Im Land des funktionalen Analphabetentums
Fijáte 379 vom 21. Februar 2007, Artikel 1, Seite 1
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Im Land des funktionalen Analphabetentums
Immer wieder werden landesweite Stichproben in Schulen durchgeführt, um den Leistungsstand des Bildungssystems zu überprüfen, oft mit erschreckenden Ergebnissen. Ähnlich resultieren die Statistiken von Jahrgangswiederholungen und gänzlichen Schulabbrüchen. Doch anstatt in eine verbesserte Ausbildung und Entlohnung der Lehrkräfte sowie eine Verbesserung der Lernumgebung und Förderprogramme zu investieren, widmet sich das Bildungsministerium lieber der Durchsetzung von Privatisierungsbestrebungen auf allen Ebenen und entzieht sich somit der Verantwortung. Der folgende Artikel über die Lage der guatemaltekischen Lesegewohnheiten von Elmer Telon erschien am 31. Januar 2007 in der Tageszeitung La Hora, wohl bemerkt zu Beginn eines Wahljahres. Guatemala ist kein fruchtbares Land, weder für das Lesen noch für die Künste. Die Intellektuellen des Landes sehen für sich zwei Möglichkeiten: mit Gelassenheit der rauen Umgebung standzuhalten, die sie verachtet oder den schmerzhaften Weg der Auswanderung einzuschlagen. Das herrschende Bildungsmodell ist längst obsolet und schafft es nicht, tatsächlich zu bilden. Vielmehr ist es zu einer Massenproduktionsmaschine von funktionellen AnalphabetInnen geworden. "Die Bildung, die in der Grund- und weiterführenden Schule erteilt wird, ist mangelhaft. Beweis dafür sind die zahlreichen Studierenden, denen der Eintritt (per Aufnahmeprüfung, die Red.) in die staatliche Universität San Carlos von Guatemala (USAC) verweigert wird, da sie nicht fähig sind, einen Text zu interpretieren", beobachtet der Soziologe Carlos Guzmán Böckler. Laut diesem ist das Lesen einer der wichtigsten Motoren für den Aufschwung jeglicher Gesellschaft. Schätzungen zufolge liest gerade einmal 1% der Bevölkerung Guatemalas regelmässig. Was sind die Ursachen für diese Apathie? Der Antworten gibt es reichlich und gemäss den ExpertInnen sehr unterschiedliche. Nach Meinung der Doktorin für Kinder- und Jugendliteratur, Frida Morales, ist einer der zahlreichen Gründe, die man aufführen kann, das politische Desinteresse an der Entwicklung von Programmen, die das Lesen stimulieren. "Die Bildung, und in diesem Fall das Lesen, ist historisch schon immer ein politisches Instrument gewesen. Und die seltenen Versuche, dies ins Positive zu wandeln, waren Programme, die nicht von Dauer waren und andere sind isolierte Projekte geblieben." Die Schriftstellerin Margarita Carrera erachtet zudem die fehlende Wertschätzung der Kultur und in diesem Zusammenhang gegenüber allen Künsten von Seiten des Staates als eine der Ursachen für die Rückständigkeit des Landes. "In unserer Gesellschaft ist der Beruf der/s SchriftstellerIn verwerflich, ganz zu Schweigen von dem der Poetin/ des Poeten. Die Person des Jahres ist hier immer ein Unternehmer, der/die Intellektuelle gilt als einer dieser Unfälle am Rande, die niemanden interessieren", meint die guatemaltekische Autorin und Poetin. Der Soziologe Guzmán Böckler ist der Ansicht, dass es bereits in den Jahren des internen bewaffneten Konflikts eine exzessive Propaganda in Richtung Verdummung gab, in der beispielsweise das Mannsein und der Mut als unerlässlich verbreitet wurden. Daraus folge, so Guzmán, implizit die Verachtung des Intellektuellen und schliessllich die weit verbreitete Ablehnung der Lektüre. Und die Armut?Guzmán Böckler denkt, dass die Gründe für die geringe Lesegewohnheit auch in den ökonomischen und sozialen Konditionen zu finden sind, weist er doch darauf hin, dass "Guatemala [...] eine der lateinamerikanischen Nationen mit den höchsten Indizes der Ungleichheit (ist)", eine Tatsache, die den Zugang zur Lektüre und Bildung für die Mehrheit der Bevölkerung schmälert. Die ungleiche Verteilung des Reichtums hat sich nach Meinung des Soziologen auf die kulturelle und Bildungsrückständigkeit des Landes ausgewirkt. Selbst die Machtgruppen hielten es immer noch nicht für wichtig, dass die Bevölkerung gebildet sei, versichert Guzmán. Viele der Mädchen und Jungen, die die öffentlichen Schulen besuchen, leiden an Unterernährung, und das in den städtischen Gebieten. In den ländlichen Zonen spitzt sich das Problem soweit zu, dass man das Kind, will man es unterrichten, regelrecht dem Elend entreissen muss, erklärt die Doktorin Morales mit Nachdruck. Das moderne LebenZu diesen Aspekten muss man die Ansprüche des modernen Lebens hinzuzählen, vor allem in den Städten und urbanen Regionen. Mit César Aguilar, dem Herausgeber und Generalgeschäftsführer des Wirtschaftskulturfonds, gesprochen: "Das Lesen steht mit der Technologie in Konkurrenz, mit Computern und Videospielen, deren Vermarktungsfirmen über einen gewaltigen Etat für Werbung verfügen. Die berühmte "Flimmerkiste", das Fernsehen, sei einer der stärksten Gegner, er stelle das Zentrum des Familienlebens dar, das Fenster zur Welt, zu einer Lebensform, die danach strebt, sich zu globalisieren. Morales ist überzeugt davon, dass die Ideologie-Verbreitung über diesen Kanal oft den schlecht orientierten Geist eines Kindes überschwemmt. Nach oben |
Die Mädchen und Jungen werden in den meisten Fällen und aus zahlreichen familiären Gründen praktisch durch das Fernsehen erzogen, durch das Stereotypen und Ideologien eines Systems wieder gegeben werden, die weit von der eigenen Identität entfernt sind, wodurch das Kind transformiert wird, das später ein/e entfremdete/r BürgerIn sein wird. Nach Meinung von Margarita Carrera hat die Technologie schon fast den Punkt erreicht, den Verstand der Individuen zu jagen. Sie könne jedoch nicht einschätzen, ob es ein Zurück geben könnte, das ein Gleichgewicht finden könnte zwischen der Modernität und so grundlegenden Elementen wie dem Lesen. "Die Kinder und Jugendlichen empfangen eine Unmenge an Botschaften, die Werbung bedrängt sie überall und ohne Werkzeuge an der Hand, sich ihr zu stellen, handeln sie impulsartig. Sie brauchen dafür noch nicht einmal viel Phantasie, denn es handelt sich um einen einspurigen Kanal, das Gehirn ist jedoch ein Muskel, der trainiert werden muss", meint César Aguilar. Deswegen sind sich die ExpertInnen einig darin, dass es in den Bildungseinrichtungen ein Gegengewicht zu diesem Bombardement geben müsse, dem die Kinder und Jugendlichen durch die Massenkommunikationsmittel ausgesetzt sind. Einer der Erziehungsaufträge in den Schulen muss darauf ausgerichtet sein, eine guatemaltekische Ideologie für die GuatemaltekInnen zu schaffen. Und dafür müssten all jene Legenden und eigenen Geschichten des Landes zur Hand genommen werden, wo die Literatur eine unersetzbare Säule darstellt. Und was macht das MINEDUC?Das Bildungsministerium (MINEDUC) behauptet, verschiedene Lese- und Schreibtests mit SchülerInnen vor allem in der Mittelstufe durchgeführt zu haben - mit wenig erfreulichen Ergebnissen. Laut ministerialen Informationen zeigt mehr als die Hälfte der Getesteten deutliche Mängel in der Interpretation von Gelesenem und fällt damit zurück in den so genannten funktionalen Analphabetismus. Olga de Motta, Referentin des Leserates des MINEDUC, berichtet derweil, dass die Institution das Lesen bei den SchülerInnen gefördert habe, so wie es die Iberoamerikanischen Vereinbarungen verlangten. Mit dem Programm "Alle ans Lesen" habe das Ministerium gar alle Departements des Landes abgedeckt. Ein Problem, mit dem das MINEDUC dabei konfrontiert wird, ist, laut der Schriftstellerin Carrera, die Tatsache, dass selbst die Lehrenden kein Vergnügen am Lesen finden. Diese verfügten eben auch nicht über die notwendigen Werkzeuge, um die Kinder zum Lesen zu animieren und anzuleiten. "Die Richtung dieses zweifelhaften Prozesses wird in dem Moment eingeschlagen, in dem ein Text ausgewählt wird, der ausserhalb der guatemaltekischen Realität spielt. Stattdessen wird ein Buch ausgesucht, das die Erlebnisse einer Lehrerin erzählt, die aber mit ganz anderen Problemen konfrontiert ist, als es sie in Guatemala gibt", erläutert Morales. Die Pädagogin ergänzt, dass ein weiteres Hindernis darin besteht, dass die Lehrperson in Guatemala im Allgemeinen völlig erschöpft ist und kaum Anreize findet, um sich selbst besser vorzubereiten und somit ein würdigeres Gehalt anzustreben. Welchen Beitrag leistet das Lesen?In erster Linie "holt es uns aus der Herde heraus und erlöst uns davon, ein Individuum zu sein, das sich in irgendwelche Sachen flüchtet, um seine Haut zu retten und nicht die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen", meint Carrera. Ausserdem öffne das Lesen einem die Tür zur Welt des Wissens. Morales ist der Ansicht, dass das Lesen die Person augenblicklich dazu bringt, nachzudenken, was sie zu allererst als Individuum stärkt, denn sie muss sich selbst kennen lernen. Eine Tatsache, die die lesende Person dabei anleitet, ihre Umwelt in Frage zu stellen und darüber nachzudenken, was sie als Realität kennt. Nach Meinung des Herausgebers César Aguilar, besitzt jede Bevölkerung, die liest, mehr Information und umfassendere Hilfen, um sich in jeglichem Bereich zu entwickeln, sowohl in der Wissenschaft wie im Kulturellen. Für den Soziologen Guzmán Böckler stellt das Lesen eine vielfältigere Aktivität der Sprache dar, die uns Werkzeuge an die Hand gibt, selbst besser zurechtzukommen, indem wir eigene Kriterien entwickeln und uns zu Individuen mit der Fähigkeit zu einer eigenen Meinung entfalten. Bemühungen der ZivilgesellschaftMit der Absicht, die Gewohnheit des Lesens in Guatemala zu fördern, wurde der Leserat von Guatemala (CLG) geschaffen, eine Vereinigung, in der Freiwillige der verschiedenen Sektoren der Gesellschaft teilnehmen. "Wir kämpfen darum, dass sich in Guatemala und Lateinamerika die niedrigen Lesequoten verändern", sagt Miriam de Serech, Mitglied des Rates. Die Voluntärin berichtet, dass es von Seiten des Bildungsministeriums sehr wenige Anstrengungen gibt: "Es fehlt in den Schulen an Material und an einem Programm, das zum Lesen aus Vergnügen und nicht aus Pflicht anspornt. Deswegen hat der Leserat bereits einige Aktionen ins Leben gerufen, so die Fortbildung für Lehrende in Lesetechniken, Buchspenden für Schulen, Erfahrungsaustausch auf Kongressen und die Vergabe von Stipendien für Lehrende in Grund- und weiterführenden Schulen. Unter dem Begriff funktionalem/r AnalphabetIn versteht man diejenige Person, die eine formale Bildung erhalten hat, jedoch nur gelernt hat, die Zeichen zu erkennen. Sie kann also jeden Text lesen, ist aber nicht fähig, ihn inhaltlich zu verstehen oder zu interpretieren und es fällt ihr mithin schwer, eigene Ideen zu entwickeln und zu vertreten. |
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