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"Wir leben inmitten einer grossen Konfusion"

Fijáte 436 vom 03. Juni 2009, Artikel 1, Seite 1

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"Wir leben inmitten einer grossen Konfusion"

Frage: Sie beschreiben die kulturelle Kreuzung, aber wie steht es mit der Ideologie?

M.R.M.: Auch da wird nur in schwarz und weiss gedacht. Deshalb schlage ich das "allgemeine interethnische Subjekt" vor, ein Individuum, das sich bewusst ist, dass sich unsere Verschiedenheiten irgendwie artikulieren müssen. Man hat mich oft missverstanden und mir Gleichmacherei unterstellt. Das stimmt nicht. Wir sind alles MestizInnen, aber wir sind sehr verschieden.

Frage: Sie haben kürzlich geschrieben, es gebe Menschen, die Angst vor der Demokratie hätten.

M.R.M.: Natürlich gibt es das. Zum Beispiel die Oligarchie, ihr Diskurs ist demokratisch, aber sollte sich eines Tages die Demokratie in Guatemala durchsetzen, verliert die Oligarchie ihre Privilegien. Wir leben in einem zurückgebliebenen Kapitalismus, in einem Kapitalismus der VGGrossgrundbesitzerNF. Den Kapitalismus zu demokratisieren bedeutet, dass es immer mehr Kapitalisten gibt. Aber in Guatemala gibt es schon genügend von ihnen! Deshalb prallen der neue Kapitalismus und der Kapitalismus der Oligarchen so heftig aufeinander. Den Oligarchen passt diese Zurückgebliebenheit, und um diese zu bewahren, greifen sie auf die Gewalt zurück.

Frage: Und was macht die Linke?

M.R.M.: Es gibt sie noch, aber sie ist besiegt, und ihre wenigen Vertreter sind schon alt. Ich sage zu den jungen Leuten, die bei mir studieren, dass es nötig sei, eine Generation von Intellektuellen zu schaffen. Radikale und kritische Intellektuelle, die in der Lage sind, an die Wurzeln der Probleme zu gehen und die ihr Urteilsvermögen einsetzen können. Die Kritik, das sagte schon José Martí, ist der Ausdruck des Urteilsvermögens, und wer eine eigene Meinung hat, ist ein freier Mensch. Aber die Leute sind aufgeweicht vom medialen Konsumismus und sind unfähig, die Gesamtheit zu sehen.

Frage: Hat denn die Regierung das Gesamte im Blick?

M.R.M.: Das intellektuelle Niveau ist auch dort sehr schwach. Es gibt ein paar Junge innerhalb der Regierung, die es gut meinen, und da sehe ich ein gewisses Potential. Aber es ist schwierig, in einem Land eine Regierung aufzubauen, das seit Jahrzehnten ein solch schlechtes Bildungsniveau hat. Wir haben ganze Generationen schlecht ausgebildeter Leute. Man beginnt zu improvisieren, die Maschinerie läuft von selber, und die Menschen passen sich dem Rhythmus der Maschinen an. Sie können nur noch die bestehende Krise verwalten, eine Krise, die nun schon zu lange andauert. Es fehlt an Kontinuität in der Regierung, an einem Wirtschaftplan, der uns alle einbindet in die Arbeit, ins Lohnsystem, in den Konsum. Danach müsste ein Plan zur Modernisierung des Staates folgen in dem Sinne, dass es uns nicht mehr egal ist, wer in diesem Land an der Macht ist. Es braucht einen politischen Pakt, in den alle sozialen Klassen involviert sind, selbst die Oligarchie.

Frage: Manchmal scheint es, als wären wir in der Zeit stehengeblieben. Wann haben wir den Pausenknopf gedrückt?

M.R.M.: In den 60er Jahren. Aber eher als "stehengeblieben" scheint mir, dass wir in einer lange anhaltenden Konfusion leben. Die Rhetorik der Linken stammt aus den 60er Jahren, die Rechten haben den demokratischen Diskurs den Neoliberalen überlassen: Den Staat abschaffen bzw. ihn zum Polizisten machen, der nur noch das Gesetz hütet. Das Gesetz, das SIE schützt. Und nun haben sie Angst, dass es einen Linksrutsch gibt wie in anderen lateinamerikanischen Ländern. In Guatemala fehlt es an linken Persönlichkeiten, und trotzdem wollen die Rechten Colom stürzen, denn sie fürchten einen populistischen Umschwung.

Frage: Kann der "Fall Rosenberg" Ausschlag für eine soziale Krise sein?

M.R.M.: Ich glaube nicht. Alle rufen dazu auf, die Institutionalität zu bewahren. Der CACIF hofft auf eine Verurteilung und Diskreditierung von Colom, womit das UnternehmerInnentum sich den nächsten Wahlsieg garantiert hätte. In diesem Sinn ist der "Fall Rosenberg" ein harter Schlag für Colom, und es ist noch nicht klar, ob er sich davon erholen wird.

Frage: Wie geht es weiter?

M.R.M.: In dieselbe Richtung - noch mehr Chaos.

Frage: Wird sich die guatemaltekische Bevölkerung wehren?

M.R.M.: Kurzfristig würde ich das bezweifeln. Jene Länder, denen es gelungen ist, Einheit trotz Vielfalt zu erreichen, hatten Wirtschaftspläne, welche die gesamte Bevölkerung einbezogen, und ein Bildungssystem, das die Menschen mit ihrer Geschichte konfrontierte. Solange dies nicht der Fall ist, werden die Leute weiterhin apathisch sein und sich nicht artikulieren. Ich denke nicht, dass im "Fall Rosenberg" noch viel geschieht, aber er wird im Gedächtnis der Menschen nicht ein kritisches Bewusstsein, sondern vielmehr das Gefühl von Unbehagen und Frustration hinterlassen. Auch daraus kann vielleicht irgendwann etwas entstehen. Ich habe so etwas wie ein mystisches Vertrauen in die Konjunktur.

Frage: Vielleicht verunmöglicht es die aktuelle Konjunktur, die strukturellen Probleme dahinter zu sehen?

M.R.M.: Man muss die Dialektik zwischen dem Allgemeinen und dem Spezifischen verstehen, das ist nicht immer einfach. Die Situation in Guatemala ist ernst, die vereinfachenden Diskurse greifen nicht. Ich sage immer, "ich ziehe es vor, etwas zur allgemeinen Enttäuschung beizutragen, als falsche Hoffnungen zu wecken". Aber man soll auch nicht verzweifeln.

Frage: In Guatemala ist diese "allgemeine Enttäuschung" weit verbreitet.

M.R.M.: Es gibt auch wenig Grund, optimistisch zu sein. Ich glaube an mein Land, wenn ich involviert bin, wenn ich Arbeit habe, meine VGKinderNF zur Schule gehen können, das ist die Grundlage des Patriotismus. Doch die Situation der meisten Menschen verschlechtert sich, die Leute drehen sich im besten Fall im Kreis. Doch seit ich meiner Generation den Rücken zugedreht habe und mit der Jugend arbeite, sehe ich Unruhe und Enthusiasmus, das freut mich. In Guatemala gibt es keinen Kontakt zwischen den Generationen. Jede für sich glaubt, sich in der Vorhölle zu befinden.

Frage: Und jede Generation wiederholt die Fehler ihrer VorgängerInnen.

M.R.M.: Genau, denn ganz ist dieser Generationenbruch eben doch nicht, sondern man gibt sich den Platz in der Vorhölle immer weiter. Ich sage immer, Guatemala ist ein karmatisches Land, und man ist hier, um sein Karma zu bezahlen. Doch wenn wir es abbezahlt haben, werden wir in der VGSchweizNF wiedergeboren…


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