"Diese Geschichte hat sich Rosenberg nicht allein ausgedacht"
Fijáte 453 vom 3. Februar 2010, Artikel 3, Seite 4
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"Diese Geschichte hat sich Rosenberg nicht allein ausgedacht"
Guatemala, 29. Jan. Die Spezialistin für Sicherheits- und Justizfragen Carmen Rosa de León-Escribano betont im nachfolgenden Interview die Notwendigkeit der inter-institutionellen Zusammenarbeit und einer besseren sozialen Kontrolle über die Regierungsführung und speziell über das Justizwesen. Die Soziologin ist davon überzeugt, dass ein positiver Einfluss auf die aktuelle Konjunktur im Gange ist und dass die Arbeit und jüngsten Erfolge der Internationalen Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) in dieser Beziehung richtungsweisend ist. Das Interview erschien im Diario de Centro América. Frage: Verändert sich etwas in Guatemala? Carmen Rosa de León-Escribano: Was die CICIG jüngst erreicht hat, kann als Beginn einer neuen Ära im Justizsystem Guatemalas gedeutet werden. Es werden Bedingungen geschaffen, es wird Personal ausgebildet, und die Gesellschaft selber beginnt daran zu glauben, dass Veränderungen möglich sind. Aber es fehlt noch viel. Zum Beispiel müssen die Staatsanwaltschaft, die Gerichte und die Polizei gestärkt werden. Es muss mehr Effizienz und Kontrolle erreicht werden. Und zwar eine zivilgesellschaftlichen Kontrolle. Meiner Meinung nach ist es weniger ein Ressourcenproblem denn der fehlende Wille, an der die Arbeit der Justiz scheitert. Oft streiten sich die Institutionen über ihre Kompetenzbereiche und schaffen damit ein Vakuum: für gewisse Bereiche fühlt sich niemand zuständig und um andere streiten sie sich oder machen die Arbeit doppelt. Dies führt dazu, dass 96% der Fälle in den Schublanden der Justiz vor sich hindümpeln und Leute innerhalb und ausserhalb der Gefängnisse im Stich gelassen werden. In diesem Sinne ist eine Koordination unter den verschiedenen Akteuren unabdingbar. Frage: Was sicher möglich wäre in Anbetracht der Tatsache, dass ja in die Arbeit der CICIG auch guatemaltekisch Fachleute einbezogen werden. C.R. de L.-E.: Eine wichtige Rolle überträgt die CICIG der Staatsanwaltschaft. Und wir setzen auch für die Zukunft grosse Erwartungen in sie. Aber ich möchte nochmals betonen, dass es die Begleitung, die Forderungen und die Kontrolle der Zivilgesellschaft braucht. Ein Beispiel dafür war vor ein paar Monaten das erfolgreiche Engagement der sozialen Organisationen bei der Wahl der RichterInnen des Obersten Gerichtshofs (CSJ). Frage: Wird diese Erfahrung Auswirkungen haben auf die Wahl des neuen Staatsanwaltes? C.R. de L.-E.: Ich glaube, dieses Engagement ist das einzige Rezept für Nachhaltigkeit, ist doch die Straflosigkeit das Produkt des Schweigens der Gesellschaft. Klar, in unserem Fall gibt es einen Grund für dieses Schweigen: Die guatemaltekische Gesellschaft ist über Generationen eingeschüchtert durch die Erlebnisse während und nach dem bewaffneten Konflikt. Schweigen war eine Form des Überlebens. Jetzt geht es darum, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Um auf die Frage der Wahl des Staatsanwalts zurückzukommen: Ich bin überzeugt, dass die Bevölkerung sich dafür einsetzt, dass es eine faire Wahl gibt und diejenige Person den Posten bekommt, welche die besten Voraussetzungen dafür hat. Als Gegenbeispiel möchte ich den Fall von Portillo erwähnen. In diesem Fall war der politische Wille nicht vorhanden, um ihn vor ein hiesiges Gericht zu bringen, es brauchte die Intervention einer ausländischen Staatsanwaltschaft. Und dies, obwohl er bereits im Oktober 2008 von Mexiko an Guatemala ausgeliefert wurde. Dasselbe wenn es um Drogenhandel geht: die USA vertrauen nicht auf das guatemaltekische Justizsystem, sondern holen die Leute in die USA, um sie abzuurteilen. Obwohl die Verantwortung bei den guatemaltekischen Behörden läge. Hier wird die Schuld immer den Sicherheitskräften zugeschoben, doch diese sind nur der sichtbarste Teil des Systems. Effektiv scheitern tut es bei den Untersuchungen der Staatsanwaltschaft und bei den Gerichten. Folge davon ist die Straflosigkeit, die zu einer Art sozialer Krankheit wird, denn die Leute sehen, dass sie durch kriminelle Handlungen schnell zu Geld kommen und keine Konsequenzen fürchten müssen. Und da sind wir wieder beim Schweigen als einer Form der Mittäterschaft. Frage: Wie können diese Probleme angegangen werden? Was muss die Exekutive machen? C.R. de L.-E.: Die Schwierigkeit, die Themen Sicherheit und Justiz anzugehen, liegt in der schlechten Ausbildung des Personals. Was wir bei den Untersuchungen des Falls Rosenberg sahen, war die offensichtliche Unfähigkeit der Staatsanwaltschaft, eine Untersuchungshypothese aufzustellen. Es beginnt schon bei den Leuten, die den Tatort sichern und Beweise aufnehmen. Das müssen bestens ausgebildete Leute sein. Dazu kommt die chronische Überlastung der Untersuchungsbeamten. Es fehlt ihnen an technischen und personellen Ressourcen. Und dazu kommt noch, dass ausländische Unterstützung lieber an die Staatsanwaltschaft denn an die Polizei geleistet wird, was dazu führt, dass die polizeilichen Untersuchungen sehr dürftig sind und der zivile Geheimdienst erst im Aufbau ist. Es wurden Untersuchungen unterstützt, z.B. von den USA, aber in diesen Fällen ging es vornehmlich um Drogenhandel. Der Nachteil ist, dass sehr ungleich unterstützt wird: es gibt also Bereiche, die über sämtliche Ressourcen verfügen, während der Rest der Institution völlig unterentwickelt ist. Die Exekutive muss also dringend in die Bereiche Untersuchung und Prävention investieren, um eine effiziente Polizei zu erhalten. Frage: Und auch eine "saubere". Denn Korruption ist ja auch ein ewiges Thema innerhalb der Polizei. Nach oben |
C.R. de L.-E.: Es müssen aber nicht einfach Leute entlassen werden, sondern es braucht eine bessere interne Kontrolle. Was nützt es, Personal auszuwechseln oder überhaupt mehr Leute einzustellen, wenn sie erst innerhalb der Institution korrumpiert werden? PolizistInnen verdienen etwas mehr als 3000 Quetzales pro Monat (ca. 260 Euro), und dabei setzen sie jeden Tag ihr Leben aufs Spiel. Vergleichen Sie diesen Lohn mit jenem eines Staatsanwalts … Dieses ganze System weist verschiedene Mängel auf und die können nicht einzeln angegangen werden. Aus diesem Grund haben wir vom Rat für Sicherheit (SAS) dem Staat das Nationale Abkommen für Sicherheit und Justiz vorgeschlagen. Wir verlangen nichts Unmögliches, sondern einfach, dass die Leute das tun, wofür sie bezahlt werden. Wir haben Planungs- und Monitoring-Instrumente vorgeschlagen mit der Idee, dass diese Institutionen das Geld, das sie haben, effizient einsetzen. Damit soll auch verhindert werden, dass dieses Geld einfach verschwindet. Portillo und seine Leute haben öffentliche Gelder abgezogen und gewaschen. Und sie haben das so offensichtlich und völlig straflos gemacht, dass es einfach auffallen musste. Doch das ist nichts Neues, das haben die früheren Militärregierungen alle gemacht, dafür hatten sie den Generalstab des Präsidenten. Dieser Posten wurde zwar unterdessen aufgehoben, aber die Praxis wird weitergeführt. Frage: Um auf die Aktualität zurückzukommen: Weshalb hat Rosenberg die Brüder Valdés, die eigentlich seine Freunde sind, in seine eigene Ermordung involviert? C.R. de L.-E.: Ich glaube, Rosenberg hat nie damit gerechnet, dass die Wahrheit an den Tag kommt, auch er hat auf die Straflosigkeit gesetzt, in deren Umgebung er ein Leben lang gearbeitet hat. Was er erhoffte, war, dass durch die Untersuchungen seines Mordes gewisse dreckige Geschäfte der Regierung aufgedeckt würden. Oder um die Aufmerksamkeit auf die Morde an den Musas zu lenken. Eigentlich glaube ich, dass da ganz viele Interessen von den verschiedensten Leuten mitspielen, und eines war ganz sicher, die Regierung von Colom ins Wanken zu bringen. Aber es fehlen noch zu viele Teile in diesem Puzzle. Wer hat Rosenberg geholfen, wer hat den Inhalt seiner Rede auf dem Video verfasst? Ich glaube sogar, man muss die Fälle Musa und Rosenberg unabhängig voneinander betrachten. Frage: Für Sie ist es also nicht ein Frage von Leidenschaft oder ein Hilferuf nach Gerechtigkeit, wie es überall heisst? C.R. de L.-E.: Das spielt sicher auch mit, dazu kommt das Geschäft mit den Pässen, welches er mit Mendizábal hatte und das sie verloren hatten, und dazu kommen die verschiedensten Interessen der verschiedensten Leute, mit denen Rosenberg Kontakt hatte. Aber ich bin überzeugt, diese Geschichte hat sich Rosenberg nicht allein ausgedacht. Frage: Was haben Vater und Tochter Musa damit zu tun? Ist die Ernennung von Khalil Musa in den Vorstand der Bank für Entwicklung (BANRURAL) Grund genug, ihn umzubringen? C.R. de L.-E.: Es ist absurd, eine Ernennung kann nicht der Grund sein, jemanden umzubringen. Man hätte ihn ja einfach nicht ernennen können und fertig. Diese Erklärung geht einfach nicht auf. Ich glaube vielmehr, sie ist ein Ablenkungsmanöver, und es geht um ganz andere Sachen. Vor und nach der Ermordung der Musa wurden noch zwei Personen umgebracht, die etwas mit dem Unternehmen des Textilingenieurs Musa zu tun hatten. Es gibt auch Leute, die sagen, dass Marjorie eigentlich Komplizin bei der Ermordung ihres Vaters war, dass dann aber der Schuss hinten heraus ging. Und es gibt noch viel schrecklichere Geschichten: Dass Vater Musa nicht zuliess, dass sich seine Töchter scheiden liessen. Die ältere Tochter machte es trotzdem, und er hat sie enterbt und Marjorie zu seiner Haupterbin gemacht. Wenn Rosenberg, der Liebhaber von Marjorie, sie hätte heiraten wollen, um an das Geld von Musa zu kommen, musste er also zuerst diesen eliminieren. Die Untersuchungen werden es zeigen, aber das Attentat war gegen Khalil, und es war ein Querschläger, der Marjorie getötet hat. Wenn es so gewesen ist, dann verstehe ich auch, weshalb sich Rosenberg umgebracht hat, denn dann wäre er mitschuldig am Tod von Marjorie und hätte alles verloren: die Frau und das Geld. In diesem Fall wird auch Ex-Innenminister Salvador Gándara in den Schmutz gezogen. Dies ist den Opportunisten zuzuschreiben, die daran arbeiten, die Regierung zu stürzen. Gándara ist aber auch selber schuld, da er seinen Präsidenten zu schützen versucht, indem er der Geschichte eines falschen Zeugen aufsitzt. Für mich ist dies ein Lehrstück dafür, wie die Akteure in einer solchen Situation reagieren. Doch wir müssen die Ergebnisse der Untersuchung abwarten - für mich macht einfach die ursprüngliche Version keinen Sinn. Frage: Was geschicht mit der Justiz, wenn die UNO aus Guatemala abzieht? C.R. de L.-E.: Was dem guatemaltekischen System fehlt, ist eine Kraft, die hinter den drei Akteuren (Gerichte, Staatsanwaltschaft und Polizei) steht und dafür schaut, dass diese zusammenarbeiten. Der Abzug der CICIG muss mit einem Empowerment der politischen Parteien und der Zivilgesellschaft einhergehen. Und der Kongress muss die Funktion des politischen Vermittlers wahrnehmen, denn dafür sind die Abgeordneten gewählt. |
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