine regelmässig aktualisierte Kopie der aufgearbeiteten Daten wird im Schweizerischen Bundesarchiv gelagert. Dieser Tage war der guatemaltekische IT-Verantwortliche, Jorge Villagrán, zu einem Arbeitstreffen mit seinen Archiv-KollegInnen in der Schweiz, wo die Details der Übergabe, Handhabung und Aufbewahrung der Daten geklärt wurden. Die ¡Fijáte!-Redaktion nutzte die Gelegenheit, um in einem Gespräch mit Jorge Villagrán mehr über die technische Seite der Archivarbeit zu erfahren. Frage: Was umfasst genau Ihre Arbeit im Archiv der Nationalpolizei? Jorge Villagrán: Mein "Beruf" nennt sich Koordinator für Archivierungssysteme. Vorher hiess er Koordinator für IT- und Informationsprozesse, aber da ich nicht nur ein Techniker bin, sondern mich auch damit beschäftige, wie die Dokumente aufgearbeitet und systematisiert werden müssen, damit sie später für die Wissenschaft, die Justiz und die Allgemeinheit verwendbar sind, hat man meine Berufsbezeichnung etwas ent-technologisiert. Gleichwohl gehört der technische Teil immer noch zu meinem Job, ich bin z.B. für den Aufbau des Netzwerks und die Betreuung der Soft- und Hardware zuständig. Ausserdem leite ich das Team, welches die Dokumente einscannt. Wir arbeiten täglich an acht Scannern in zwei Schichten, von morgens sieben bis abends um halb neun Uhr. Frage: Wie viele Seiten können an einem Tag eingescannt werden? J.V.: Das kommt auf die Qualität des Materials an, das wir scannen. Wenn es sehr gut erhaltene Dokumente sind, die sich automatisch scannen lassen, kommen wir an einem Tag auf bis zu 50'000 Seiten. Wenn die Dokumente aber auf dünnem Papier sind, halb verbrannt oder verschimmelt, dann müssen wir jede Seite einzeln scannen, also einlegen wie bei einem Fotokopierer, und da schaffen wir dann vielleicht pro Tag nur 2'000 Seiten. Ein weiterer Bereich meiner Arbeit ist die Führung und Verwaltung der Datenbank. Wir arbeiten mit einer speziellen, für unsere Bedürfnisse entwickelten Datenbank. Und zum Schluss bin ich noch für die technische Seite der Analyse und der Statistik zuständig. Wir machen mit einem ausgeklügelten Stichprobensystem eine quantitative Auswertung. Wir wollen herausfinden, wer die Täter, wer die Opfer sind, welcher Art die ausgestellten Dokumente waren und welcher Be- bzw. Misshandlung die AntragsstellerInnen ausgesetzt waren. Es geht aber auch darum, den Zustand der Dokumente festzuhalten. Frage: Wie muss man sich dieses Stichprobensystem vorstellen? Werden alle Dokumente für diese Statistik verwendet, also auch ein Antragsformular für einen Fahrzeugausweis, oder nur solche, die offensichtlich etwas mit der Repression zu tun haben? J.V.: Wir müssen zwischen der qualitativen und quantitativen Erfassung unterscheiden. Zur ersteren: Wir haben ein Team, das sehr selektiv Dokumente auswertet. Diese Leute reinigen, klassifizieren und ordnen die Dokumente nach bestimmten Kriterien und sortieren jene aus, die für uns "wertvollen" Inhalt haben im Hinblick auf Informationen über die Repression und mögliche Prozesse, die früher oder später geführt werden. Etwa 50 Personen sind nur mit diesem Putz- und Sortierungsverfahren beschäftigt. Der quantitative, also der statistische Prozess, verläuft nach dem Zufallsprinzip, das aber ganz klare Regeln kennt. Das geht folgendermassen: Wir betreten einen Raum, vermessen seine Höhe, Tiefe und Breite, multiplizieren dieses Ergebnis mit einem Zufallsfaktor X und erhalten so die Koordinaten eines ganz bestimmten Punktes im Raum. An diesem Punkt gibt es (oder auch nicht - [lacht]) einen Korpus, ein Gestell oder eine Schachtel mit Dokumenten. Mit dem Korpus, dem Gestell oder der Schachtel machen wir dasselbe, wir vermessen, multiplizieren und bestimmen so ein ganz bestimmtes Dokument. Dieses Dokument plus die neun danebenliegenden werten wir in einem ersten Schritt nach archiv-spezifischen Kriterien (Zustand, Original oder Kopie, ganz oder kaputt, Brief, Formular, Telegramm etc.) aus. Danach folgt die AkteurInnen-Analyse: Wer hat das Dokument geschrieben, an wen ist es gerichtet, woher stammt die darin enthaltene Information. Dann erst wird der konkrete Inhalt angeschaut, auch hier konzentrieren wir uns auf für uns "wertvolle" Informationen. So können wir eine genaue Statistik führen, Zusammenhänge und Regelmässigkeiten feststellen und Muster erkennen. Wir stehen kurz davor, einen ersten statistischen Bericht zu veröffentlichen, der mit etwas Glück Ende des Jahres publiziert wird. Frage: Gibt es denn konkrete bzw. neue Erkenntnisse oder Überraschungen? J.V.: Es kommt darauf an, was man unter Überraschungen versteht. Das spektakuläre Dokument mit der Unterschrift eines Polizeidirektors, der befiehlt, eine bestimmte Person zu entführen, gibt es nicht. Schliesslich handelt es sich hier um ein administratives Archiv. Aber es gibt auch so genügend wichtige und aufschlussreiche Informationen in dem Archiv. Zum Beispiel haben wir einen Befehl gefunden, dass ein Polizeiauto am Tag X an einen bestimmten Ort fahren soll, dass es so und so bemannt sein soll, und in einem anderen Dokument oder aus einer anderen Quelle wissen wir, dass an besagtem Tag und an besagtem Ort eine Person verschwunden und nie mehr wieder aufgetaucht ist. Solche Zusammenhänge haben wir aus den Dokumenten zu suchen und zu lesen gelernt. Es ist eine einmalige und einzigartige Arbeit, eine Arbeit sui generis, denn gemäss internationalen Normen sollte man ein Archiv zuerst sichern, dann beschreiben und erst zum Schluss untersuchen. In unserem Fall würde es aber 15 Jahre dauern, bis wir mit den Untersuchungen beginnen könnten und deshalb laufen die beiden Prozesse - Aufarbeitung des Archivs und erste Investigationen - parallel. Frage: Ich habe gehört, dass einer der ersten Fälle, die untersucht werden sollen, derjenige von Fernando García, dem Ehemann der Kongressabgeordneten Nineth Montenegro ist? J.V.: In Guatemala ist die Staatsanwaltschaft die einzige Institution, die berechtigt ist, Untersuchungen durchzuführen. Aber es gibt in der Verfassung eine Ausnahme, die sich auf die Untersuchung von Fällen von aussergerichtlichem Verschwindenlassen bezieht. In solchen Fällen ist der Menschenrechtsprokurator rechtlich befugt, eine Untersuchung einzuleiten und durchzuführen. Im Moment liegen rund acht solche speziellen Fälle vor, die der Prokurator untersuchen lässt. Da ich aber für die technischen und nicht für die strafrechtlichen Verfahren zuständig bin, weiss ich nicht, wo diese Untersuchungen stehen. Nach oben |
Frage: Was genau machen Sie hier in der Schweiz? J.V.: Ich kümmere mich um die Sicherheit des Archivs. Es gibt einen zentralen Server, auf dem alle eingescannten Dokumente gespeichert werden. In Guatemala selber wird an einem der Öffentlichkeit unbekannten Ort auf einem Server eine Sicherheitskopie gespeichert, und wir haben ein zusätzliches Back-up. Aber in Guatemala weiss man nie, und man kann nie wirklich sicher sein, dass nichts passiert. Deshalb wurde mit den Staaten, die die Aufarbeitung des Archivs unterstützen - übrigens alles europäische Länder - nach einer Möglichkeit gesucht, auch eine Kopie ausserhalb Guatemalas zu lagern. Man entschied, dass diese Kopie im Schweizerischen Bundesarchiv gelagert werde sollte, und es wurde ein entsprechender Vertrag unterzeichnet. Meine Arbeit hier in der Schweiz besteht darin, mit den KollegInnen vom Bundesarchiv die praktische und technische Umsetzung dieses Vertrags zu besprechen. Die Schweiz hat das Projekt seit Beginn unterstützt, viel mehr auch auf politischer als auf finanzieller Ebene, was aber genauso wichtig ist. Frage: Werden diese Daten in der Schweiz öffentlich zugänglich sein? J.V.: Nein. Die Daten werden nur aufbewahrt und dem jeweils neuesten technischen Stand digitaler Archivierung angepasst. Es geht in erster Linie darum, eine Kopie an einem sicheren Ort aufzubewahren. Frage: Und wenn in zehn Jahren in Guatemala ein Prozess durchgeführt wird und aus irgendwelchen Gründen nicht auf das guatemaltekische Archiv zurückgegriffen werden könnte, kann man in Bern eine Kopie der entsprechenden Dokumente anfordern. J.V.: Genau. Das Problem ist aber, dass in Guatemala bei Gerichtsprozessen nur Originaldokumente als Beweismittel akzeptiert werden und elektronische Dokumente keine Gültigkeit haben. Für den Fall, dass diese Praxis einmal geändert werden sollte, müssen wir jetzt mit den KollegInnen in Bern schauen, wie garantiert werden kann, dass die digitalen Dokumente nicht verändert werden können, dass wir also sicher sind, dass sie 1:1 den papiernen Originaldokumenten entsprechen. Frage: Es gibt ja auch die Idee, im Archiv ein Museum zu machen. Wie weit ist dieses Projekt schon vorangeschritten? J.V.: Wir sind daran, uns von Fachpersonen beraten zu lassen, denn auch in diesem Bereich haben wir in Guatemala keine Erfahrung. Viel mehr als ein Museum, denke ich, sollte es eine Gedenkstätte werden. Aktuell gibt es so etwas wie ein kleines Museum im Archiv, wo man ein paar Fotos über den ursprünglichen Zustand des Archivs sehen und ein Zimmer besuchen kann, das aussieht wie damals eine Polizeiwache. Aber darum kann es ja nicht gehen. Für mich sind drei Dinge wichtig: Erstens, dass es konkrete Resultate gibt aus der Aufarbeitung des Archivs, zweitens dass das Archiv öffentlich zugänglich gemacht wird, denn dieses Archiv gehört nicht der Regierung, nicht der Polizei, nicht dem Menschenrechtsprokurator, sondern dem guatemaltekischen Volk, und drittens eben die Errichtung einer Gedenkstätte. Frage: Öffentlich zugänglich heisst, dass irgendwer eine bestimmte Information, z.B. über einen Verwandten, der verschwunden ist, anfordern kann? J.V.: In dieser Frage gibt es in Guatemala keine juristisch verbindliche Grundlage. Im Moment gibt es kein Recht auf die Einsicht von Originaldokumenten. Vor ein paar Tagen wurde im Kongress das neue Gesetz über den öffentlichen Zugang zu Informationen verabschiedet. Ich persönlich befürchte aber, dass genau das Thema des öffentlichen Zugangs zu historischen Archiven zu wenig explizit berücksichtigt wurde in dem Gesetz oder die Frage, wann ein Dokument als "geheim" eingestuft wird oder wie ein "Staatsgeheimnis" definiert wird. Leider wurde, nicht zuletzt auf Druck der Medien, der Schwerpunkt des Gesetzes darauf gelegt, Informationen über die Bankkonten der Kongressabgeordneten oder eines Funktionärs zu bekommen. Ich will damit nicht sagen, dass in unseren korrupten Zeiten solche Informationen nicht wichtig wären, aber darüber wurde leider anderes vergessen. Wie hilfreich also das Gesetz für das Archiv ist, muss noch analysiert werden, und vielleicht wäre es besser, kein Gesetz zu haben als ein schlechtes. Frage: Was geschah eigentlich mit der PolizistIn, die das Archiv "entdeckte" bzw. den Menschenrechtsprokurator darauf hinwies? J.V.: Ana Corado ist nach wie vor die verantwortliche Offizierin für das Archiv. Sie machte eine ziemliche Entwicklung durch, es gab auch schwierige Momente mit ihr. Man muss sich vorstellen, dieses Archiv war jahrelang ihr "Reich", sie und ihre Mitarbeiterinnen hatten eine Art geordnete Unordnung darin, und immer, wenn von der Staatsanwaltschaft ein Dokument angefordert wurde, haben sie es zielsicher und schnell gefunden. Und dann kamen wir und haben uns in ihre "Ordnung" eingemischt. Für uns ist natürlich ihre Anwesenheit auch sehr wichtig, denn als Vertreterin der Polizei ist sie auch eine Art Zeugin dafür, dass wir unsere Arbeit "richtig" machen bzw. keine falschen Dokumente einfügen oder solche entwenden. Unterdessen ist unsere Zusammenarbeit aber sehr gut und sie fragt uns immer häufiger, wenn sie ein Dokument sucht, weil sie gemerkt und akzeptiert hat, dass unser Ordnungssystem eigentlich ganz brauchbar ist. |
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