Überlegungen zur Straflosigkeit in Guatemala
Fijáte 405 vom 05. März 2008, Artikel 1, Seite 1
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Überlegungen zur Straflosigkeit in Guatemala
Vom 18. - 20. Februar weilte die UNO-Sonderbeauftragte für Menschenrechte, Hina Jilani, in Guatemala. Sie wollte die Entwicklung der Menschenrechtssituation und der Drohungen gegen MenschenrechtsaktivistInnen seit ihrem letzten Besuch im Juni 2006 evaluieren. (siehe separater Artikel) Von Fortschritten zu sprechen, wäre wohl zynisch angesichts der jüngsten gewalttätigen Ereignisse im Land und der offensichtlich herrschenden Straflosigkeit. Anlässlich dieses Besuchs erarbeiteten verschiedene guatemaltekische Organisationen eigene Stellungnahmen und Analysen, die sie der Sonderbeauftragten überreichten. Wir veröffentlichen an dieser Stelle Ausschnitte aus den "Überlegungen zur Straflosigkeit in Guatemala", zusammengetragen von der Mirna-Mack-Stiftung. Darin wird die Logik erläutert, die der Sichtweise zugrunde liegt, Straflosigkeit als eine Menschenrechtsverletzung zu klassifizieren. Zur Situation1. Guatemala durchläuft eine tiefe Krise, die geprägt ist von zunehmender Gewalt und Kriminalität. In den letzten fünf Jahren fielen ihr mehr als 25'700 Menschen zum Opfer, was eine Mordrate von 41,8 Toten pro 100'000 EinwohnerInnen ausmacht. Diese Zahlen bedeuten, dass Guatemala eines der gewalttätigsten lateinamerikanischen Länder ist. 2. Mit diesen Kriminalitätsverhältnissen und mit Institutionen, deren Kapazität wegen schlechter Führung und Korruption in vielen ihrer Funktionen eingeschränkt sind, hat sich das guatemaltekische Rechtssystem in eine Quelle der Straflosigkeit verwandelt. Es vernachlässigt seine Hauptfunktionen, fördert Mechanismen, durch die viele Menschen vom Zugang zur Justiz ausgeschlossen werden, und reproduziert repressives und ungerechtes Vorgehen. 3. Die Gemeinsamkeit der meisten Mordfälle ist, dass die Täter straflos bleiben. Die Mängel bei den Untersuchungen, bei den Verfolgungen und bei der Bestrafung gehen einher mit Phänomenen wie Korruption, Ineffizienz und technischen Mängeln. Das Fehlen eines Pflichtbewusstseins, die Inexistenz von Kontroll- und Überwachungsmechanismen, um FunktionärInnen zu sanktionieren, die ihren Dienst fehlerhaft ausführen, sowie der Mangel an politischem Willen, um die Arbeit der entsprechenden Institutionen zu verbessern, führen unweigerlich dazu, dass in den wenigsten Fällen die Justiz zur Rechtsprechung kommt. 4. Diese Straflosigkeit ist eine massive Verletzung der Menschenrechte und lässt Taten zu, die wiederum das Leben, die physische Unversehrtheit, die Kulturgüter und verschiedene in der Menschenrechtserklärung garantierte Freiheiten verletzen. Dieser Umstand verschliesst die Möglichkeit zur Wiedergutmachung gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen und verleitet zur Wiederholung der Tat und somit zur Schädigung weiterer Personen. 5. Die Straflosigkeit pervertiert die Institutionen, deren eigentliche Aufgabe die Garantie und die Einhaltung der Menschenrechte ist. Sie schafft Zustände, in denen die Menschen ihre Würde und ihre Werte verlieren, und fördert das Durchsetzen von Eigeninteressen, seien diese politischer oder ökonomischer Art, zugunsten des Staates oder einzelner Personen oder Interessensgruppen. In einem solchen Kontext verlieren die Verfassung, die nationalen und internationalen Gesetze sowie das Völkerrecht im Alltag jeglichen Wert. 6. Die Mechanismen der Straflosigkeit, die heutzutage Anwendung finden, sind die gleichen wie die der Vergangenheit, um Ermittlungen von Verletzungen gegen die Menschenrechte zu behindern. Die aktuelle Politisierung des Themas gibt der Praxis der Straflosigkeit regelrecht Aufwind und die Gewalt ist ein effizientes Mittel, um Gerichtsprozesse zu zerschlagen oder dies zumindest zu versuchen. Das führt dazu, dass weder die während des Krieges begangenen Straftaten und Menschenrechtsverletzungen aufgeklärt und bestraft, noch die aktuellen die gesamte Bevölkerung betreffenden Verbrechen strafrechtlich verfolgt werden. Dabei sind diese Produkt von den wachsenden kriminellen Phänomenen wie Korruption, die "gemeine" Kriminalität, das organisierte Verbrechen, die Jugendbanden (maras) und die klandestinen Gruppierungen, die ein Klima der Gewalt und Unsicherheit provozieren und die öffentliche Ordnung bedrohen. 7. Über den konkreten Bereich der Strafjustiz hinaus ist es wichtig festzuhalten, dass die Straflosigkeit auch bei der Nichteinhaltung der ökonomischen und sozialen Rechte weit verbreitet ist. Zum Beispiel stellen die Praxis von sozialer Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch sowie die Faktoren, die die Armut verstärken, die prekäre Situation der Arbeitsbedingungen und der Ausschluss von Grundversorgung und Entwicklung Bereiche dar, in denen die Durchsetzung von Justiz nicht zugelassen wird. 8. Speziell betroffen von Gewalt und nachfolgender Straflosigkeit sind Personen, die sich sozial oder politisch gegen die Interessen der mächtigen Gruppen auflehnen, z. B. ExponentInnen von Indígena- und BäuerInnenorganisationen, GewerkschafterInnen, JournalistInnen, OppositionspolitikerInnen, AnwältInnen und RichterInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen, Personen oder Organisationen, die an der Aufarbeitung der Vergangenheit arbeiten, AkademikerInnen, die sich der soziologischen und anthropologischen Forschung über den bewaffneten Konflikt widmen oder generell zum Thema Gewalt arbeiten. Nach oben |
9. Auch wenn es sich heute nicht wie zu Zeiten des bewaffneten Konflikts um eine systematische Politik des Staates handelt, steht dessen Verantwortung für die Gewalt, die Unsicherheit und die Straflosigkeit ausser Frage. Der Staat muss das Recht auf Leben, die Sicherheit und die Freiheit eines jeden Menschen garantieren und muss für das effektive Funktionieren derjenigen Justizinstitutionen bürgen, die diese Rechte schützen. 10. Die Instabilität im Justizwesen wird ausgenutzt von kriminellen Strukturen, die innerhalb oder ausserhalb des Staatsapparates im Interesse der Machtelite operieren. Sie bedienen sich Mittel wie dem politischen Druck, der Gewalt oder der Korruption, um ihre Ziele zu erreichen, und bringen die "Maschinerie der Straflosigkeit" ins Laufen, um sich und ihre Auftraggeber zu schützen. 11. Es gibt genügend Beispiele und Beweise, um dem Staat nationale und internationale politische Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen. Es ist auffällig und offensichtlich, dass der Staat nicht in der Lage ist, Gewalt und Kriminalität zu verhindern. Ebenso wenig ist er in der Lage, begangene Gewalt und Kriminalität zu verfolgen und dem Gesetz entsprechend zu bestrafen. 12. Beispiel dafür ist die Staatsanwaltschaft, deren Erfolgsquote sehr bescheiden ist. Ein Monitoring der "Pro-Justiz-Bewegung" in den Jahren 2005 - 07 zeigt, dass 90% der Untersuchungen von Verbrechen gegen das Leben und die sexuelle Integrität im Nichts versandeten. 13. (…) 14. (…) 15. Auch die Zivile Nationalpolizei (PNC) steckt tief in diesem Sumpf von Verbrechen, Gewalt und Straflosigkeit. Die polizeiliche Untersuchungstätigkeit ist wegen personellem und finanziellem Mangel sehr eingeschränkt. Dazu kommen notorische Koordinationsschwierigkeiten mit der Staatsanwaltschaft. Und für niemanden ist es ein Geheimnis, dass die Polizei vom organisierten Verbrechen unterwandert ist. 16. Auf diese Weise wiederholen sich in der PNC selbst solche Phänomene und Praktiken wie u.a. das Bestehen interner Strukturen, die in "gemeine" Straftaten verwickelt sind, Korruption, Aktionen, die in Verbindung stehen mit dem organisierten Verbrechen, aussergerichtliche Hinrichtungen, Machtmissbrauch, exzessive Gewaltanwendung und der unangemessene Gebrauch von Schusswaffen. 17. Im Verlauf der letzten 20 Jahre gab es immer wieder Versuche, die Polizei und das Justizwesen zu modernisieren, umzustrukturieren und zu stärken mit dem Ziel, die noch aus den Zeiten des bewaffneten Konflikts bestehenden Machtkonstellationen und Strukturen zu zerstören. Der Erfolg ist minimal. Vor diesem komplexen Hintergrund gibt die Mirna-Mack-Stiftung folgende Empfehlungen und bittet die UNO-Sonderbeauftragte für Menschenrechte, Hina Jilani, sie bei der guatemaltekischen Regierung vorzubringen: 1. Die Straflosigkeit hat ein Ausmass angenommen, das man als eine massive Form von Menschenrechtsverletzung betrachten muss. 2. Deshalb braucht es eine allgemeine Politik und punktuelle Massnahmen, welche die Wurzeln dieses Übels anpacken. Dazu gehört eine tadellose Koordination zwischen Sicherheits- und Justizwesen, um eine solide, objektive, integre und wissenschaftliche Untersuchung von Verbrechen zu gewährleisten. 3. Der guatemaltekische Staat muss intensiv mit der Internationalen Kommission gegen Straflosigkeit (CICIG) bei der Untersuchung und Aufdeckung krimineller Strukturen innerhalb des Staatsapparates kooperieren. 4. Ebenso vorbehaltslose Unterstützung braucht das Nationale Institut für forensische Wissenschaften (INACIF). Diese Institution ist wichtig bei Untersuchungen von Verbrechen gegen das Recht auf Leben und sexuelle Integrität, bei Gewalt gegen Frauen und bei kriminellen Verbrechen politischer Natur. 5. Sowohl im Justiz- wie im Sicherheitswesen braucht es klare Bestimmungen über Ausbildung und Bewilligungsverfahren zur Berufsausübung. Es müssen objektive Instrumente für das Monitoring und die Evaluation der Arbeit dieser Institutionen und ihrer MitarbeiterInnen geschaffen werden sowie klare Sanktionsregeln. Damit soll ein unabhängiges und unparteiliches Arbeiten dieser Institutionen garantiert und ethische bzw. professionelle Standards gesetzt werden. 6. Das Innenministerium muss interne Untersuchungen bei der Polizei fördern und unterstützen und jegliche Verwicklung von Polizeiangehörigen in Verbrechen oder aussergerichtliche Hinrichtungen strengstens sanktionieren. 7. Gleichzeitig muss der Opferschutz ausgebaut werden. Es muss den Opfern von Gewalt und Kriminalität eine psychosoziale und medizinische Unterstützung sowie juristische Begleitung gewährleistet werden. |
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