¡Híjole...! Die monatliche Kolumne von Fernando Suazo: Wem nützt die ganze Scheinheiligkeit?
Fijáte 415 vom 30. Juli 2008, Artikel 6, Seite 6
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¡Híjole...! Die monatliche Kolumne von Fernando Suazo: Wem nützt die ganze Scheinheiligkeit?
Die Meinungsmacher im Dienste der Korporationen und der lokalen Oligarchie geben sich sehr besorgt über den hartnäckigen Widerstand von immer mehr indigenen Gemeinden gegen die "Entwicklungsvorschläge", die ihnen vom Norden oder von mächtigen lokalen Unternehmen gemacht werden. Derweil die "sozialdemokratische" Regierung von Álvaro Colom (so wie der Wolf im Märchen vom Rotkäppchen) nicht länger ihre Stosszähne verbergen kann: Sie zögert nicht, Repression anzuwenden und tausende von PolizistInnen und Soldaten in die Dörfer zu schicken, wenn sich die Bevölkerung den Interessen des lokalen oder transnationalen Kapitals entgegenstellt. So geschehen in San Juan Sacatepéquez. Die dortigen Gemeinden sind von einer sich im Bau befindenden Zementfabrik betroffen. Um sich gegen das Vorhaben des Monopolisten im Zementsektor, Cemento Progreso, zu wehren, griffen sie auf ihr im Gemeindegesetz verankertes Recht zurück und führten Volksabstimmungen durch. Obwohl die Mehrheit der BürgerInnen gegen die Zementfabrik stimmte, machte die Regierung gemeinsame Sache mit dem Unternehmen, das mit dem Bau der Installationen weiterfuhr. Um die vom Volk ausgedrückte Unzufriedenheit zu unterdrücken, schickte die Regierung dreitausend PolizistInnen und Militärangehörige und verhängte den Notstand. Damit wurden einige BürgerInnenrechte eingeschränkt, unter anderem das Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Bevor der Notstand in Kraft trat, wurden auf illegale Weise 43 Personen festgenommen, die nichts anderes taten als ihre Unzufriedenheit über das Zementwerk auszudrücken. In Guatemala ist die Liste der Übergriffe lang, die im Namen einer eigentümlichen Weise, den Fortschritt zu verstehen, begangen werden. Fortschritt heisst zum Beispiel, dass die Unternehmen ungefähr 99% des Gewinns abführen und den Gemeinden und der Bevölkerung gravierende ökologische und kulturelle und manchmal auch gesundheitliche Schäden zurücklassen. Im Gegenzug offerieren sie im besten Fall ein paar Monate lang eine schlecht bezahlte Arbeit unter erniedrigenden Bedingungen. Neben Nachrichten dieser Art beschäftigte sich die guatemaltekische Presse in diesem Monat mit der Ablehnung der von der Europäischen Union dekretierten Richtlinie für die Abschiebung von MigrantInnen. Die MeinungsmacherInnen kritisierten den Rassismus der europäischen Regierungen und warfen ihnen mangelndes Erinnerungsvermögen vor, da sie offenbar die Zeiten vergessen haben, als die EuropäerInnen aus unterschiedlichen Interessen oder Gründen nach Lateinamerika auswanderten, angefangen bei den Geschäftemachern der Eroberung bis zu den Flüchtlingen, die im letzten Jahrhundert durch die politische Situation aus ihren Herkunftsländern vertrieben wurden. Sie alle wurden herzlich aufgenommen, waren in Lateinamerika erfolgreich und viele von ihnen wurden hier mächtige Unternehmer. Europa wird zu Recht Rassismus und mangelndes Erinnerungsvermögen vorgeworfen. Gleichzeitig werden hierzulande aber der Rassismus gegenüber der indigenen Bevölkerung und ihr Wunsch nach Erinnerung ignoriert. Welche guatemaltekische Regierungsinstitution ist frei von Rassismus? Waren es nicht die indigenen Gemeinden, die auf ihren Schultern jegliche Güter des Exportes getragen haben, und zwar seit Guatemala existiert? Was ist mit dieser Erinnerung geschehen? Ich freue mich über die Einstimmigkeit (für ein Mal) der lateinamerikanischen Staatschefs bezüglich der Ablehnung der Richtlinie für die Abschiebung von MigrantInnen. Ich applaudiere den schneidenden Antworten eines Hugo Chávez, der eine "Abschieberichtlinie für europäische Investitionen" vorschlug, oder eines Rafael Correa, der sich überlegt, den Dialog mit Europa abzubrechen, denn es sei "nicht möglich, immer nur von Geschäften zu sprechen und in Sachen Menschenrechte beide Augen zuzudrücken". Nach oben |
Doch ich bin sprachlos gegenüber der Scheinheiligkeit der guatemaltekischen Regierung, wenn es darum geht, die Campesino-Gemeinden und ihre Führungspersonen als Delinquenten zu behandeln, oder darum, die nationalen Ressourcen, die Menschenrechte oder unsere Umwelt gegenüber nationalen oder ausländischen Plünderern zu "verteidigen". Es hiess in den Medien, die guatemaltekische Armee sei in Friedenszeiten ohne definierte Aufgabe. Der Militäranalyst Pedro Trujillo sagte, dass "niemand, nicht einmal der Präsident, der Armee sagen kann, was sie zu tun hat". Aber vorläufig dient sie noch dazu, die BäuerInnen zu bekämpfen, die ihr Land und ihre Lebensgrundlage gegen die nationalen und ausländischen Invasoren verteidigen. Zweifellos heisst es in der guatemaltekischen Verfassung, dass das Militär eine Institution sei, deren Aufgabe es ist, die Unabhängigkeit, die Souveränität und die Ehre Guatemalas zu verteidigen, ebenso die Integrität des Territoriums, den Frieden sowie die innere und äussere Sicherheit (Artikel 244). Apropos nationale Unabhängigkeit: Weshalb setzen sich die USA auf unser Land und mischen sich in unsere Angelegenheiten? Was haben wir davon, sind sie doch die grössten DrogenkonsumentInnen des Planeten? Weshalb beschäftigen sie sich nicht mit der Drogenkontrolle in ihrem Land? Apropos Souveränität: Gilt sie nicht, wenn es um Ernährung geht? Wer kontrolliert die Korporationen, die uns ihr Saatgut, ihren chemischen Dünger und ihre Landwirtschaftspolitik aufdrängen? Weshalb befragt man die guatemaltekische Bevölkerung nicht zu ihrer Meinung, wenn es darum geht, entweder Autos mit Biosprit oder Leute mit Tortillas zu ernähren? Und apropos territoriale Integrität: Sind die Schätze unseres Bodens nicht Teil des nationalen Territoriums? Und unsere Biodiversität? Und unsere Wasservorkommen? Diejenigen, welche die Unabhängigkeit, die Souveränität, die Ehre und die territoriale Integrität verteidigen, was genau verteidigen sie? Oder sitzen sie einfach da und betrachten das Meer, so wie in vergangenen Jahrhunderten auf der Burg San Felipe, von wo aus man den Piraten aus der Karibik den Durchgang verweigern wollte? Sind nicht die transnationalen Unternehmen so etwas wie die neuen Piraten, die unsere Schätze ausbeuten wollen? Sind die imperialen Drohungen tatsächlich mit der Unabhängigkeitserklärung von Spanien im 19. Jahrhundert verschwunden? Wem nützt diese ganze Scheinheiligkeit? |
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