Modernes guatemaltekisches Filmschaffen
Fijáte 417 vom 27. August 2008, Artikel 1, Seite 1
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Modernes guatemaltekisches Filmschaffen
Die Sektion "Open Doors" des diesjährigen Filmfestivals in Locarno widmete sich dem lateinamerikanischen Filmschaffen. Eingeladen waren auch die beiden jungen guatemaltekischen Regisseure Alejo Crisóstomo und Julio Hernández Cordón, ersterer mit zwei Kurzfilmen ("Blanca" und "Qak'aslemal - unsere Existenz") und zweiter mit "Gasolina" (siehe ¡Fijáte! 396). Während "Blanca" in zehn Minuten eine Aneinanderreihung von Klischees zeigte über eine Indígenafrau, die sich während dem Krieg aus Not und um die Augenoperation ihrer Tochter zu finanzieren, zuerst prostituiert und danach den Sohn ihrer Nachbarin, der als pistolenzückender Guerillero dargestellt wird, an die PAC und das Militär verrät, zeigt der halbstündige "Qak'aslemal" eine kommentarlose Serie von farbenprächtigen Kalenderbildern über die Kultur der Mayas - die Zuschauerin wird den Eindruck nicht los, dass die Produktion vom Tourismusinstitut INGUAT gesponsert wurde. Dass Crisóstomo bei der Präsentation seiner Filme fast entschuldigend darauf hinwies, dass er als in der Hauptstadt geborener Mittelschichtsabkömmling erst mit 18 Jahren realisierte, was in seinem Land überhaupt passierte, zeugt von naiver Ehrlichkeit, macht die Sache aber auch nicht besser. Etwas anders verhält es sich mit "Gasolina". Der Film ist weder speziell gut, behandelt kein neues Thema und ist auch filmtechnisch eher im Mainstream. Doch er ist bedrückend und irritierend und hinterlässt ein schales Gefühl, weil sich die Geschichte weder auflöst noch einen Hoffnungsschimmer zulässt. "Gasolina" ist die Story von drei männlichen Jugendlichen, die ihre Zeit mit dem Klauen von Benzin und ziellosen nächtlichen Spritzfahrten verbringen, so wie es die Jugendlichen in vielen Grossstädten tun. Als sie dabei ein indigenes Paar an- bzw. überfahren, giessen sie Benzin über den toten Mann und zünden die Leiche an. Eine simple Geschichte, wie sie täglich in den guatemaltekischen Zeitungen zu lesen ist... Die ¡Fijáte!-Redaktion nutzte die Anwesenheit des Regisseurs in Locarno für ein Interview, aus dem ersichtlich wird, dass Julio Hernández sehr wohl gesellschaftliche und politische Fragen im Hinterkopf hatte, als er seinen Film machte. Frage: Du hast einen grossen Teil deines Lebens ausserhalb Guatemalas verbracht und hast in Mexiko deine Ausbildung als Filmemacher genossen - weshalb bist du nach Guatemala zurückgekehrt, ein Land ohne jegliche filmische Tradition? Julio Hernández Cordón: Ich stamme aus einer stark entwurzelten Familie. Mein Grossvater ging nach Mexiko, als Arbenz gestürzt wurde, und heiratete eine Mexikanerin. Ein Teil der Familie meines Vaters lebte in Mexiko, ein anderer Teil in Guatemala. Meine Mutter ist Guatemaltekin. Ich kam in den USA zur Welt, mit zwei Jahren siedelten wir nach Mexiko über, und jedes Jahr zu Weihnachten fuhren wir nach Guatemala in die Ferien. Meine guatemaltekischen Wurzeln habe ich erst mit ca. 25 Jahren entdeckt, obwohl wir nach Guatemala zurückkehrten, als ich siebzehn war. Mein Grossvater sagte mir, dass ich Guatemalteke sei und in Guatemala leben sollte, aber ich hörte damals nicht auf ihn. Als ich dann später wieder nach Mexiko ging, um meine Ausbildung zu machen, fühlte ich mich plötzlich mehr Guatemalteke als Mexikaner. Ich merkte, dass die Geschichten, die ich für meine Drehbücher schrieb, in meiner Vorstellung in Guatemala spielten, und ich merkte auch, dass ich mich in Guatemala wohler fühlte als in Mexiko. Meine Frau ist ebenfalls eine in Mexiko aufgewachsene Guatemaltekin. Frage: Bis vor kurzem setzten sich mit wenigen Ausnahmen Filme über oder aus Guatemala mit der Geschichte des bewaffneten Konflikts auseinander. Spielfilme sind an einer Hand abzuzählen. Würdest du deinen Film - ein Spielfilm wohlbemerkt - als politisch bezeichnen? J.H.C.: Ja. Meine Filme sind sehr persönlich und ehrlich. Eine Geschichte aus Guatemala zu erzählen, ist jedoch immer politisch. Auch wenn es nicht offensichtlich ist, widerspiegeln die Geschichten einen Teil der Realität. Ich hasse platte oder moralistische Darstellungen. Aber ich glaube, dass ich mit meinen Geschichten und durch meine Figuren die aktuelle politische Situation darstelle. In "Gasolina" zeige ich eine Stadt, in der nach 21.30 Uhr kein öffentlicher Verkehr mehr fährt, die Strassen sind dunkel und verlassen. Der Film verzichtet auf Musik, und trotzdem gibt es eine permanente Geräuschkulisse: Schüsse, die irgendwo in die Luft abgegeben werden. Das ist ein Abbild der Realität, in der ich lebe. Ich höre jede Nacht Schüsse und habe mich unterdessen so daran gewöhnt, als wäre es Vogelgezwitscher. Im Film geht es - ich will jetzt nicht den Schluss verraten - auf sehr subtile Art um Intoleranz, um Rassismus, um Straflosigkeit. Die Jugendlichen wissen genau, dass sie so handeln können wie sie handeln, ohne dass ihnen etwas passieren wird. Frage: Wie bist du zu der Geschichte gekommen? J.H.C.: Die Geschichte geschah in ähnlicher Weise in der Clique, mit der ich damals umherzog, als ich 1993 nach Guatemala zurückgekommen bin. Es waren Jugendliche aus gutem Haus, die das Gymnasium besuchten. Wir fuhren nachts um zwei Uhr auf dem Boulevard Vista Hermosa - zwei Typen überquerten die Strasse - wir fuhren sie an - ich sass auf dem Hintersitz - unser Fahrer machte eine Kehrtwende und fuhr zurück bis zu einer Tankstelle - meine Kollegen stiegen aus und begannen, die beiden Männer zu verprügeln - es waren ein Vater mit seinem Sohn, dem Aussehen nach Indígenas, die als Maurer oder Bauern arbeiteten - meine Kollegen schlugen sie und sagten zu ihnen: Wir prügeln euch, damit ihr lernt, die Strasse zu überqueren. Ich war völlig schockiert. Ich kam damals aus Costa Rica, dort kennt man solches nicht. Was mich am meisten schockierte, war das Verhalten der Leute an der Tankstelle, die einfach zuschauten und nichts machten. Weshalb? Weil wir Ladinos aus besserem Haus waren und sie Angst vor uns hatten. Zwei Tage später hörte ich auf, mit diesen "Freunden" auszugehen. Dies ist der Ursprung der Geschichte von "Gasolina". Frage: Die Protagonisten deines Filmes sind Jugendliche. "Die Jugend" in Guatemala ist ein eher heikles Thema. Wir haben auf der einen Seite die famosen "Maras", die Jugendbanden, und auf der anderen Seite eine eher apolitische Jugend. Welches Bild der guatemaltekischen Jugend willst du mit deinem Film darstellen? Nach oben |
J.H.C.: Ich zeige ein aktuelles Bild der guatemaltekischen Jugend. Die Jungs reden miteinander, aber sie reden über nichts. Sie sprechen, aber sie sagen nichts. Es läuft nichts, aber gleichzeitig geschieht vieles. Die Langeweile. Ich versuche darzustellen, dass die Gewalt in Guatemala nicht nur krimineller Art ist, sondern dass auch die Ignoranz dem Anderen gegenüber eine Form von Gewalt ist. Die Art, wie wir sprechen, kann gewalttätig sein. Im Film kommen dreihundert Mal die Begriffe "cerote" (Scheisskerl), "pisado" (Dreckstück) und "hijo de puta" (Hurensohn) vor. Die Begriffe werden völlig grundlos gebraucht, und das ist im höchsten Masse gewalttätig. So zu sprechen, ist alltäglich, und wir empfinden es als eine normale Umgangsform. - Mein Wunsch wäre, dass dieser Film den Dialog und die Diskussion fördern würde. Frage: Wurde der Film in Guatemala schon gezeigt? J.H.C.: Ich hoffe, dass er ab Ende Oktober läuft. Die Erwartungen sind gross und ich habe etwas Angst, denn er wird sicher sehr kritisch betrachtet werden. Er wird einerseits in den Kinos gezeigt, aber ich habe auch eine mündliche Abmachung mit der Regierung, die mich unterstützt hat, damit ich nach Europa zur Fertigstellung des Filmes reisen konnte. Ich habe meine Bereitschaft erklärt, bei den Vorführungen anwesend zu sein und über den Film zu sprechen. Wir haben das bereits gemacht mit Jugendlichen, die an Projekten der "Soros-Foundation" und von "Save the Children" teilnehmen und es gab sehr interessante Diskussionen. Frage: Wie konntest du den Film finanzieren? J.H.C.: Ich verwendete u.a. das Geld eines Preises, den ich gewann. Dann erhielt ich Unterstützung eben von "Soros" und "Save the Children", sowie andere Förderbeiträge. Ausserdem spendeten 30 guatemaltekische KünstlerInnen ihre Werke, die wir versteigerten, womit weitere rund 20'000 US-$ zusammen gekommen sind. Die Nachproduktion finanzierte ich mit einem Preis, den ich beim Filmfestival in San Sebastian gewann, wo ich den Film als work-in-progress zeigte. Frage: Bedeutet diese grosszügige Unterstützung seitens guatemaltekischer KünstlerInnen, dass es eine Szene moderner KünstlerInnen gibt, die sich kennt, die zusammenarbeitet, die sich gegenseitig unterstützt? J.H.C.: Als ich mit dem Film begann, überlegte ich mir, wer die entsprechende Sensibilität hat, mich zu unterstützen. Ein guatemaltekischer Unternehmer sicher nicht. So landete ich schnell bei den KünsterInnen, denn sie wissen, was künstlerisches Schaffen in Guatemala bedeutet. Normalerweise geht es den bildenden KünsterInnen am besten, denn auch wenn sie kein Geld haben, können sie Unterstützung leisten in Form einer Skulptur oder eines Bildes, das verkauft werden kann. Von den dreissig kannte ich ursprünglich nur drei, den anderen habe ich mein Projekt vorgestellt, bin drangeblieben, habe gestupft und gebohrt und sie schliesslich überzeugen können. Frage: Wann können wir den ersten guatemaltekischen Film erwarten, der von einem oder einer Indígena gemacht wurde? J.H.C.: Diesbezüglich bin ich pessimistisch. Was in Guatemala fehlt, ist Information. Wenn es schon für einen Ladino schwierig ist, einen Film zu realisieren, ist es für eineN Indígena fast unmöglich. Guatemala besteht aus zwei Welten: die Hauptstadt und das Landesinnere, und da haben wir dann noch den Unterschied zwischen dem westlichen Hochland und den östlichen Landesteilen. Während der Regierung von Alfonso Portillo gab es ja diesen Versuch eines indigenen Fernsehkanals. Das ist eine wunderbare Idee, kann aber unmöglich funktionieren, wenn von der Regierung nicht gleichzeitig Geld zur Verfügung gestellt wird, um den Sender auch zu betreiben. Das Projekt war deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt. Frage: Auch dein Film ist sehr auf das Leben in der Hauptstadt bezogen, und es wird schwierig sein, ihn ins Landesinnere zu "exportieren". J.H.C.: Ich weiss nicht. Der Film ist sehr hauptstädtisch, weil ich ehrlich sein und das erzählen wollte, was ich kenne, und das ist nun mal das Leben in der Hauptstadt. In Guatemala gibt es viele Themen, die filmisch bearbeitet werden könnten, aber ich glaube, man merkt, wenn jemand einen Film macht über etwas, das er oder sie nicht wirklich kennt. Ich will keinen sozialen Tourismus machen mit einem Film, sondern das erzählen, was ich kenne. Ich kann mir aber durchaus vorstellen, dass sich die Leute im Landesinnern, die Indígenas, mit dem Ende meines Filmes identifizieren können. Mit dem Thema der Straflosigkeit, dem Rassismus der Ladinos gegenüber den Indígenas. Es gibt diese Szene im Film, wo die indigene Frau die Jugendlichen auf Quiché anfleht, ihr nichts anzutun. Sie spricht ins Leere, weil die Jungs sie nicht verstehen können oder wollen - eine Situation, die alle Indígenas kennen. Auch das Thema der Straflosigkeit, das mit keinem Wort direkt benannt wird - aber ich bin sicher, dass es bei dieser Szene bei allen Leuten "Klick" machen wird. Wenn ich "alle" sage, meine ich sowohl die Ladinos mit ihrem Rassismus wie auch die Indígenas, die z.B. mit den Lynchmorden etwas ganz ähnliches machen. Frage: Hast du schon ein nächstes Projekt? J.H.C.: Mein nächster Spielfilm wird über die Exhumierungen in Comalapa sein. Es geht um einen Ladino, der mit diesen Exhumierungen zu tun hat. Die Hälfte des Films wird in Spanisch gesprochen sein, die andere Hälfte in Kaqchiquel. Auch dieser Film geht von meinen eigenen Erfahrungen aus, denn ich habe einen Teil der Exhumierungen in Comalapa dokumentiert. Es wird aber noch eine Weile dauern, denn im Moment bin ich erst am Schreiben des Drehbuches. Viel Erfolg und herzlichen Dank für das Gespräch! |
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