¡Híjole...! Die einmonatliche Kolumne von Fernando Suazo: Es war einmal ein Volk
Fijáte 394 vom 26. Sept. 2007, Artikel 8, Seite 6
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¡Híjole...! Die einmonatliche Kolumne von Fernando Suazo: Es war einmal ein Volk
Es war einmal ein Volk, dem systematisch die Erinnerung entrissen wurde. Seitdem es erobert und unterworfen worden war, zwangen ihm die neuen Besitzenden mit Feuer und Schwert das Vergessen auf: Seine weisesten alten Männer und Frauen, seine Kodizes, seine Tempel, seine Rituale, seine Sprachen und sogar seine alltäglichen Praktiken wurden mit Hass verfolgt und von den Flammen zerstört. Im Gegenzug wurde es gezwungen, die Erinnerung des Invasoren zu erlernen, dessen Helden und Heilige, dessen heilige Bücher, dessen Riten, dessen Gebote, dessen Sprache. Das Volk musste eine neue Umgangsform mit der Erde lernen, sie nicht mehr wie eine ehrwürdige Mutter behandeln, sondern wie eine Hure, deren Wert in Geld bemessen wurde. Die neuen Herren weisser Rasse beuteten das Volk mit einer unerbittlichen Grausamkeit aus, nachdem sie es ihres Landes beraubt hatten, des heiligen Raums, wesentlicher Kern des Lebensunterhaltes und der Gemeinschaft mit allen Lebewesen. Das Volk musste resignieren angesichts der lebenslangen Degradierung zu einem minderwertigen Volk mit "schmutzigem Blut", und wurde bei der geringsten Absicht zum Ungehorsam bedroht durch die zivilisatorische Peitsche. Die Zeit verging und in den Bergen ertönten die ersten Worte von Rebellion: "Lasst uns, die Armen und die Indios, aufstehen, wir haben die Kraft in unseren Händen; die Gebieter sind ohne uns nichts wert!" Daraufhin entzündeten sich bei vielen von ihnen Utopien, sie trugen die Glutreste ihrer Erinnerung zusammen. Sie setzten ihr Leben im Elend aufs Spiel für ein anderes, das sich vom bisherigen unterscheide. Alsdann brachten die Herrscher einen unbeschreiblichen Genozid über das Volk. Ausserdem setzten sie alles daran, die Leute dazu zu nötigen, in ihre vorgegebene Entwürdigung zurückzukehren: Sie wurden gezwungen sich gegenseitig zu verraten, sich zu foltern, sich zu zerstören. Später ernannten sich die selbigen Völkermörder zu Autoritäten und begannen eine freundschaftliche Sprache zu benutzen, nicht mehr wie vorher im Krieg. Sie passten auf, dass die neuen Begriffe wie Gerechtigkeit und Demokratie nichts an der ehernen Straflosigkeit änderten, die die Ausrotter beschützte. Zudem bemühten sie sich darum, die Erinnerung an den Genozid in den Menschen auszulöschen. Die Vergangenheit hatte es nicht gegeben, das war das implizite Motto der RichterInnen, Anwälte und Anwältinnen, PolitikerInnen, LehrerInnen und MeinungsmacherInnen. Darin stimmten die Leute überein. Die Vergangenheit hatte es tatsächlich nicht gegeben. Die Menschen wussten aus langer Erfahrung, dass die Schatten der Vergangenheit sich nur dann zerstreuten, wenn ein Fenster in der Zukunft geöffnet würde. Und nur dann zündeten sich die Erinnerung und die Utopie gegenseitig an. Doch solange man keinen Ort hatte, wohin man so viel Schmerz aus der Erinnerung tragen konnte, war es besser ruhig zu bleiben und so zu tun, als ob diese nicht existiere. Und so erfüllten die Herrschenden des Ortes von Zeit zu Zeit die Riten der Demokratie und riefen alle Leute auf, an staatsbürgerlichen Wahlfesten teilzunehmen, um die Präsidiale Schärpe neuen Autoritäten zu überreichen. Die Besitzer hatten vor, im Volk ein angemessenes Klima für ausländische Investitionen zu schaffen, die unter anderem den Raubbau von Naturressourcen betrafen, ohne dass es zu den bekannten Komplikationen käme, die diese Arbeit in der Vergangenheit mit sich gebracht hatte; jetzt war das Volk eingeladen, sich dem Weltmarkt zu öffnen am modernen Horizont der neoliberalen Globalisierung. Nach oben |
Das alles taten die Herrscher, mit der Begründung, sie seien sehr besorgt wegen des Hungers und der Armut der Leute. Und gerade deswegen erliessen sie Gesetze, die praktisch die Reichtümer des Landes grossen internationalen Unternehmen schenkten, im Austausch von - das dann schon - ein paar Arbeitsstellen für Einheimische. Nun, in diesem Klima der Demokratie gingen die Leute zur Wahl, in der gleichen Weise wie sie arbeiteten, assen, feierten. Das alles machten sie, als ob es keine Erinnerung gäbe. Doch es war ein Volk, das dadurch, dass ihm das Gedächtnis entrissen worden war, kaum noch ein Volk war. Zum Beispiel sagten einige, wenn alle vier Jahre die allgemeinen Wahlen stattfanden, dass das politische Verhalten der BewohnerInnen typisch sei für ein ziemlich rückständiges, unwissendes Volk. Einst, für eine Anzahl von weniger als 6 Millionen WählerInnen, wurden gar 70´000 WahlbeobachterInnen geschickt, und viele davon kamen aus dem Ausland! Andere waren der Meinung, dass viele Leute SadomasochistInnen seien, die diese krankhafte Faszination fühlten, die Folterknechte in ihren Opfern provozieren. Wieder andere dagegen gratulierten sich, wenn die Wahlveranstaltungen ohne die gefürchteten Zwischenfälle vonstatten gegangen waren, die prächtigen Vaterlandsfeste, Beispiele der Demokratie… Doch niemand stellte sich hin und interpretierte die hohen Quoten der Stimmenthaltung oder die Tatsache, warum die Wahlausübung jeglicher politischen Vernunft entbehrte und allein Ergebnis der klientelistischen Machenschaften der KandidatInnen war. Niemand machte sich daran mit Scharfsinn herauszufinden, warum die Menschenmengen, die im letzten Krieg die Opfer gewesen waren und immer noch nicht das Geringste an Gerechtigkeit erfahren hatten, zur Wahl gingen und ein ums andere Mal die Hand ihrer Übeltäter küssten. Niemand schien wahrzunehmen, dass die kostenaufwendige und grelle Wahlpropaganda alle vier Jahre wieder das bedrohliche Prasseln der Glut der Erinnerung überdeckte. |
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