Hijóle, die monatliche Kolumne von Fernando Suazo: Haiti oder - vielleicht - Guatemala
Fijáte 454 vom 17. Februar 2010, Artikel 8, Seite 5
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Hijóle, die monatliche Kolumne von Fernando Suazo: Haiti oder - vielleicht - Guatemala
Ich habe kürzlich mit einem guatemaltekischen Bauern indigener Herkunft Spanien bereist. In den öffentlichen Verkehrsmitteln (Flugzeug, Zug, Bus und Metro), in den ordentlichen und sauberen Pärken und Strassen, in den Büros der staatlichen Institutionen versuchte ich das Schweigen, die Worte und die Fragen meines Gefährten zu deuten. Uns beide versetzte der brennende Kontrast zu den schmutzigen und unfreundlichen Strassen und Transportmitteln in unserem Land und zur Korruption und Ineffizienz der guatemaltekischen BeamtInnen in Staunen und Verzweiflung. Ebenso entdeckte ich in mir Gefühle von Unterlegenheit wenn nicht gar Schuld wegen meiner Existenz eines "Unterentwickelten". Wenn ich nicht gesehen hätte, mit welcher Natürlichkeit die Leute ihren "Luxus" konsumieren, wäre ich versucht gewesen, ständig um Erlaubnis zu bitten, ihre Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, die in unserem Land so unerreichbar sind, oder mich zu bedanken, nachdem ich sie benutzt habe. Dieses ungesunde Gefühl von Unterlegenheit ist das Resultat einer Kultur des "Habens" im Gegensatz zu einer Kultur des "Seins". In dieser Kultur des Habens sind wir Armen unterlegen und selber schuld daran. Doch auch wir "Unterentwickelten" des Südens sind Subjekte: Wir sind Gedächtnis und verkörpern ersehnte Utopien. Das Gedächtnis einer nicht quantifizierbaren, ununterbrochenen Ausbeutung seit der Conquista, welche die industrielle Revolution und die Ausbreitung des Kapitalismus im Norden erst möglich gemacht haben. Das Gedächtnis an die Europäer, die unsere Völker ihrer sozialen und politischen Rechte beraubten (welche in Europa so hoch gehalten werden) und unsere Vorfahren von den monetären Beziehungen ausschlossen und sie schamlos ausbeuteten, indem sie ein Konzept von "Rasse" schufen; wir wurden als die unterlegene "Rasse" stigmatisiert (Ernest Mandel). Wir sind Subjekte und verfolgen die Utopie einer neuen sozialen Ordnung, in der ein würdevolles Leben möglich ist und in der wir uns alle wie Subjekte begegnen. Während dem Flug in der Touristenklasse wurden uns gleichzeitig mit der Mahlzeit tragische Bilder von der Katastrophe in Haiti serviert. Es waren und sind Bilder, die ein steriles Mitleid erregen mit diesen "andern" weit entfernten Menschen. Aber diese Bilder verdecken den Subjektstatus der Menschen: Ihre Geschichte als Sklaven und Widerständische, ihre legitimen Hoffnungen auf Würde. Der Schriftsteller Frei Betto hat recht, wenn er im Zusammenhang mit der Tragödie in Haiti die Geschichte der französischen Seefahrer anfangs des 19. Jahrhunderts evoziert, die afrikanische Tiere zeichneten und sogar ausstopften, um sie in den Museen ihren Landsleuten zu zeigen: Giraffen, Elefanten, Affen, Rhinozerosse. Selbst die Leiche eines Afrikaners stopften sie aus, um sie zusammen mit seinen Lanzen und Speeren in einem Pariser Schaufenster auszustellen. Während der Westen seinen Fortschritt der Ausbeutung dieser Völker verdankt, erscheinen in seiner offiziellen Geschichtsschreibung Neger und Indianer als exotische Völker, innerlich geleert und ausgestopft, die als traurige "typische" Objekte ausgestellt werden, um die Neugierde befriedigter Leute zu stillen (der Tourismus als Prostitution der Kultur!) oder um Mitleid zu wecken, Gefühle, die von den manipulierten Massenmedien mit moralischen Werten assoziert werden. Das Volk von Haiti ist ein soziales und politisches Subjekt, entstanden aus dem Gedächtnis Zehntausender afrikanischer SklavInnen, die im 18. Jahrhundert wie Bestien transportiert und behandelt wurden; ein Gedächtnis, das auf dem Sklavenaufstand von 1791 baut, der im Fahrtwind der "neuen" Ideen der französischen Revolution eskalierte. Schon damals unterstützte der US-amerikanische Präsident Washington finanziell die französische Kolonie in Haiti, um den Sklavenaufstand zu unterdrücken, der massgeblich vom schwarzen General Toussaint Louverture angeführt wurde. Die Unabhängigkeit Haitis im Jahr 1804 war die erste des Kontinents und ausschliesslich dem Kampf der schwarzen Sklavenbevölkerung zu verdanken. Der US-amerikanische Präsident Jefferson sprach vom "schlechten Beispiel" dieser Republik schwarzer Rebellen für die anderen Sklavenstaaten und erkannte Haitis Unabhängigkeit nicht an. Und der französische Aussenminister Talleyrand erklärte, dass "die Existenz eines schwarzen Volkes in Waffen (...) eine schreckliche Vorstellung für alle weissen Nationen" sei. Alle schwiegen komplizenhaft zu den wiederholten Terrorwellen, welche die französische Regierung in Haiti durchführte. Haiti wurde 1869 von Frankreich invadiert, von Spanien 1871, von England 1877, von den USA 1914 und 1915 bis 1943, noch einmal von den USA 1969; nicht zu vergessen die Unterstützung, welche die USA der Duvalier-Diktatur gewährte, sowie die jüngsten Staatsstreiche und die politischen und wirtschaftlichen Interventionen seitens des Internationalen Währungsfonds, welche die Privatisierung des Dienstleistungssektors und den Ausschluss der Mehrheit der Bevölkerung davon zur Folge hatte (Frei Betto). Nach oben |
Durch das Erdbeben gelangte Haiti in die Nachrichten. "Man sieht uns nur, wenn wir vergraben sind", las ich in einem Comic des spanischen Humoristen El Roto, auf dem der Arm eines Opfers unter Trümmern zu sehen ist. Ebenfalls in die Nachrichten schaffen es der immense Schmerz, die auf den Strassen herumliegenden Toten, das soziale Chaos, die Gewalt unter der Bevölkerung bei der Verteilung von Hilfsgütern und - natürlich - die spektakuläre Präsenz der US-Marines. Doch diese präparierten Nachrichten beantworten gewisse Fragen nicht: Welche sozioökonomischen und politischen Gründe führen dazu, dass dieses Desaster viel mehr als ein "natürliches" Phänomen ist? Man weiss, dass das Erdebeben in Haiti mit einer Stärke von 7 Grad auf der Richterskala bis jetzt mehr als 212'000 Tote forderte, derweil das Erdbeben von Honshu (Japan) vor einem halben Jahr mit derselben Stärke genau einen Toten und einen Verletzten forderte. Welche militärischen Interessen verfolgen die USA in der Region, jetzt, da sie nicht mehr ihr Hinterhof ist? Ende des 18. Jahrhunderts war Haiti mit seinem Überfluss an Kaffee und Zucker die Perle der Antillen. Dies "rechtfertigte" den Heisshunger der Potentaten des Nordens. Ist es heute das Öl oder das Gold, welche diese blitzartige "humanitäre Invasion" der Marines erklärt? Welche wirtschaftlichen, militärischen und politischen Vorteile erhoffen sich die USA von diesem "Schockzustand", in dem sich die Regierung und das Volk von Haiti befinden? Wollen sie das Land zu einem "assoziierten" Staat machen? Hat die Militarisierung der Gringos zum Ziel, zu verhindern, dass HaitianerInnen, die dem Elend entfliehen wollen, in die USA kommen? Wir sprechen von Haiti, doch der "Schock" eines anderen Desasters, das mit Sicherheit auch mehr als "natürlich" ist, sollte uns dazu zwingen, zum Beispiel von Guatemala zu sprechen. |
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