Ansteigende Selbstmordraten und ein mysteriöser Tod
Fijáte 403 vom 06. Feb. 2008, Artikel 5, Seite 5
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Ansteigende Selbstmordraten und ein mysteriöser Tod
Guatemala, 29. Jan. Schon 2006 ging ein Aufschrei durch das Land, als die Medien innerhalb kurzer Zeit von zwei Selbstmorden berichteten: Eine 34jährige Mutter stürzte sich mit ihrer zweijährigen Tochter auf dem Arm von einer Brücke in der Hauptstadt in den Tod - dies wurde in Zusammenhang gestellt mit der Krankenhauskrise und der Bekanntgabe, dass das Sozialversicherungsinstitut (IGSS) selbst chronisch Kranken keine Medikamente mehr ausgeben konnte, die Frau hatte jedoch kein Geld, die Medizin selbst zu zahlen. Und dann wurde bekannt, dass sich ein älterer Herr erschossen hatte, als er erfuhr, dass er im Rahmen der Bankenkrise und des Crashes der Banco de Comercio all seine Kapitalanlagen an ein offshore-Unternehmen verloren hatte. Insgesamt wurden 2006 564 Fälle von Selbstmord registriert. Nun beunruhigen die Zahlen des vergangenen Jahres: 2007 nahmen sich laut offizieller Angaben 734 Personen das Leben, durchschnittlich zwei am Tag. Allein im Januar 2008 hat die Zivile Nationalpolizei (PNC) 33 Selbstmorde registriert. Die meisten Opfer sind Jugendliche. Bei einer Bevölkerungsanzahl von ca. 7,55 Mio. nehmen sich in der Schweiz jährlich zwischen 1.300 und 1.400 Personen das Leben, in Deutschland sind es bei einer Bevölkerung von ca. 82.4 Mio. 11.000 bis 12.000 Personen. Der Direktor der Nationalen Liga für Seelische Hygiene, Marco Antonio Garavito (siehe ¡Fijátes! 372 und 373), bezeichnete den Selbstmord als maximaler Ausdruck der Menschen für das Fehlen seelischer Gesundheit. Gleichzeitig wies er daraufhin, dass die Dunkelziffer völlig uneinschätzbar ist: "Niemand in Guatemala nimmt sich dem Problem an. Zum Bespiel wenn eine Person nach einem versuchten Selbstmord ins Krankenhaus kommt, wird sie von den ÄrztInnen nur medizinisch behandelt, aber weder eine Psychiaterin noch ein Psychologe werden dazu bestellt. Und im Leichenschauhaus herrscht eine ähnliche Ignoranz: Der Pathologe, der die Autopsie bei einem Selbstmordopfer durchführt, lässt einfach das Feld mit der Todesursache offen, wo spezifiziert werden könnte, wie die Person ums Leben gekommen ist. Deswegen gibt es überhaupt keine zuverlässigen Statistiken. Und das trägt dazu bei, dass die Schwere des Problems in der Gesellschaft nicht gesehen wird." In Guatemala sind die häufigsten Selbstmordmethoden Erschiessen, Erhängen und der Sturz in die Tiefe. Die ehemalige Direktorin des Nationalen Plans für seelische Gesundheit, Irma Pérez Alvarado, hat die Erfahrung gemacht, dass in der Gesellschaft das Thema seelische Gesundheit in Verbindung gebracht wird mit Verrücktsein. Dementsprechend wird geglaubt, dass es nur für "Betroffene" relevant ist. "Es gibt hier viele seelisch Kranke", so Pérez Alvarado, "aber da sie keine körperlichen Anzeichen zeigen, unternimmt niemand etwas." In den letzten Tagen war die Rede von einem Selbstmord im Zusammenhang mit dem Tod des 55jährigen Kolumnisten Hugo Alfredo Arce Barillas, dessen kritische und kontroverse Beiträge in diversen Tageszeitungen und in letzter Zeit in der Zeitschrift ¿Y Qué? erschienen sind. Er wurde in einem Hotelzimmer in der Hauptstadt mit einem Schuss ins Herz und einem daneben liegenden Revolver gefunden, als seine Frau ihn aufsuchte, um ihm Tabletten zu bringen, die er zu Hause liegen gelassen hatte. Arce wollte sich an dem Vormittag mit einigen Abgeordneten in dem Hotel treffen. Wenige Tage vorher erzählte er einem Kollegen, dass er plane einen Artikel mit dem Titel "Ich werde mir einen Schuss ins Herz geben" im Internet zu veröffentlichen, denn das System sei es nicht mehr wert und man habe ihn in seinem Kampf allein gelassen. Dieser Artikel wurde von den Medien gleich als Abschiedsbrief bewertet. Gleichzeitig berichtet die Kolumnistin Karen Fischer, ehemalige Staatsanwältin für Korruption, die sich als enge Freundin von Arce bezeichnet, noch am Abend vorher mit diesem über sein neues Buch ¿Y Maura? gesprochen zu haben, das Ende Januar herauskommen sollte. Dabei habe er keineswegs einen depressiven Eindruck gemacht. Nach oben |
Polizei und Staatsanwaltschaft, die zusammen mit den HotelrepräsentantInnen ein völliges Stillschweigen übten und bis zur Verkündung der offiziellen Version der Presse keinen Zugang ins Haus gewährten, gehen aufgrund von Videoaufnahmen des Hotels, auf denen Acre allein gewesen sein soll, und ZeugInnenaussagen von einem Selbstmord aus. Arce nahestehende Personen sowie die JournalistInnenvereinigung von Guatemala (APG) und die internationale Organisation Reporter ohne Grenzen schliessen ein Fremdverschulden jedoch nicht aus und fordern eine gründliche Untersuchung. Seit 2003 und bis zuletzt hatte Arce scharfe Kritik an der Nationalen Einheit der Hoffnung (UNE) und deren ProtagonistInnen geübt. In Folge dessen hatte die Ehefrau des neugewählten Präsidenten Alvaro Colom, Sandra Torres, Ende Dezember Anzeige gegen Arce wegen Beleidigung und Verleumdung eingereicht. Die Verhandlung sollte in den nächsten Tagen beginnen. 2007 war ihm von der Zeitung La Hora nach einer verbalen Auseinandersetzung mit der Abgeordneten der Patriotischen Partei, Roxana Baldetti gekündigt worden. Auffällig ist, dass nach den ersten Nachrichten in den wenigen Tagen nach Arces Tod die Berichterstattung mit der Kolumne von Karen Fischer ganz plötzlich aufhört. Am gleichen Tag kursierte im Internet eine E-Mail mit dem Absender "Hugo Arce" und dem Betreff: "¡YO ACUSO A MIS VICTIMARIOS! - Ich klage meine Mörder an!" Unterzeichnet von "FreundInnen von Hugo und seines Andenkens", wurde diese Nachricht wohl gemäss des Wunsches von Arce im Fall seines plötzlichen Ablebens verschickt und beinhaltet acht Dokumente im Anhang - laut E-Mail zum Teil von Arce selbst vorbereitet. Neben der Kopie von Zeitungsausschnitten über seinen Tod, sind dies die Texte von Arce über Sandra Torres und andere UNE-Leute, inklusive Colom persönlich, und schliesslich über die Tageszeitung Prensa Libre, die Arce ebenfalls ins Visier seiner Kritik genommen hatte. |
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