Überleben und genesen als Form des Widerstandes
Fijáte 401 vom 9. Jan. 2008, Artikel 2, Seite 1
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Überleben und genesen als Form des Widerstandes
Auszüge aus dem Referat von Yolanda AguilarSoziale Gerechtigkeit nach dem Krieg würde für uns bedeuten, dass die Kriegsopfer und die alten Menschen der Kriegsgeneration gut versorgt sind und ein würdiges Leben führen können. (Vietnam: Ajuska Weil, Vietnam-Solidarität) Guatemala hat 36 Jahre Krieg erlebt. Tausende Frauen und Männer litten unter den Konsequenzen des bewaffneten Konflikts speziell während den 70er und 80er Jahren. Ganze Dörfer wurden zerstört und von der Landkarte gestrichen, Tausende von Menschen wurden gefoltert, hingerichtet und sind verschwunden worden. Frauen wurden vergewaltigt und brutal erniedrigt. Der Terror besetzte die wichtigsten Bereiche im Leben der GuatemaltekInnen. Es wurde eine Kultur etabliert, in der Gewalt die einzige Form der Konfliktlösung bildete und das tägliche Leben beherrschte. Ohne historisches Gedächtnis bleibt der Übergang vom Krieg zum Frieden eine wackelige Brücke zwischen Dialogen der Vergangenheit und der Gegenwart, zwischen einer Kultur der Gewalt und der Möglichkeit, die Straflosigkeit zu überwinden, zwischen dem persönlichen und dem sozialen Schmerz und zwischen der individuellen und kollektiven Heilung. Oft fragen wir uns, ob wir uns bewusst sind, in welche Richtung die Transition verläuft, und ob wir uns wirklich seriös und tiefgründig mit der Komplexität auseinandersetzen, die es bedeutet, in einer Nachkriegsgesellschaft zu leben. Die Friedensabkommen gaben der ersten Nachkriegsetappe einen gewissen Sinn. Aber die Transition war nicht das, was wir erhofften. Der bewaffnete Konflikt wurde zwar beendet, aber die strukturellen Ursachen, die dazu führten, bleiben bestehen - und ergänzen den persönlichen und kollektiven Schmerz langer Jahre und (bei vielen) die Überzeugung und die Verzweiflung, dass sie den Rest ihres Lebens mit diesem Schmerz leben müssen. Wir haben in Guatemala verschiedene Phasen des Post-Konflikts durchlaufen: Diffuse und dunkle, aber auch solche, die uns Momente der Klarheit und Hoffnung erlaubten. Ich glaube, dass aus den tiefsten Schmerzen die stärksten Energien und die besten Bedinungen für eine Heilung erwachsen. Dies ist nicht einfach, im Gegenteil: es geht sehr tief und ist schwierig anzugehen - aber es ist möglich. Ein wichtiges Element in diesem Prozess ist das "darüber sprechen" und das "gehört werden". Der erste Schritt in der Arbeit mit im Krieg vergewaltigten Frauen ist es, ihnen Raum zu geben, sich kennenzulernen, sich zuzuhören und sich in den Erzählungen der andern wiederzuerkennen. Die erlebte Vergewaltigung ist für sie das (schmerzliche) Geheimnis ihres Lebens. Das erste Mal vor anderen Frauen zu sprechen, die dasselbe erlebt haben, ist für sie ein grosses Ereignis. Das gemeinsame Weinen und Lachen, eine Art von Komplizinnenschaft, ist der erste vage Pfad, auf dem sie vorwärts kommen. Gerade in Gesellschaften wie der guatemaltekischen und speziell bei den Mayas sind Themen wie sexuelle Gewalt ein Tabu. Ich selber habe meinen Schmerz überwunden, indem ich geredet und geredet habe, indem ich wiederholt und wiederholt habe. Ich habe dadurch gelernt zu verstehen, wozu ich fähig bin, und mich von meinem eigenen Schmerz zu distanzieren. Seit fünf Jahren arbeiten wir mit mehr als hundert Maya-Frauen, die fünf linguistischen Gruppen angehören. Einmal jährlich treffen sich alle, um ihre Fortschritte zu evaluieren und die nächsten Schritte zu planen. Wir haben kürzlich eine juristische Untersuchung mit dem Titel "Das Schweigen brechen" veröffentlicht. Wir dokumentieren darin Möglichkeiten und Strategien, wie auf nationaler oder interamerikanischer Ebene die Penalisierung von während dem Krieg ausgeübter sexueller Gewalt erreicht werden kann. Die Verurteilung oder Bestrafung des Täters kann wichtig sein, ist aber allein noch keine Bedingung für eine Heilung. Deshalb sind wir aktuell daran, eine Publikation über das historische Gedächtnis dieser Frauen zu erarbeiten. Die Art, wie jede einzelne Frau, die sexuelle Gewalt erlebt hat, diese verarbeitet, ist mit ihrer persönlichen Geschichte verbunden und zeigt sich darin, wie die Frau diese Geschichte interpretiert und welchen Ausdruck sie ihrem Schmerz gibt. Weiterleben ist eine Form des Widerstandes! Nach oben |
Kommentar der Redaktion: 1984 war Yolanda Aguilar als 20jährige in Zürich zu Besuch zu Diskussionen mit Linken für eine Unterstützung der URNG.. Dies war eine der ersten Veranstaltungen des frisch gegründeten Guatemala-Komitees Zürich. 23 Jahre später steht die Referentin vor einer komplett veränderten Situation: Gab es damals viel von Kampf und Schmerz zu berichten, legt Yolande Aguilar heute das Gewicht auf viel innerem Frieden. Das ist sicher wichtig und gut und eine notwendige Voraussetzung für eine Aufarbeitung der Vergangenheit. Doch die Zeit ist nicht still gestanden in Guatemala, und die Gegenwart zeigt sich mit bis zu 19 Morden pro Tag ähnlich gewalttätig wie während des Krieges. Weil aber diese Gewalt in sogenannten Friedenszeiten stattfindet, wird ihr weder internationale Aufmerksamkeit geschenkt noch werden spezielle finanzielle Mittel zur Rehabilitation der Opfer freigestellt. Diese Gewalt wird aber die Nachkriegsgesellschaft individuell und kollektiv prägen, so dass wir unter Umständen in 23 Jahren wieder am selben Punkt stehen - mit anderen Opfern. Yolanda Aguilar ist feministische Anthopologin. Sie arbeitete am REMHI-Bericht "Guatemala - Nunca más" mit und verfasste das Kapitel über sexuelle Gewalt gegen Frauen während des Krieges. 2003 gründete sie zusammen mit anderen Frauen das Konsortium Actoras de Cambio, dessen Ziel es ist, das Schweigen zu brechen und den Frauen dazu zu verhelfen, Akteurinnen ihrer eigenen Geschichte zu werden. |
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