"Wir leben inmitten einer grossen Konfusion"
Fijáte 436 vom 03. Juni 2009, Artikel 1, Seite 1
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"Wir leben inmitten einer grossen Konfusion"
Die Krise rund um den "Fall Rosenberg" löste verschiedene Ausdrucksformen sozialer Unzufriedenheiten aus bis hin zu Zusammenstössen zwischen einzelnen Sektoren. Ist dies der Beginn neuer sozialer Bewegungen? Erwacht in Guatemala ein neues staatsbürgerliches Bewusstsein? Oder ist das Land einmal mehr vollkommen polarisiert? Diese Fragen beantwortet im folgenden Interview der Soziologe, Schriftsteller und Journalist Mario Roberto Morales. Morales hat über Demokratie, Kultur, Bildung und soziale Bewegungen geschrieben und ist u.a. Autor des Buches "La articulación de las diferencias ó el síndrome de Maximón", in dem er ein populäres Mestizentum, bzw. ein "allgemeines interethnisches Subjekt" beschreibt. Das für den ¡Fijáte! gekürzte, nachfolgende Interview erschien am 22. Mai 2009 in der Beilage "Revista" der Tageszeitung Diario de Centro América. Frage: In diesen Tagen geht alles drunter und drüber. Wer sind die sozialen Bewegungen, die auf die Strasse gehen und protestieren? Mario Roberto Morales: Um die Dynamik der sozialen Bewegungen in Guatemala zu erklären, muss man einen Blick zurück in die Entstehungsgeschichte der heutigen sozialen Bewegungen werfen. Es begann mit der Unterzeichnung der Friedensabkommen, die allein aufgrund des Druckes der UNO zustande kamen. Man wollte dem transnationalen Kapital die Tür öffnen, und dazu musste der Krieg beendet werden. Nach den Friedensabkommen floss denn auch prompt das Kapital ins Land, und die Oligarchie wurde zum Junior-Partner der Transnationalen. Nach den Friedensabkommen ersetzte der damalige Präsident Alvaro Arzú die staatlichen Wirtschaftspläne durch Finanzierungsbeiträge aus der internationalen Zusammenarbeit. Ein Effekt dieser Art von internationaler Zusammenarbeit ist die Zersplitterung der Zivilgesellschaft, die nicht mehr in der Lage ist, eine einheitliche Vorstellung von Staat zu entwickeln. Die Mystik der sozialen Bewegungen ist zerstört, und niemand nimmt mehr an einer Mobilisierung teil, ohne dass man ihn oder sie dafür bezahlt oder ihnen mindestens den Transport und das Mittagessen spendiert. Die sozialen Bewegungen haben ihre emanzipatorische Dimension verloren. Frage: Das heisst, heute dreht sich alles ums Geld? M.R.M.: Das Positive ist, dass die Kooperation endlich realisiert hat, was sie mit ihrer Hilfe bewirkt und dass sich die Situation ihrer Begünstigten nicht substantiell verbessert hat. Die sozialen Bewegungen können am ehesten mit dem postmarxistischen Konzept der "neuen sozialen Bewegungen" umschrieben werden. Es geht ihnen nicht mehr um Machtübernahme, sondern darum, dass sie teilhaben können an den Vorteilen und Rechten, die ihnen als BürgerInnen zustehen. Es geht weder darum, die Welt noch die Strukturen zu verändern, sondern darum, zu gleichberechtigten Bedingungen ein Stück vom Kuchen zu bekommen. Frage: Gilt das auch für die Bewegungen, die sich jetzt rund um den "Fall Rosenberg" mobilisieren? M.R.M.: Auf der einen Seite sind sie, leider, bezahlt. Und auf der anderen Seite sind es vor allem Familienangehörige und FreundInnen, die da mobilisiert werden. Mit dem "Fall Rosenberg" hat die Rechte ihren Gerardi, ihren Märtyrer bekommen. Er war der Inbegriff eines erfolgreichen und vermögenden Mannes, eines guten Bürgers, der aus einer guten Familie stammt. Ich will nicht darüber spekulieren, wem und weshalb sein Tod etwas nützt, das ist Stoff für einen Thriller, der jenen über Gerardi noch überbietet. Doch nun gibt es diese Mobilisierungen: Auf der einen Seite bietet die Regierung Leute auf, auf der anderen organisiert sich die Bourgeoisie und die bessergestellte Mittelklasse über die elektronischen Medien (Eine Facebook-Gruppe unter dem Namen "Staatsstreich" hatte in kürzester Zeit 36'000 Mitglieder, die Red.). Frage: Aber die "Pro-Rosenbergs" vereint nicht das Geld… M.R.M.: Sie sind aber auch keine soziale Bewegung, sondern ein Klassen-Phänomen. Die Rechte will Präsident Colom stürzen seit er an der Macht ist, weil sie glaubt, dass er ein Linker sei. Seit die Linke in El Salvador die Wahlen gewonnen hat, wächst die Angst, dass in Guatemala etwas Ähnliches geschehen könnte - wobei die aktuelle guatemaltekische Regierung nie linker sein wird, als sie im Moment ist. Das Märtyrertum von Rosenberg kommt der Rechten gelegen, es ist der beste Vorwand, um die Regierung zu stürzen. Man geht subtiler vor, wie der UnternehmerInnenverband CACIF, der dazu aufruft, den Rechtsstaat zu wahren und die Internationale Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) auf den Plan ruft in der Hoffnung, dass deren Untersuchung Colom für schuldig oder verantwortlich erklärt. Ob er es ist oder nicht, das weiss ich nicht, aber seine Existenz steht auf der Kippe. Ich denke, es ist zum jetzigen Zeitpunkt ein Fehler, sich pro oder contra zu stellen. Frage: Haben die Menschen in Guatemala ein Bewusstsein? Hat Guatemala ein Bewusstsein? M.R.M.: Nein. Guatemala durchläuft seit 1954 einen Rückschritt in Sachen Bildung, erwachsene Personen sind heute weniger gebildet als noch vor 20 Jahren. Ihre Fähigkeit zur Analyse und zur Kritik ist gering. Die jungen Menschen von heute können praktisch nicht mehr lesen. Sie leiden unter einer Art Gehirnschwund, was es ihnen verunmöglicht, geschriebene Codes zu entschlüsseln. Seit ihrer Kindheit sitzen sie vor dem Fernseher. Die Leute haben auch verlernt, in Zusammenhängen zu denken, sie bringen die verschiedenen Themen oder Probleme nicht zusammen. Frage: Sprechen wir über die Angst, uns mit uns selber zu konfrontieren… M.R.M.: Wir haben Angst vor unserem Mestizentum. Das meine ich, wenn ich vom "Maximón-Syndrom" spreche. Unsere kulturelle und identifikatorische Spaltung beruht immer noch auf Konzepten der Kolonialisierung: Indios und Ladinos. Doch die heutige Durchmischung in Guatemala kann längst nicht mehr in diese beiden Kategorien eingeteilt werden. Rigoberta Menchú ist ebenso Mestizin wie es Alvaro Arzú ist. Das heisst nicht, dass die beiden gleich sind; ihr jeweiliges Mestizentum ist durchaus kulturell, ökonomisch, sprachlich etc. unterschiedlich geprägt. Wir haben immer noch nicht gelernt, mit der Geschichte unserer Gesellschaft umzugehen, uns damit zu befassen, wie die heute existierenden Spaltungen entstanden sind. Die guatemaltekischen Intellektuellen sollten sich mit der Geschichte des Mestizentums beschäftigen. Wie entstanden die Ladinos? Wie entstanden die Criollos? Das Problem ist, dass man immer alles in schwarz und weiss unterteilen will, aber so einfach ist das nicht, und das macht das Mestizentum so kompliziert. Nach oben |
Frage: Sie beschreiben die kulturelle Kreuzung, aber wie steht es mit der Ideologie? M.R.M.: Auch da wird nur in schwarz und weiss gedacht. Deshalb schlage ich das "allgemeine interethnische Subjekt" vor, ein Individuum, das sich bewusst ist, dass sich unsere Verschiedenheiten irgendwie artikulieren müssen. Man hat mich oft missverstanden und mir Gleichmacherei unterstellt. Das stimmt nicht. Wir sind alles MestizInnen, aber wir sind sehr verschieden. Frage: Sie haben kürzlich geschrieben, es gebe Menschen, die Angst vor der Demokratie hätten. M.R.M.: Natürlich gibt es das. Zum Beispiel die Oligarchie, ihr Diskurs ist demokratisch, aber sollte sich eines Tages die Demokratie in Guatemala durchsetzen, verliert die Oligarchie ihre Privilegien. Wir leben in einem zurückgebliebenen Kapitalismus, in einem Kapitalismus der Grossgrundbesitzer. Den Kapitalismus zu demokratisieren bedeutet, dass es immer mehr Kapitalisten gibt. Aber in Guatemala gibt es schon genügend von ihnen! Deshalb prallen der neue Kapitalismus und der Kapitalismus der Oligarchen so heftig aufeinander. Den Oligarchen passt diese Zurückgebliebenheit, und um diese zu bewahren, greifen sie auf die Gewalt zurück. Frage: Und was macht die Linke? M.R.M.: Es gibt sie noch, aber sie ist besiegt, und ihre wenigen Vertreter sind schon alt. Ich sage zu den jungen Leuten, die bei mir studieren, dass es nötig sei, eine Generation von Intellektuellen zu schaffen. Radikale und kritische Intellektuelle, die in der Lage sind, an die Wurzeln der Probleme zu gehen und die ihr Urteilsvermögen einsetzen können. Die Kritik, das sagte schon José Martí, ist der Ausdruck des Urteilsvermögens, und wer eine eigene Meinung hat, ist ein freier Mensch. Aber die Leute sind aufgeweicht vom medialen Konsumismus und sind unfähig, die Gesamtheit zu sehen. Frage: Hat denn die Regierung das Gesamte im Blick? M.R.M.: Das intellektuelle Niveau ist auch dort sehr schwach. Es gibt ein paar Junge innerhalb der Regierung, die es gut meinen, und da sehe ich ein gewisses Potential. Aber es ist schwierig, in einem Land eine Regierung aufzubauen, das seit Jahrzehnten ein solch schlechtes Bildungsniveau hat. Wir haben ganze Generationen schlecht ausgebildeter Leute. Man beginnt zu improvisieren, die Maschinerie läuft von selber, und die Menschen passen sich dem Rhythmus der Maschinen an. Sie können nur noch die bestehende Krise verwalten, eine Krise, die nun schon zu lange andauert. Es fehlt an Kontinuität in der Regierung, an einem Wirtschaftplan, der uns alle einbindet in die Arbeit, ins Lohnsystem, in den Konsum. Danach müsste ein Plan zur Modernisierung des Staates folgen in dem Sinne, dass es uns nicht mehr egal ist, wer in diesem Land an der Macht ist. Es braucht einen politischen Pakt, in den alle sozialen Klassen involviert sind, selbst die Oligarchie. Frage: Manchmal scheint es, als wären wir in der Zeit stehengeblieben. Wann haben wir den Pausenknopf gedrückt? M.R.M.: In den 60er Jahren. Aber eher als "stehengeblieben" scheint mir, dass wir in einer lange anhaltenden Konfusion leben. Die Rhetorik der Linken stammt aus den 60er Jahren, die Rechten haben den demokratischen Diskurs den Neoliberalen überlassen: Den Staat abschaffen bzw. ihn zum Polizisten machen, der nur noch das Gesetz hütet. Das Gesetz, das SIE schützt. Und nun haben sie Angst, dass es einen Linksrutsch gibt wie in anderen lateinamerikanischen Ländern. In Guatemala fehlt es an linken Persönlichkeiten, und trotzdem wollen die Rechten Colom stürzen, denn sie fürchten einen populistischen Umschwung. Frage: Kann der "Fall Rosenberg" Ausschlag für eine soziale Krise sein? M.R.M.: Ich glaube nicht. Alle rufen dazu auf, die Institutionalität zu bewahren. Der CACIF hofft auf eine Verurteilung und Diskreditierung von Colom, womit das UnternehmerInnentum sich den nächsten Wahlsieg garantiert hätte. In diesem Sinn ist der "Fall Rosenberg" ein harter Schlag für Colom, und es ist noch nicht klar, ob er sich davon erholen wird. Frage: Wie geht es weiter? M.R.M.: In dieselbe Richtung - noch mehr Chaos. Frage: Wird sich die guatemaltekische Bevölkerung wehren? M.R.M.: Kurzfristig würde ich das bezweifeln. Jene Länder, denen es gelungen ist, Einheit trotz Vielfalt zu erreichen, hatten Wirtschaftspläne, welche die gesamte Bevölkerung einbezogen, und ein Bildungssystem, das die Menschen mit ihrer Geschichte konfrontierte. Solange dies nicht der Fall ist, werden die Leute weiterhin apathisch sein und sich nicht artikulieren. Ich denke nicht, dass im "Fall Rosenberg" noch viel geschieht, aber er wird im Gedächtnis der Menschen nicht ein kritisches Bewusstsein, sondern vielmehr das Gefühl von Unbehagen und Frustration hinterlassen. Auch daraus kann vielleicht irgendwann etwas entstehen. Ich habe so etwas wie ein mystisches Vertrauen in die Konjunktur. Frage: Vielleicht verunmöglicht es die aktuelle Konjunktur, die strukturellen Probleme dahinter zu sehen? M.R.M.: Man muss die Dialektik zwischen dem Allgemeinen und dem Spezifischen verstehen, das ist nicht immer einfach. Die Situation in Guatemala ist ernst, die vereinfachenden Diskurse greifen nicht. Ich sage immer, "ich ziehe es vor, etwas zur allgemeinen Enttäuschung beizutragen, als falsche Hoffnungen zu wecken". Aber man soll auch nicht verzweifeln. Frage: In Guatemala ist diese "allgemeine Enttäuschung" weit verbreitet. M.R.M.: Es gibt auch wenig Grund, optimistisch zu sein. Ich glaube an mein Land, wenn ich involviert bin, wenn ich Arbeit habe, meine Kinder zur Schule gehen können, das ist die Grundlage des Patriotismus. Doch die Situation der meisten Menschen verschlechtert sich, die Leute drehen sich im besten Fall im Kreis. Doch seit ich meiner Generation den Rücken zugedreht habe und mit der Jugend arbeite, sehe ich Unruhe und Enthusiasmus, das freut mich. In Guatemala gibt es keinen Kontakt zwischen den Generationen. Jede für sich glaubt, sich in der Vorhölle zu befinden. Frage: Und jede Generation wiederholt die Fehler ihrer VorgängerInnen. M.R.M.: Genau, denn ganz ist dieser Generationenbruch eben doch nicht, sondern man gibt sich den Platz in der Vorhölle immer weiter. Ich sage immer, Guatemala ist ein karmatisches Land, und man ist hier, um sein Karma zu bezahlen. Doch wenn wir es abbezahlt haben, werden wir in der Schweiz wiedergeboren… |
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