Straflosigkeit und Gerechtigkeit
Fijáte 401 vom 9. Jan. 2008, Artikel 3, Seite 2
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Straflosigkeit und Gerechtigkeit
Zusammenfassung des Referates von Miguel MoerthSoziale Gerechtigkeit nach dem Krieg würde für uns bedeuten, dass die Gesetze angewandt und so die Rechte aller geschützt würden, unabhängig von der Person. Dass das freie Denken, die Meinungs- und Bewegungsfreiheit, unser Anspruch, angehört zu werden und unser Recht auf Arbeit respektiert würden. Dass die Staatsgüter der Gesellschaft zu Gute kämen, die Arbeitslosigkeit sinken würde und damit auch die Kriminalität. (Guatemala: Santiago Lucas Ramos, Präsident Asociación Guatemalteca de Personas con Discapacidad, Kriegsversehrtenorganisation) "Tiefe institutionelle Staatskrise"Ausgehend von dieser These präsentiert Miguel Moerth ein mehr oder weniger desillusionierendes Bild von Guatemala rund zehn Jahre nach Einleitung des Friedensprozesses: Der prozentuale Anteil von Menschen, die in Armut leben, ist zwischen 1996 und 2005 von 50% auf 57% gestiegen, jener, die in extremer Armut leben, von 16% auf 21,5%. Und 52% der Kinder unter 6 Jahren weisen Mangelerscheinungen auf - eine Bildungsreform macht unter diesen Umständen schlicht keinen Sinn, da schlecht ernährte Kinder auch schlecht lernfähig sind. Auch der Staat ist weitgehend verarmt: bloss 2,8% des Budgets gehen in die Erziehung, sogar nur 1,5% der Staatsausgaben in die Gesundheit. Dabei weist Guatemala ein Wirtschaftswachstum von 7,8% auf - bloss kommt dies nirgends an und ist in der breiten Bevölkerung nicht spürbar. Hinzu kommt eine hohe und stetig zunehmende Gewaltkriminalität, die einem kollabierenden Sicherheitssystem gegenübersteht: 6'000 Morde pro Jahr kontrastieren mit eine Aufklärungsquote von 1-2%. In den letzten Jahren verschäften sich zudem die sozialen Konflikte dramatisch (z.B. aufgrund Tariferhöhungen, in den Gold- und Silberminen, wegen Missachtung der Mitsprache der Bevölkerung bei Referenden etc.). Guatemalas Exekutive befindet sich im freien Fall, während die Legislative (das Parlament) gar nicht mehr tiefer fallen kann. Es kursiert ein Wortspiel über die ParlamentarierInnen: sind es abgeordnete Kriminelle oder kriminelle Abgeordnete? Zusammengefasst: 1. es herrscht eine strukturelle Straflosigkeit und 2. ein dramatischer Zerfall von Werten und Autorität. "Impunidad" als Versagen des SystemsStraflosigkeit beschreibt schon lange nicht mehr nur ein politisches Phänomen. Sie ist Ausdruck des Versagens des gesamten Systems und erklärt sich aus Vergangenheit und Gegenwart. Der unterwanderte Staat befindet sich praktisch in Geiselhaft. Die Organisierte Kriminalität und andere Verbrecher streiten zwar oft untereinander, aber wenn's darum geht, den Staat und insbesondere den Justizapparat zu schwächen, arbeiten sie alle zusammen. Mittels Korruption, Erpressung und Bedrohung wird das ganze Strafjustizsystem angegriffen. StaatsanwältInnen werden geschmiert, die Polizei wird durch kriminelle Milieus infiltriert, und es ist bekannt, dass in Guatemala die Polizei mehr mordet als dass sie Morde aufklärt (wobei die Morde von Polizisten an Maras von der Bevölkerung gutge-heissen werden). Zentraler Angriffspunkt des Verbrechens ist dabei die Strafermittlung, deren geringe Effizienz auch im zentralamerikanischen Vergleich in puncto Finanzierung oder Stellenbesetzung beispiellos katastrophal ist: bei 80'000 Strafanzeigen pro Jahr kommt es zu 1'100 Urteilen. Zusammenfassend präsentiert es sich so: je mehr Kriminalität, desto weniger PolizistInnen, je mehr Morde, des-to weniger StaatsanwältInnen. Eine Lösung läge darin, statt dem ideologischen Konzept der repressiven Sicherheit zu huldigen, auf eine demokratische Sicherheit zu setzen. KorruptionZum Kontext der Korruption gehört, dass der Staat seine Legitimität immer mehr verliert, weil er elementare Bedürfnisse nicht mehr befriedigen und zentrale Funktionen nicht mehr wahrnehmen kann. Das Gewaltmonopol zum Beispiel liegt längst nicht mehr beim Staat: den 20'000 PolizistInnen stehen mittlerweile 100'000 private Sicherheitskräfte gegenüber. Je schwächer ein Staat, desto erpressbarer ist er. Korruption bedeutet die Kontrolle zum Zugang zur Macht und zerstört sowohl den Staat wie auch die Gesellschaft. Die institutionelle Kultur von staatlichen Stellen löst sich vom Rechtsstaat, und die staatlichen Institutionen werden zu "feudalen Höfen", an welchen die Logik des jeweiligen Chefs entscheidet. Um dem "Prinzip Gemeinwohl" gegenüber den individuellen Interessen zum Durchbruch zu verhelfen, bräuchte es auf allen Ebenen die Bereitschaft zu Veränderungen: 1. Mit den alten Alliierten brechen! 2. Die Schaffung eines Netzes von "Unberührbaren" (KorruptionsbekämpferInnen dürfen nicht angegriffen werden)! 3. Die Bereitstellung von öffentlichen Räumen (Diskussionsforen, Transparenz etc.)! "Saldo" 10 Jahre nach dem KriegDer Friedensprozess dauert nun bereits 20 Jahre. 1996 wurde das Friedensabkommen in Esquipulas unterzeichnet. Was ist das Ergebnis heute? * Der Krieg ist beendet, aber nicht die Gewalt. * Das Militär wurde teilweise demobilisiert, aber die Polizei militarisiert. * Die Wahrheit ist benannt, aber immer noch herrscht Straflosigkeit. * Die kriegsbedingten inhumanen Situationen sind zu Ende, aber Armut besteht immer noch. * Die Kultur des Schweigens ist teilweise durchbrochen, aber die Angst bleibt. * Der Völkermord ist Vergangenheit, aber der Rassismus ist geblieben. Guatemala befindet sich im Prozess einer gescheiterten Staatsbildung. Ein "failed state" zeichnet sich durch drei Umstände aus: der Staat hat keine Legitimität mehr, das Gewaltmonopol liegt nicht mehr beim Staat, er kann keine Sicherheitsgarantie mehr gewähren. Alle drei Punkte treffen auf Guatemala zu. Es gibt zwar Perspektiven, und der Prozess ist noch umkehrbar. Aber entscheidend ist der politische Wille - z.B. die Aufklärungsquote der Verbrechen zu steigern, die Korruption wirksam zu bekämpfen, die Partizipation der BürgerInnen zu fördern. In dieser Hinsicht hat die Regierung Berger gar nichts getan. Ob die neue Regierung Colom die notwendigen Schritte macht, darf wegen ihrer Verbindung mit der Oligarchie und der Nähe zur Organisierten Kriminalität bezweifelt werden. Nach oben |
Konzepte, um die es zu kämpfen gibtUnabdingbar ist eine Konzeptänderung, die mit politischem Willen durchgesetzt werden könnte, und zwar: 1. Ein Bewusstsein schaffen, dass Staat und Zivilgesellschaft im selben Boot sitzen! 2. Ein Paradigmenwechsel bei Polizei- und Sicherheitsreform hin zu demokratischer Sicherheit! 3. Der Kampf gegen die Korruption muss eine soziale Bewegung werden! 4. Ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit: nunca màs! 5. Stärkung der staatlichen Institutionen als Teil eines öffentlichen Netzes zu Gunsten des Gemeinwohls, durchgängig auf allen Ebenen und in allen Departements! 6. Schaffung von öffentlichen Räumen - im Sinne von verstärkter BürgerInnenbeteiligung, von Zuhören und Verhandeln in den Gemeinden! 7. Rückgewinnung von Vertrauen in staatliches Handeln! Kommentar der Redaktion: Das Referat von Miguel Moerth stammt zweifellos aus der Feder bzw. aus dem Mund eines in Guatemala lebenden, durch die Umstände und Erfahrungen pragmatisch gewordenen, aber trotzdem nicht resignierenden Menschen. Seine Aussage, der Staat und die Zivilgesellschaft würden im selben Boot sitzen und das Problem heute sei nicht (mehr) ein repressiver, sondern ein zerfallender Staat, löste im Publikum heftigen Widerspruch aus. Der "mangelnde politische Wille" der guatemaltekischen Regierung, etwas zu verändern, ist zwar die Quintessenz jeder kritischen politischen Analyse, doch darf dabei nicht vergessen werden, dass Guatemala keine einsame Insel ist und unabhängig von der jeweiligen Regierung nicht aus eigener Kraft aus seiner momentanen Krise herauskommt. Entsprechend scheinen die von Moerth genannten "Konzepte, um die es zu kämpfen gibt" zwar nicht falsch, aber etwas naiv, berücksichtigen sie doch in keiner Weise die wirtschaftlichen und geopolitischen globalen Abhängigkeiten Guatemalas (nicht nur) von den USA. Miguel Moerth ist Rechtsanwalt und arbeitete als Strafverteidiger in Dortmund an der Seite von Tätern. Ab 1992 war er an einem Begleitprojekt für die Rückkehr der guatemaltekischen Flüchtlinge aus Mexico beteiligt - nun auf Seiten der Opfer; von 1995 - 1998 Mitarbeiter am REMHI-Bericht "Guatemala - Nunca Más", danach bei der Menschenrechtsorganisation CALDH als Leiter der Rechtsabteilung und zur Vorbereitung des Völkermord-Prozesses gegen die Regierungen von Lucas García (1978 - 1982) und Ríos Montt (1982 - 1983). Als Mitbegründer und Direktor des CAFCA (Zentrum für forensische Analyse und angewandte Wissenschaft; Exhumierung von Massengräbern) setzte sich Miguel Moerth gegen die Straflosigkeit und für die Stärkung des Justizsystems ein. Nachdem er das schweizerische Programm zur Friedensförderung des EDA auf der Schweizer Botschaft in Guatemala koordiniert hat, wird er ab 1.1.2008 bei der CICIG (Internationale Kommission gegen Straflosigkeit im Rahmen einer UNO-Vereinbarung) arbeiten. medico international schweiz ist unter den rund 50 schweizerischen Gesundheits-NGOs keine neutrale Organisation. Die entwicklungspolitische Organisation wurde am 9. Dezember 1937 als Verein CSS (Central Sanitaire Suisse) gegründet. Es waren die dunklen Zeiten des spanischen Franco-Regimes, als sich medizinische Fachkräfte aus der Schweiz dazu entschlossen, die AntifaschistInnen in ihrem Widerstand zu unterstützen. medico international schweiz, wie CSS nach einer Namensänderung vor fünf Jahren heute heisst, setzt sich seit 70 Jahren für eine gerechte, basisnahe Gesundheitspolitik ein. Zurzeit unterstützt medico Projekte in Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Mexico, Kuba, Palästina/Israel, Vietnam und Eritrea. medico bezieht klar Stellung, wenn es darum geht, Unrecht zu benennen, und unterstützt jene Kräfte vor Ort, die ihre Anliegen selbstbestimmt in die Hand nehmen. |
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