¡Híjole...! Die monatliche Kolumne von Fernando Suazo: Gestern träumte ich von Nero
Fijáte 421 vom 22. Oktober 2008, Artikel 5, Seite 6
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¡Híjole...! Die monatliche Kolumne von Fernando Suazo: Gestern träumte ich von Nero
Durch die Fenster eines hohen Gebäudes der Wall Street drang das Getöse ihres Festes zu uns in die dunkle Strasse hinunter. Wir wussten nicht genau, ob dort oben eine Orgie oder eine Tragödie stattfand. Sie waren in teure Jacken gehüllt, die so schwarz wie Öl waren, ihre Hemden waren rot wie das Blut; es hätte das Blut aus dem Irak, aus Afghanistan, dem Mittleren oder Nahen Osten, aus Korea, Vietnam, dem Balkan, Angola, Algerien, dem Sudan, Ruanda, Zaire, aus Chile, Argentinien, Grenada, Panama, El Salvador, aus Nicaragua oder Guatemala sein können. Sie schrien einander an, gestikulierten, rannten durcheinander, wälzten sich auf dem Boden herum; doch sie sprachen nicht in Worten, sondern stiessen nur komische Laute aus, die nichts bedeuteten - am wenigsten die Wahrheit. Sie glichen degenerierten Wesen. Alle hielten sie stolz stapelweise Pergamentpapiere in ihren Händen, die Banknoten oder Schecks glichen, aber es war die Haut von Millionen hungriger Menschen des gesamten Planeten. Einige sangen, die Arme über ihren Köpfen schwenkend: In Free Market We Trust. Ich sah Nero, der um Ruhe bat, um sein Lied über den Brand der Zwillingstürme zu singen, die auf sein Geheiss hin niedergerissen wurden mit dem Ziel, die Muselmänner dafür verantwortlich zu machen, gegen sie einen Krieg zu beginnen und ihnen das Öl zu rauben. Niemand hörte Nero zu, der sabbernd gleichzeitig zu lachen und zu weinen begann. Er sah blöd aus, wie eine Witzfigur. Dann geschah etwas Ungewöhnliches: Eine immense Welle von Banknoten oder Schecks, die keine Schecks waren, sondern jene pergamentähnlichen Stücke Haut von hungrigen Menschen, überflutete alles, den Himmel und die Strassen der grossen Stadt. Die Flut wuchs unaufhaltsam und bedrohend, in donnernder Stille. Und überflutete jenes hohe Gebäude der Wall Street. Die degenerierten Wesen blickten auf ihre Hände und versuchten, die Noten und Schecks, die keine Schecks waren, sondern Stücke von Haut hungriger Menschen, von sich zu schleudern, doch es ging nicht. Und so blieben sie zurück, begraben unter dem Tod, den sie selber fabriziert hatten. Plötzlich herrschte abgrundtiefe Stille hinter jenen Fenstern. Eine Stille wie nach einer Urteilsverkündung. Ich weiss schon, dass die Träume oft das Gegenteil der Realität sind. Aber sie sind frei, vielleicht das Freieste, was wir Menschen produzieren. Deshalb habe ich mich beeilt, diesen Traum niederschreibend festzuhalten, wie eine kurzlebige freie Perle. Nach der Stille, welche der Tsunami aus Banknoten und Schecks, die keine Schecks sind, sondern Stücke von Haut hungriger Menschen, habe ich Erleichterung verspürt beim Lesen eines Briefes, den Pérez Esquivel an den demokratischen Kandidaten Barack Obama geschrieben hatte: Die US-Militärbasen in Lateinamerika tragen nicht zu Frieden und Sicherheit auf diesem Kontinent bei, ebenso wenig die Reaktivierung der IV. Flotte in den lateinamerikanischen Gewässern. Eine weitere ernste Situation ist die Gewalt des kolumbianischen Staatsterrors. Seine Lösung muss politisch und nicht militärisch sein. Ein altes Problem, immer noch aktuell und ungelöst, ist das fast 50-jährige, unmoralische und ungerechte Embargo gegen Kuba. Es ist Ausdruck einer Aggressionspolitik der USA und verletzt die Resolutionen und Empfehlungen der Vereinten Nationen. Erleichterung verspüre ich auch wegen der massiven Unterstützung des bolivianischen Volkes für ihren Indio-Präsidenten, Evo Morales, der sich mit Eleganz seiner eigenen Herausforderung, einem demokratischen Referendum über seine Absetzung, stellte. Wer ausser ihm würde sich zu so etwas trauen? Erleichterung auch über die ebenfalls massive Annahme der neuen Verfassung durch die ecuadorianische Bevölkerung, die unter anderem ausschliesst, dass auf ecuadorianischem Boden ausländischen Militärbasen stationiert werden dürfen, und sich für den Schutz und die Rechte der Umwelt und ihrer Zyklen stark macht. Erleichterung, weil immer mehr lateinamerikanische Völker und Kollektive dem Imperialismus der Gringos widerstehen. Ein bewegter Applaus für das kubanische Volk, dem eine Pionierrolle zukommt. Nach oben |
Aber hier ist unser Guatemala, beschlagnahmt bereits viele Jahre bevor es als Staat geboren wurde und heute konvertiert in ein Paradies für Megaprojekte transnationaler Unternehmen, die sich mit dem lokalen Grosskapital verbündet haben. Don Pedro de Alvarado reitet erneut durch unser Land und wirbt für eine eigentümliche Version von Entwicklung: Freier Markt, ausländische Investition und keinerlei staatliche Regulierung. Oder mit anderen Worten: Absolute Privatisierung des Gewinns einiger weniger. Es heisst, indem diese Geschäfte eingeleitet würden, bekämen unsere Regierungen eine Chance. Ebenso für das Geschäft mit der Sicherheit. Präsident Colom schlägt eine Erhöhung des Budgets vor, um Sicherheit zu gewährleisten, denn die Sicherheit liegt sterbend auf der Intensivstation (Prensa Libre, 3.10.2008). Und wenn wir dies lesen, können wir uns das schlitzohrige Lächeln der Sicherheitsmagnaten vorstellen und ihren Wunsch, dass dies noch viele Jahre so bleibt. Tatsächlich kann man feststellen, dass das Unsicherheitsgefühl der BürgerInnen parallel zu den Einnahmen der privaten Sicherheitsunternehmen und der Erhöhung des Verteidigungsbudgets steigt Was hingegen täglich nachlässt, ist das staatliche Sicherheitssystem. Und es scheint fast, dass daran die Besitzer unseres Landes ihre geheime Freude haben. Mit welcher Lust zeigen die Medien auf, wie die Polizei ist: beschämend, unpräsentabel. Aber erstaunlich: Über die Miliz und die mehr als 200'000 Angestellten privater Sicherheitsfirmen gibt es offenbar nichts zu sagen. Und auch wenn die Sicherheit nichts nützt, wenn die Justiz nicht funktioniert, scheint sich unser Präsident keine Sorgen zu machen um das nicht funktionierende Justizsystem. Im Gegenteil, er schlägt eine Erhöhung von 3 Milliarden Quetzales für das Sicherheitsbudget vor und dafür eine Kürzung um ein Drittel im Gesundheitswesen. Um es anders zu sagen: Um das Geschäft mit der Sicherheit zu garantieren, werden nächstes Jahr jeden Tag Tausend Notfälle in unseren Spitälern nicht behandelt und zweitausend externe Behandlungen nicht durchgeführt, wird eine von drei Personen, die es nötig hätten, nicht hospitalisiert und werden mehr als eine Million Personen keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung haben (Zahlen vom FNL, 25. September 2008). Ehrlich gesagt: Wer befindet sich da auf der Intensivstation? Es wird weitergehen wie bisher: die Kranken stellen ihre Diagnose selber und verschreiben sich ihre Medizin in den Apotheken, solange es ihr Portemonnaie erlaubt. Wenn aber unsere Banker vom Tsunami der Wall Street überrollt werden, werden sie uns unbedeutende SteuerzahlerInnen darum bitten, dass wir mit öffentlichen Geldern ihre goldenen Fallschirme finanzieren, damit sie sich beim Sturz nicht verletzen. Sozialistische Republik ... die Verluste zu sozialisieren. Meine Güte! Ich befürchte, wieder von Nero zu träumen, wie er da oben Harfe spielt. |
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