¡Híjole...! Die einmonatliche Kolumne von Fernando Suazo: Warum haben sie ihm das angetan?
Fijáte 358 vom 26. April 2006, Artikel 7, Seite 6
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¡Híjole...! Die einmonatliche Kolumne von Fernando Suazo: Warum haben sie ihm das angetan?
Guatemala begeht die heilige Woche vor OsternIn meiner Nachbarschaft plärren die Lautsprecher: Eine Gruppe evangelikaler Sektenangehöriger schreit, schimpft, singt und erzittert vor der Macht eines Gottes, der taub zu sein scheint. Dazu die mit corozo (typische duftende Oster-Pflanzenähre, die Red.) parfümierten Luftbrisen, die Blumen und Kiefernadeln, die Formen und Farben der Blumenteppiche auf den Strassen, hergerichtet von Nachbarn und Nachbarinnen in Shorts und Schlappen, eingelullt in Musik, die der potenteste Musikrekorder der Nachbarschaft von der Mitte der Strasse aus von sich gibt; die Trauben von Kindern, die ältere Leute anrempeln; die Familien in Sonntagsstaat, die unter der Hierarchie des Papstes spazieren gehen; die Hotdogwagen am Strassenrand; die häuslichen Altärchen, die vor einigen Häusern auf den Bürgersteig hinausgestellt wurden, eingetaucht in Weihrauch; die barfüssigen Jungen und Mädchen, die die typischen Oster-Honiglutscher feilbieten: all das ist Semana Santa in meinem Dorf. Der Hauptdarsteller ist ein ermordeter Mann. Daran hat mich gerade ein Junge erinnert, der offenbar noch nicht zum Religionsunterricht geht, als er die Heiligenfigur des Gekreuzigten bei einer Osterveranstaltung gesehen hat. Er war beeindruckt: "Wer ist das?", hat er mich gefragt, während sein Zeigefinger die Blutfäden auf der Figur nachzieht. "Warum haben sie das mit ihm gemacht?", und zeigt auf die enormen Nägel, die Hände und Füsse der Figur durchbohren. Wer hat ihn ermordet? Der Katechet, der im Gemeinderadio spricht, der Pfarrer in der Messe, die Nonne während der Katechese, die Leute auf der Strasse, die sich bekreuzigen, wenn der Nazarener vorbeizieht und sogar die KolumnistInnen in der täglichen Presse scheinen sich in der Antwort einig zu sein: "Er starb für unsere Sünden." Selbst ein bissiger Verteidiger des Neoliberalismus, der sonst immer über Wirtschaft schreibt, macht heute einen auf Ostern und redet von einem "allmächtigen Gott, der das grösste Opfer brachte, um die Menschheit von der Sünde und vom Tod zu erlösen". Zu dieser ahistorischen, universalen Erklärung kommt jetzt noch das Dokument des gnostischen Evangeliums vom Heiligen Judas hinzu, das in diesen Tagen im National Geographic publiziert wird. Aber all das gibt keine Antwort auf die eindeutige Frage des Jungen, der auf die Nägel des Gekreuzigten zeigt. Während die religiösen Erwachsenen, manche an die Genauigkeit der Wissenschaft gewöhnt, eine mystische Antwort anbieten, stellt sich der Junge - sind die Kinder nicht die BürgerInnen der Phantasie? - die wissenschaftliche, konkrete Frage über den Tod des Gekreuzigten: Wer ist das Opfer und warum haben sie das mit ihm gemacht? Ein verdächtiges Paradox. Die Szenen der Heiligen Woche (lassen wir einmal das Marketing des Tourismus beiseite, das unseren flüchtigen Sommer mit den religiösen Folklore-Events verbindet) sind Ausdruck einer gewissen Sorge um den Verlust des Realismus. Es scheint, dass sie versuchen, die wahre Geschichte jener Geschehnisse zu offenbaren. Die Strassen während der Semana Santa sind gefüllt von "Juden" und "römischen Soldaten", nicht ohne Charakteristika des kaiserlichen Roms. Die Bildnisse der Prozessionen zeigen mit gewisser Grobheit die Folter von Jesus und den Schmerz seiner Mutter sowie die Bosheit der Folterer. Es werden sogar die Hauptszenen der Passion, vor allem die Kreuzigung, live dargestellt. Die ZuschauerInnen sind ergriffen. Nach oben |
Doch das Interesse für die Geschichte bleibt genau dort stecken, in Folklore ohne Erinnerung. Niemand beantwortet die anderen Fragen: Wie war die religiös-soziale Einstellung von Jesus, was waren die sozio-politischen Interessen seiner Feinde? Und dann die Frage unseres Kleinen: Warum haben sie das mit ihm gemacht? Verdächtigerweise wird alles aus der Jesusgeschichte wegradiert, was in Beziehung steht zu den Dynamiken von Herrschaft/Befreiung, welche die Menschheitsgeschichte durchziehen und die unser Guatemala einschneidend prägen. Übrig bleibt ein Nebenprodukt, das dazu dient, Schuldgefühle zu nähren und die Forderungen des hiesigen Lebens für "das Leben danach" aufzuschieben. Oder damit irgendein Frevler sich im öffentlichen Ehrenbad suhlen kann, verkleidet mit der Büssermütze oder mit der heiligen Figur des Nazareners auf den Schultern. Doch der Tod Jesu war eine hoch politische Tat gegen einen unbestreitbaren Führer, der eine Revolution des Bewusstseins förderte, aber auch eine Revolution der religiösen, sozialen und politischen Strukturen seines Volkes. Was soll man von so vielen Gläubigen halten, die Erfurcht vor dem Gekreuzigten bekunden und nicht wissen, wer ihn ermordet hat und warum sie das getan haben? Ich habe meine Vorbehalte gegenüber einer Religion, die wie im Mittelalter, nach dem Hören der Passionsgeschichte die Figur des Gekreuzigten über das Volk erhebt und sagt: "Mein Volk, warum hast du das Kreuz für deinen Retter aufgestellt?" - Haben wir nicht gerade noch gehört, dass es die Oberhäupter des Volkes waren, die das gemacht haben? Ich habe meine Vorbehalte gegenüber einer Religion, die, anstatt die Verantwortlichen für den Tod des Unschuldigen - aller Unschuldigen - zu entlarven, ihre Gläubigen dazu zwingt zu singen: "Vergib deinem Volk, Herr." Was ist das für eine Religion, die sich eines Gekreuzigten bedient, aber die wahre Version jenes Verbrechens verheimlicht? |
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