Aus der Distanz...
Fijáte 376 vom 10. Januar 2007, Artikel 4, Seite 4
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Aus der Distanz...
Miseria bedeutet in seiner Summe Ausbeutung, Hunger, erzwungene Unwissenheit und Arbeitslosigkeit, Krankheiten und fehlende medizinische Versorgung sowie andauernde Repression. Miseria ist die schärfste Form von Gewalt, weil sie geplant und gewollt ist. Diese Form von Gewalt zu beenden war das Ziel der Befreiungsbewegung in Guatemala. Von Edith Bitschnau, Guatemala Komitee Zürich. Nach dreissig Jahren bewaffnetem Widerstand hatte die URNG Ende 1996 die Waffen abgegeben. Ein Moment, den das guatemaltekische Volk, wie auch wir von der Solidarität herbeigesehnt hatten. Es war das Ende eines Krieges, in dem die guatemaltekische Armee die Hochlandbevölkerung massakriert, in die Flucht gejagt oder als Geisel gehalten hatte. Doch einige Jahre zuvor, als wir damit begannen, den Befreiungskampf zu unterstützen und zu begleiten, sahen unsere Träume anders aus. Wir träumten, ähnlich wie tausende Compañeros und Compañeras, vom Sieg der Armen über die Reichen, von wehenden rot-schwarzen Fahnen und vom triumphalen Einzug der Guerilla in die Hauptstadt, um der Bevölkerung das Ende der Miseria zu bereiten. Wir dachten, dass sich die Revolutionen von Cuba, Vietnam und Nicaragua auch in El Salvador und Guatemala durchsetzen würden. Nun schauten wir 1996 auf einen Berg von Papieren voller Regelungen und schwungvollen Unterschriften: Die Friedensabkommen. Keine Enteignungen, keine Bestrafung der Kriegsverbrecher, keine Verteilung des Grossgrundbesitzes. Inzwischen sah die Welt völlig anders aus als noch zu Beginn der Guerilla und niemand von der Solidarität glaubte während der 90er Jahre noch ernsthaft an die Umsetzung unserer einstigen Träume. Doch die Bedingungen, die ursprünglichen Ziele nun in der Legalität weiter zu verfolgen, hatte sich die URNG erkämpft. Dies bedeutete, den Kampf für Gerechtigkeit mit weniger Toten und weniger Angst fortführen zu können. So folgten nach der Unterzeichnung der Friedensabkommen die Jahre der Politik und der Parteibildungen, welche die URNG "Demokratisierung der eigenen Strukturen" nannte. Während dieser Zeit geschah eine Entwicklung, die wir uns in diesem Ausmass nicht vorstellen konnten. Mit zunehmendem Staunen sahen wir Compañeros und Compañeras ins Abseits verschwinden, welche noch während des Krieges Heldenhaftes geleistet hatten, und mit ungläubigem Entsetzen wiederum beobachteten wir unsere ehemaligen Helden die Seiten wechseln oder sich in korrupte Geschichten verwickeln. Die Uneinigkeit um die Führung der URNG führte dazu, dass nun die Stunde der Emporkömmlinge gekommen war. Compas, mit denen wir jahrelang zusammengearbeitet, denen wir vertrauten und die uns vertraut hatten, verschwanden auf Nebengleisen, kaltgestellt. Die vielen Demobilisierten aus der Guerilla, gewohnt, sich an einer Führung zu orientieren, warteten zunächst ab, welche Mission sie nach dem Krieg zu erfüllen hätten und beobachteten fassungslos die Demontage ihrer revolutionären Organisation. Nach einiger Zeit des Abwartens mussten sie feststellen, dass für sie in der neuen Partei keine Rolle vorgesehen war. Sich selbst überlassen und oft in grosser existenzieller Not, wählten nicht wenige Ex- Guerilleros/as den Weg in die Emigration, in die USA. Während gleichzeitig die guatemaltekische Bevölkerung, wie überall auf der Welt, den Preis des neoliberalen Marktmodells bezahlte, war die Partei URNG mit internen Machtkämpfen beschäftigt und auf persönliche Anerkennung auf der parlamentarischen Bühne aus. Wir vom Komitee beobachteten diese Entwicklung von fern und von nah mit zunehmendem Befremden, um schliesslich die Gefolgschaft zu der Parteiführung zu beenden. Nach oben |
Das bedeutete, dass wir grundsätzlich Abschied nehmen mussten von unseren Heldinnen und Helden von damals, um uns der Realität zu stellen. Wir hatten nicht gedacht, dass ein zutiefst korruptes System selbst gestandene Compas zu verschlingen vermag. Wir hatten auch nicht gedacht, dass jahrzehntelange Diktatur und die Eliminierung einer ganzen Generation der Linken, keine grosse Auswahl an politisierten und erfahrenen OrganisatorInnen und PolitikerInnen hervorzubringen vermag. Und dass die Not so gross werden würde, dass die Devise: "Rette sich, wer kann" heute vielen Menschen nahe liegender ist als Solidarität und Widerstand, das haben wir uns ebenfalls nicht vorstellen wollen. Innerhalb der letzten Jahre sind unzählige soziale Bewegungen entstanden, welche sich den Problemen Guatemalas annehmen und sich weiterhin mit den Repressionskräften buchstäblich herumschlagen müssen. Dass sich die Partei URNG aus den Kämpfen dieser Bewegungen heraushält, hat jedoch nicht nur mit Unvermögen oder Ignoranz zu tun, sondern auch mit der immer noch sehr verbreiteten Angst der Bevölkerung, durch Kontakt mit der ehemaligen Guerilla in Schwierigkeiten zu geraten. An dieser Angstblockade arbeiten ehemaligen Compas, indem sie die Jahre des bewaffneten Widerstandes der Bevölkerung zugänglich machen und sie in die Geschichte Guatemalas zu verankern versuchen. Nach den Jahren der Enttäuschung und Verwirrung haben sie damit begonnen, sich wieder untereinander zu treffen, um einander ihre eigene Geschichte zu erzählen und ihre schrecklichsten und schönsten Erfahrungen des Krieges auszutauschen. Heute sind aus diesen Erzählungen zwei Bücher entstanden. Auch der Traum von einem Museum, das den Widerstand dokumentieren soll, ist noch nicht ausgeträumt. Diese Compas von damals treffen wir in ihren Gemeinden wieder, wo sie an Projekten für ihre comunidad arbeiten oder auch auf der Strasse bei Demonstrationen der sozialen Bewegungen. Mit ihnen sind wir heute noch verbunden. Die internationale Solidarität ist heute dem grossen Feld der NGOs gewichen. Kämpfe aus der Bevölkerung werden von ihnen kaum unterstützt. Die Volks -und Menschenrechtsorganisationen anderseits haben während einigen Jahren gelernt sich in der Legalität zu organisieren und zu kämpfen. Ihre Aktivität ging auch nach den Friedensabkommen und ohne URNG den gewohnten Gang. Mit Landbesetzung, Streiks und Demonstrationen und immer noch gefährdet an Leib und Leben zwingen sie die Öffentlichkeit die Probleme des grossen Heeres der Armen wahrzunehmen. Die Regierung reagiert weiterhin mit Gewalt und Repression auf die kleinen Aufstände oder zücken nun, gewitzt seit den Abkommen, eine neue Taktik aus ihren Westentaschen: Die Taktik der Verhandlungen. Schnell werden da und dort Widerständige Menschen an so genannte "runde Tische" zu Gesprächen gebeten, deren Ergebnisse mit weiteren schwungvollen Unterschriften besiegelt werden, um sie dann der Vergessenheit zu übergeben. Nachtrag:Am 24. November 2006 ist Jorge Rosal, genannt Chayo, im Alter von beinahe 80 Jahren gestorben. Chayo war während vieler Jahre Europavertreter der URNG. Als Herzspezialist und Vater von vier im Widerstand kämpfenden Kindern legte er, nach der Ermordung einer seiner Söhne, seine bürgerliche Existenz ab, um Nomade für die Guerilla, der URNG, zu werden. Er mitunterzeichnete anstelle seines Comandanten Gaspar Ilom, dem damals die Einreise nach Guatemala verwehrt wurde, die Friedensabkommen. Chayo war hier in der Schweiz ein begeisterter WG-Besucher und Fan von Hausbesetzungen. Er war unser Bindeglied zu den kämpfenden Compas in Guatemala, er war ihr Sprachrohr hier bei uns und machte es möglich, dass wir die Nähe zu den GenossInnen in Guatemala über Jahre behalten konnten. |
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