Archive der Nationalen Polizei: 100 Jahre Geschichte
Fijáte 359 vom 10. Mai 2006, Artikel 1, Seite 1
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Archive der Nationalen Polizei: 100 Jahre Geschichte
Im Juni 2005 stiess das Menschenrechtsprokurat (PDH) bei der Untersuchung einer Explosion in einem polizeieigenen Sprengstofflager mitten in der Hauptstadt "zufälligerweise" auf ein Archiv der Nationalen Polizei. Inmitten von polizeilichem Autoschrott und Sprengstoff lag während Jahren ein wahrer Schatz an Dokumenten verborgen, aus denen man nun in akribischer Arbeit Bruchstücke fehlender Geschichte von Hunderten, während dem Krieg "verschwundener" Personen, wiederzufinden hofft. Der Fund dieser Archive ist ein Höhepunkt in der Geschichte der Wahrheitssuche in Guatemala, wurde doch die Existenz solcher Archive systematisch geleugnet, sowohl gegenüber der Wahrheitskommission (CEH) wie auch gegenüber (Staats-) AnwältInnen, die Beweismaterial für die Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen suchten. Der FundZurückhaltende Schätzungen gehen von 50 - 60 Millionen Dokumenten aus (aneinandergereiht sind das 24,5 km), welche die Geschichte der Nationalen Polizei seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Unterzeichnung der Friedensabkommen 1996 dokumentieren. Die ältesten Schriftstücke datieren aus dem Jahr 1902. Kriminalistische Untersuchungen, offizielle Kommunikation zwischen den verschiedenen Polizeieinheiten, administrative Informationen, Zeitungsausschnitte, interne Memoranden, Fotos von Leichen, Gesuche um Führerscheine und weitere Informationen im Zusammenhang polizeilicher Tätigkeiten während quasi 100 Jahren wurden in Stapeln, in Archivschubladen oder in wirrem Durcheinander auf dem Fussboden in insgesamt 37 Räumen gefunden. Die meisten dieser Dokumente waren jahrzehntelang dem Regen, dem Schimmel und den Fledermäusen ausgesetzt. Das Gebäude, in dem der grösste Teil der Dokumente gefunden wurde, hat ein Flachdach, da der Bau eigentlich als mehrstöckiges Polizeispital geplant war, aber nie über das Erdgeschoss hinausgebaut wurde. Entsprechend war das Dach dieses einen Stockwerks nicht als Dach sondern als Zwischenboden konzipiert und ist deshalb nur bedingt wasserdicht. Eigentlich ist es schwierig zu glauben, dass dieses Gebäude ein Krankenhaus hätte werden sollen, bei einem Rundgang trifft man auf Dutzende von (ebenfalls unfertigen und deshalb schwierig zu definierenden) 2,5m² kleinen Räumen ohne Lichtquelle. Retten, was zu retten istDie PDH reagierte schnell. Innerhalb von Stunden wurden ausländische Botschaften über den Fund informiert, um zu garantieren, dass die internationale Gemeinschaft diesem Archiv die notwendige Wichtigkeit zukommen liess. Guatemaltekische Menschenrechtsorganisationen stellten sofort Freiwillige zur Verfügung, die das Gelände und die darin gelagerten Dokumente schützten und mit ersten Aufräumarbeiten begannen, sobald die entsprechende richterliche Verfügung vorlag. Dies ging erstaunlich rasch und reibungslos: Die PDH bekam die Erlaubnis, ein Inventar der vorgefundenen Dokumente zu erstellen und es wurde richterlich entschieden, dass zum Schutz der Dokumente das Archiv nicht verlegt werden darf. Nachdem die Existenz des Archivs in der Hauptstadt bekannt wurde, machte sich die PDH auch in den Departements auf die Suche und wurde in verschiedenen Polizeistationen fündig. Aus rund 30 Polizeiarchiven unterschiedlicher Grösse (hier muss man davon ausgehen, dass diverses Material zerstört wurde) aus dem Landesinnern wurden noch einmal etwa 6 Mio. Dokumente zusammengetragen. Unterdessen sind diverse Fachleute sowie über hundert von guatemaltekischen Menschenrechtsorganisationen bezahlten oder auf Freiwilligenbasis aufgebotenen Personen daran, eine erste Systematisierung der Dokumente durchzuführen. In erster Linie geht es darum, die Papiere von Schmutz und Schimmel zu reinigen, Fotos wieder aufzukleben und die metallenen Büro- und Heftklammern durch solche aus Plastik zu ersetzen, um weitere Rostschäden zu verhindern. Alle im Archiv arbeitenden Leute tragen Handschuhe und Mundschutz, da der Schimmelpilz giftige Substanzen enthält. Die Arbeit verläuft in vier Phasen: Sicherstellen, Bewahren, Analysieren, Erhalten. In den ersten drei Phasen werden Dokumente aus dem Zeitraum 1975 - 1985 prioritär gesichtet, es handelt sich dabei um die Jahre, in denen am meisten Personen "verschwunden" wurden. Dabei geht es darum, sowohl den Ansprüchen der HistorikerInnen, der ArchivarInnen, der AnwältInnen wie der Familienangehörigen gerecht zu werden, Ansprüche, die sich zum Teil aus beruflichen oder persönlichen Interessen widersprechen. Anlässlich der ersten öffentlichen Präsentation der Arbeit in den Archiven Anfang März 2006 erklärte Menschenrechtsombudsmann Sergio Morales, man habe noch nicht einmal 1 Prozent der Dokumente klassifizieren können. Entsprechend sei es noch zu früh, um die Strukturen und das Funktionieren der Polizei beschreiben zu können. "Unterdessen haben wir zwar erste Bilder über verschiedene historische Momente, die nach einem komplexen und enormen Puzzle ausschauen. Beim Zusammensetzen dieses Puzzles hat man manchmal das Gefühl, dass gewisse Teile zusammengehören, aber dann gibt es wieder Momente der Unklarheit und der Widersprüche, die zur Vorsicht mahnen", heisst es in einer ersten Evaluation der PDH über die ersten drei Monate Arbeit in den Archiven. Die PDH rechnet mit mehreren Jahren Arbeit, bis die Dokumente so geordnet und so aufbereitet sind, dass sie öffentlich zugänglich gemacht werden können. Im Moment wird kein einziges Dokument herausgegeben und keinem der "Fälle" explizit nachgegangen. Zwar können Menschenrechtsorganisationen, AnwältInnen oder Familienangehörige bereits Anträge für die Herausgabe von eventuell im Archiv vorhandenen Dokumenten stellen, doch müssen alle Dossiers zuerst gesichtet, registriert und digitalisiert werden bevor sie freigegeben werden. Und dann beginnt die schwierige Arbeit der Menschenrechtsorganisationen, die darin besteht, aus den gefundenen Dokumenten Beweise dafür zu finden, dass der Befehl, eine Person zu verfolgen, verschwinden zu lassen, zu foltern, umzubringen, von einer der Polizeistationen ausging, deren Archive man jetzt gefunden hat. Laut Mario Polanco von der Menschenrechtsorganisation Gruppe gegenseitiger Hilfe (GAM) wird dies nicht einfach sein. Man habe zwar in den Archiven die Beweise, dass Leute überwacht, verfolgt und möglicherweise sogar vorübergehend festgenommen wurden. Viele der Polizeiakten endeten mit dem Befehl proseguir - weiterverfolgen. Doch wenn man dann endlich Zugang zu den Dokumenten habe, müsse erst nachgeprüft und bewiesen werden, dass alle Dossiers/Personen, die mit einem proseguir-Vermerk versehen sind, identisch sind mit den Dossiers, welche die Menschenrechtsorganisationen über die Verschwundenen und Ermordeten haben, so Polanco. Eine weitere Frage, die vor der Veröffentlichung der Dokumente geklärt werden muss, ist das Problem der individuellen versus der kollektiven Rechte. Die guatemaltekische Bevölkerung hat ein Recht auf die Wahrheit (kollektives Recht), die Familienangehörigen derjenigen Personen, die in den Archiven katiert sind, haben das Recht auf Persönlichkeitsschutz ihrer Liebsten, auch wenn diese bereits tot sein sollten (persönliches Recht). Die guatemaltekische RegierungDie Reaktion der guatemaltekischen Regierung auf den historischen Fund ist geprägt von Zurückhaltung und dem Versuch, das Ganze herunterzuspielen. Was man jetzt plötzlich für ein Aufheben um diese Archive machen würde, die seien ja immer da gewesen, ist der offizielle Kommentar. Entsprechend stellt die Regierung auch keine finanziellen Mittel zur Verfügung, um das Datenmaterial zu sichten und aufzuarbeiten. Immerhin gab der Sprecher des Vizepräsidenten bei dem öffentlichen Anlass Anfang März das Versprechen, dass in denselben Räumlichkeiten, in denen das Archiv gefunden wurde, ein "Museo de la Memoria" - ein Museum der Erinnerung, eingerichtet werden soll. Nach oben |
Die Geschichte der Nationalen PolizeiDie im Polizeiarchiv gefundenen Dokumente umfassen verschiedene historische Perioden in der Geschichte der Polizei und werden bei der Aufarbeitung entsprechend gruppiert. In ihren Anfängen war die guatemaltekische Polizei eine Art Nachbarschaftshilfe, die autonom funktionierte und keinen spezifischen Auftrag des Staates erfüllte. Am 7. Dezember 1872 wurde per Dekret die Guardia Civil gegründet, und am 12. September 1881 wurde ein Polizeireglement für "Sicherheit und Hygiene" erlassen. Eine nächste Phase in der Geschichte der Polizei umfasst den Zeitraum 1900 bis 1930, in der eine zahlenmässige Vergrösserung und territoriale Ausweitung polizeilicher Tätigkeiten stattfand. Sie bekam den Namen Nationale Polizei und übernahm immer mehr Überwachungsfunktionen. Die nächste Periode umfasst die Jahre 1931 bis 1944, die Zeit des Diktators Jorge Ubico, in der die Polizei mehr und mehr Kontrollfunktionen übernahm. Es wurde eine nichtuniformierte, sprich Geheimpolizei ins Leben gerufen, die einen ausgesprochen militärischen Charakter hatte und deren Aufgabe die Kontrolle der Zivilbevölkerung war. Eine Arbeit bei der Polizei fand nur, wer vorher Militärdienst geleistet hatte. In dieser Zeit waren die Polizeiaufgaben unterteilt in "öffentliche Ordnung", "Gesundheit und Hygiene" und "Soziale Verteidigung". In der Zeit der Revolution von 1944 - 1954 änderte man den Namen der Polizei wieder um in Guardia Civil, um ihren repressiven Ruf und ihren Imageverlust unter Ubico etwas aufzubessern. Es wurde auch versucht, die Polizei zu entmilitarisieren. Mit der Konterrevolution unter der Regierung von Carlos Castillo Armas (1954) ergab sich wieder eine völlige Umstrukturierung der Polizei. Im Rahmen der "Kommunismusbekämpfung" wurde das Komitee zur Nationalen Verteidigung gegründet, dem auch die berühmt-berüchtigten judiciales angehörten, deren Aufgabe die Jagd auf KommunistInnen war. Ein weiter historische Zeitspanne, die bei der Untersuchung der Archive von Bedeutung sein wird, sind die Jahre zwischen 1963 und 1986. Nach dem Staatsstreich von 1963 übernahm das Militär die Vormachtstellung über die anderen Institutionen, inklusive der Polizei, die sich in ein Instrument der Aufstandsbekämpfung wandelte, deren Chefs in enger Beziehung mit dem Militär standen. Die Unterordnung und Militarisierung wurde durch die Ernennung diverser Militärs in hohe Polizeiränge institutionalisiert. Während der 70er-Jahre wurden landesweit Polizeiposten und -stationen eingerichtet. Unter der De-facto-Regierung von Ríos Montt wurde im Jahr 1982 eine neue Einheit (DIT) gebildet, deren Aufgabe die Verfolgung und Untersuchung von "Delinquenten" war, sowie deren Überstellung an spezielle Gerichtshöfe. Die letzte Zeitspanne umfasst die Jahre von 1986 bis 1997. Sie beginnt mit der Regierung von Vinico Cerezo, der die DIT abschaffte, die im Verlauf der Jahre in das umwandelt wurde, was heute die guatemaltekische Kriminalpolizei (SIC) ist. 1997, im Rahmen der Friedensabkommen, wurde die Zivile Nationalpolizei (PNC) gegründet, mit dem Ziel, die Praktiken der menschenrechtsverletzenden Nationalen Polizei und der Finanzpolizei ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Die Struktur der Polizei betreffend, ist es noch zu früh, um aus den gesichteten Dokumenten definitive Schlüsse zu ziehen. Was jedoch klar hervorkommt ist eine systematische Unterordnung der Polizei unter das Militär. Die bisher gefundenen Organigramme der Nationalen Polizei lassen noch kein genaues Bild über die interne Hierarchie bzw. über eine Parallele zwischen den jeweiligen Polizeigesetzen und der Polizeihierarchie zu. Gefunden hat man bisher Organigramme aus den Jahren 1936, 1982 und 1997, die darauf hinweisen, dass über die Jahre eine Veränderung von hierarchischen zu horizontaleren Strukturen stattgefunden hat. Doch ist durchaus zu erwarten, dass mit den bereits gefundenen internen Polizeidokumenten und mit denen, die die PDH im Verlauf der Aufarbeitung des Archivs zu finden hofft, ein ziemlich genaues Abbild der Strukturen und des Funktionierens vornehmlich der Nationalen Polizei im letzten Jahrhundert erstellt werden kann. |
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