Jugendbanden: Eine militärische oder eine soziale Sicherheitsbedrohung?
Fijáte 367 vom 30. August 2006, Artikel 3, Seite 3
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Jugendbanden: Eine militärische oder eine soziale Sicherheitsbedrohung?
"In meiner Familie wurde ich geschlagen, vor allem von meinem Vater. Diese Narben an meinem Arm sind Brandwunden, die er mir zugefügt hat." "Ich habe auf der Strasse gelebt, Leim geschnüffelt, gekifft. Schliesslich bin ich der M18 beigetreten. Anfänglich wurde ich dort gut behandelt. Man hat sich um mich gekümmert, sie waren wie eine Familie für mich, wie Brüder". "Als ich zum ersten Mal stahl, war ich 5 Jahre alt. Ich bin allein in einen Laden rein und habe etwa 4000 Q erbeutet, Bargeld und Süssigkeiten. Nach dem ersten Mal hatte ich keine Angst mehr und ich stahl regelmässig. Normalerweise habe ich mich zuvor mit Drogen zugedröhnt." "Ich wurde gezwungen, Leute umzubringen. Ich habe sechs Personen umgebracht. An all dem ist meine Familie schuld." (Bericht eines Mara-Mitglieds, Prensa Libre, 3. April 2005) Die Jugendbanden oder Maras bedrohen die alltägliche Sicherheit der zentralamerikanischen Bevölkerung. Ihre internen Hierarchiestrukturen und ihr externes Handeln sind von Gewalt und Brutalität geprägt. Ihre Verbindung zum Drogen- und Menschenhandel und zum organisierten Verbrechen sind unbestritten. Ganze Strassen, Quartiere oder Gefängnistrakte werden von ihnen beherrscht, die Polizei wagt nicht, in die Territorien der Maras einzudringen. Ihr Opfer kann jeder oder jede werden, unabhängig von ihrer/seiner sozialen, ökonomischen oder politischen Herkunft. Dies alles ist erwiesen. Doch ist auch offensichtlich, dass die zentralamerikanischen (und die US-amerikanische) Regierungen die Existenz der Maras benutzen, um die Bevölkerung eingeschüchtert und traumatisiert zu lassen, um vorsintfluchtlich anmutende Massnahmen zu diskutieren (z.B. die Anwendung der Todesstrafe, die in Guatemala gar nie abgeschafft wurde) und um die Region zu militarisieren. Die Medien tragen das Ihre dazu, und im Nu werden aus den Maras der neue Staatsfeind Nr. 1. Um ihn zu bekämpfen, scheinen alle Mittel rechtens und legitim. Im diesem Artikel soll es nicht darum gehen, das Phänomen der Maras zu verharmlosen, sondern es in einen grösseren und historischen Zusammenhang zu stellen. In Zentralamerika sind mehr als 50% der Bevölkerung unter 24 Jahren alt. Die Mehrheit dieser Jugendlichen stammen aus armen Familien, haben beschränkte Zugangsmöglichkeiten zum Bildungs- und Gesundheitssystem und ihre Aussicht auf eine Ausbildung oder formale Arbeitsstelle ist gering. Viele von ihnen stammen aus zerrütteten Familien, waren Opfer von innerfamiliärer Gewalt, wuchsen im Krieg auf. Um etwas zum Einkommen der Familie beizutragen, sehen sich viele dieser Jugendlichen gezwungen, die Schule aufzugeben und irgendeinen Job anzunehmen, häufig als StrassenverkäuferInnen, wo sie Opfer von Belästigung, Missbrauch und anderen Formen von Gewalt werden. Diese Situation zwingt jährlich Tausende von Jugendlichen, ihre Ursprungsländer zu verlassen und auf der Suche nach Arbeit in den Norden zu migrieren. Ebenso viele bleiben im Land und wählen als Überlebensstrategie die Mitgliedschaft in einer Jugendbande. Der Begriff "Mara" bezeichnet äusserst komplexe, unterschiedliche Realitäten. Die gängige Übersimplifizierung dient einer repressiven Hetze. Wer tätowiert ist, wer Drogen konsumiert, wird als Mitglied einer Mara klassifiziert. Gerne ordnen die Behörden praktisch jeden Mord den Maras zu, was sie selber zu Freiwild werden lässt. Täglich berichten die Medien über Jugendliche, die gefoltert, erschossen, erstochen, gevierteilt, oder wie auch immer brutal ermordet aufgefunden werden. Die Behörden schreiben diese Morde den Rivalitäten zwischen den verschiedenen Maras zu. Menschenrechtsorganisationen leugnen dies nicht, sprechen aber auch von sozialen "Säuberungsaktionen" durch parastaatliche Kommandos, die in absoluter Straflosigkeit agieren. Das hindert die Behörden aber nicht daran, die explodierende Mordrate als Argument für weitere Militäreinsätze und für Gesetzesverschärfungen zu verwenden. Die vergangenen Jahrzehnte waren in Zentralamerika geprägt von bewaffneten Konflikten. Tausende von Jugendlichen haben auf beiden Seiten gekämpft. Viele starben, andere wurden verwundet, wieder andere flohen und/oder wurden zu Waisen. Mit den Friedensabkommen erwachte in diesen Jugendlichen die Hoffnung auf eine Rückkehr in die Schule, auf eine Arbeit, auf die Rekonstruktion ihrer Leben, ihrer Dörfer, ihres Landes. Doch das Ende des Krieges bedeutete nicht unbedingt eine Verbesserung der Lebensumstände. Im Gegenteil, die neoliberalen Politiken und die Privatisierungen schwächten die Rolle des Staates in den sich entwickelnden Demokratien noch mehr. Von den ersten Jugendbanden, die in El Salvador entstanden, weiss man z.B, dass sich ihnen nicht nur Jugendliche aus den Armenvierteln anschlossen, sondern auch Ex-Guerilleros und demobilisierte Soldaten, die keinerlei Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebensqualität oder auf eine soziale Anerkennung hatten. In den neunziger Jahren ist eine Radikalisierung des Gewaltverhaltens der Jugendbanden festzustellen. Der Grund dafür dürfte in der weiteren gesellschaftlichen Verelendung liegen, aber auch im Einfluss von Gangmitgliedern aus den USA. Dort stehen sich die traditionellen Latinogangs Mara 18 (benannt nach der 18. Strasse im Stadtteil Rampart von Los Angeles) und die Mara Salvatrucha (oder Mara 13) in tödlicher Konkurrenz gegenüber. Nach den antirassistischen Revolten in Los Angeles 1992 begannen die US-Behörden Gangmitglieder, die aus Zentralamerika stammen, in ihre "Herkunftsländer" zu deportieren. Viele kannten ihre neue Heimat nur vom Hörensagen. Dort angekommen, integrierten sie sich in die lokalen Cliquen an der Strassenecke. In der Folge davon entwickelten sich erst in El Salvador, danach in Honduras und Guatemala, später dann auch in Mexiko die Maras 18 und 13. Je nach Quelle haben sie heute zwischen einigen zehn- bis zweihunderttausend Mitglieder. Sie sind im Crackdeal auf der Strasse präsent, erheben von Buskooperativen Wegzoll für die Fahrt in Armenquartiere und legen manchmal Raubopfer wegen eines zu wenig unterwürfigen Blicks um. Die Initiationsriten für die wachsende Zahl weiblicher Mitglieder beinhaltet oft eine Gruppenvergewaltigung. Gangstrukturen übernehmen zudem Aufgaben beim Drogenschmuggel und in den Schleppnetzen der Migration. Das erlaubt, die Maras der transnationalen "organisierten Kriminalität" zuzurechnen. So erfolgt der Militäraufmarsch an der Südgrenze Mexikos gegen "illegale" MigrantInnen unter Verweis auf die Maras, genauso wie auch US-Präsident George Bush die Militarisierung der Grenze zu Mexiko mitbegründet. Nach oben |
Die von den zentralamerikanischen Regierungen praktizierte Mara-Politik der "Harten Hand" führt die Zeitschrift Foreign Affairs vom Mai 2005 auf entsprechende Vorgaben Washingtons zurück. So hat die US-Bundespolizei FBI ihr National Gang Intelligence Center mittlerweile um eine Filiale in San Salvador erweitert. Schon Anfang Februar 2005 beschlossen die Präsidenten von Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua die Schaffung einer regionalen Militäreingreiftruppe unter der Führung der USA gegen "Banden und Terrorismus". In der Pentagon-Studie Strassenbanden: Der neue Aufstand in den Städten" vom März 2005 schreibt Max Warmaning: "Aufständische und Gangs sind an einem hochkomplexen politischen Problem beteiligt: dem politischen Krieg". Der Autor arbeitet für das Südkommando der US-Streitkräfte (Southcom). In seinen jährlichen Auftritten vor dem US-Kongress pflegt dessen Kommandant die Maras als eine der wichtigen militärischen Sicherheitsherausforderungen des Kontinentes zu bezeichnen. Er knüpft dabei an das Theorem der "gescheiterten Staaten und Zonen" an, wo die "internationale Gemeinschaft" die staatliche Autorität wieder herstellen müsse. Die Maras bewirkten "rechtsfreie" städtische Zonen. Southcom-Chef Bantz Craddock Ende Mai 2005: "Wir wissen, dass die Zonen ohne Gesetz und ohne Regierung Gebiete sind, welche terroristische Elemente anziehen." Die Parallele, etwa zum Irak, ist augenfällig. So schreibt der Boston Globe am 24. März 2005 zur zitierten Southcom-Studie: "Nach zwei Jahren anhaltender Gewalt kommt eine Studie des Army War College zum Schluss, dass amerikanische Truppen im Irak nicht eine zusammengewürfelte Armee bekämpfen, sondern einen Feind, der mehr hoch entwickelten, gewalttätigen Strassenbanden wie den mächtigen zentralamerikanischen Gangs gleicht." Dementsprechend haben gemäss der New York Times Kommandanten der US-Marines, denen Problemzonen wie etwa Falludscha im Irak zugeteilt sind, Los Angeles besucht, um von der Gangbekämpfung der Polizei zu lernen. "Sicherheit" und "Terrorismusbekämpfung" sind zentrale Themen in Zentralamerika. Es wäre aber absolut verkürzt, die herrschende Un-Sicherheit einzig den Maras anzulasten. Ebenso falsch ist es, die "Lösung" des Problems aus einer militärischen Sicherheitsperspektive anzugehen und sämtliche sozialen Sicherheitsaspekte auszublenden. In Guatemala werden die Polizeikräfte seit April 2006 durch 3000 Armeeangehörige unterstützt, um die Gewalt zu bekämpfen und die "Sicherheit" zu garantieren - gemäss einer Statistik der Menschenrechtsorganisation GAM haben seit Mai die Gewalttaten (nachdem sie Anfang des Jahres zurückgingen) wieder zugenommen. Ausserdem bekommt die Polizei Unterstützung des berüchtigten militärischen Geheimdienstes G2 bei der Informationsbeschaffung über Mara-Mitglieder. Doch von Lösungsansätzen, die das Problem auch in seiner sozialen Dimension erfassen, ist man noch weit entfernt. Staatlicherseits wird eine repressive Politik verfolgt, Integrationsprojekte finden meistens auf private Initiative oder durch Nichtregierunsorganisationen statt. Aber: "Die NRO versuchen eine Aufgabe zu erfüllen, die der schwache Staat nicht übernehmen kann, doch die Grundprobleme bleiben bestehen: eine vernachlässigte Jugend, ohne Bildung und ohne Arbeit", sagte Frank LaRue von der staatlichen Menschenrechtskommission kürzlich bei der Präsentation einer Studie über Jugendbanden in Guatemala. Noch deutlicher drückte sich ein "rehabilitiertes" Mara-Mitglied aus: "Was die meisten Institutionen die zu den Maras arbeiten bieten, ist blosses Geschwätz". Selbst die staatliche US-amerikanische Entwicklungsorganisation USAID kommt in einem kürzlich veröffentlichten Bericht zu dem Schluss, dass Repression und erhöhte Polizeipräsenz allein der falsche Weg sind. Verhaftet werden einzig die "kleinen Fische", die dahinter steckenden Strukturen werden nicht angetastet. |
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