Die Aufgabe des Evangelismus ist es, Ordnung ins Chaos zu bringen
Fijáte 458 vom 14. April 2010, Artikel 1, Seite 1
Original-PDF 458 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 --- Nächstes Fijáte
Die Aufgabe des Evangelismus ist es, Ordnung ins Chaos zu bringen
Noch vor 30 Jahren war die guatemaltekische Bevölkerung fast ausschließlich katholischen Glaubens. Heute ist es das lateinamerikanische Land mit dem größten Prozentsatz an evangelischen Gläubigen. Diese Tatsache wird in vielen Studien und Analysen über Guatemala ausgeblendet. Virginia Garrard-Burnett hat eine aktuelle Geschichte des Evangelismus in Guatemala geschrieben. Sie ist Professorin an der Universität von Austin, Texas, und Autorin eines Buchs über die Regierungszeit von Efraín Ríos Montt "Terror im Land des heiligen Geists". Gegenüber vielen simplifizierenden Theorien, welche die Zunahme des Evangelismus einer von der USA und Ríos Montt geplanten Strategie niedriger Kriegsführung zuschreiben (Ríos Montt ist selber Pastor in der evangelischen Kirche "El Verbo"), ist Garrard-Burnett weiter gegangen und hat sich gefragt, weshalb der evangelische Glaube in der guatemaltekischen Bevölkerung einen so fruchtbaren Nährboden fand. Das folgende Interview erschien in Inforpress Centroamericana Nr. 1833. (Anmerkung der Redaktion: Die Begriffe "evangelisch", "evangelikal" und "protestantisch" werden von Garrard-Burnett synonym verwendet.) Frage: Ihr Buch hat vorgefasste Meinungen ins Wanken gebracht ... Virginia Garrard-Burnett: Auch ich kam mit stereotypen Vorstellungen nach Guatemala. Ich dachte, die Zunahme des Protestantismus habe mit den Aufstandsbekämpfungsprogrammen der USA zu tun, mit dem kulturellen Imperialismus. Aber als ich in der Realität ankam, habe ich gemerkt, dass die Auswirkungen der evangelikalen Kirchen auf die Politik sehr wichtig war, dass diese Kirchen nicht einheitlich sind und nicht nach einem von oben herab diktierten Plan handeln. Ich habe gemerkt, dass der Protestantismus die Funktion ausübte, neue Formen der Organisation und sozialer Identität für eine Bevölkerung zu eröffnen, die enorm litt. In die evangelischen Kirchen konnten die Leute gehen, die auf der Suche nach spiritueller Linderung waren, aber die Kirchen waren auch Orte inmitten der Gewalt, wo das zerstörte soziale Netz der Gemeinden wieder aufgebaut werden konnte. Frage: Weshalb konnte die katholische Kirche diese Funktion nicht wahrnehmen? V. G.-B.: Die katholische Kirche war damals im ganzen Land sehr angeschlagen. Viele KatechetInnen und Priester waren umgebracht worden. Die katholische Kirche hatte sich in die Katakomben zurückgezogen wie zu Beginn der christlichen Ära. Die evangelischen Kirchen füllten dieses Vakuum sofort. Die katholische Kirche hatte aber bereits vor dem Krieg einen Mangel an Priestern, sie erreichte viele der abgelegenen Orte gar nicht erst. Bei den protestantischen Gruppen gab es dieses Problem nicht, denn jeder konnte Pastor werden. In der evangelischen Doktrin heißt es ja, dass alle Gläubige das Wort Gottes verbreiten sollen. Insofern hatten die Reformierten schon rein zahlenmäßig einen großen Vorteil. Es stimmt, dass die Verbreitung des Protestantismus viel mit der Gewalt der 80er Jahre zu tun hat, aber war keine imperialistische Konspiration, wie man immer vermutet hatte. Frage: Weshalb hat die Armee die evangelischen Kirchen nicht als eine Gefahr gesehen, wie das beim Katholizismus der Fall war? V. G.-B.: Der Hauptgrund liegt darin, dass die evangelischen Kirchen nichts mit der Befreiungstheologie zu tun hatten. Einige Sektoren der reformierten Kirche hatten sich der Revolution verschrieben, aber sie waren nicht dominant. Es gab auch keinen Bezug zu den sozialen Bewegungen, im Gegenteil, die evangelischen Kirchen waren ein Ort, um vor der Politik zu fliehen, die eng mit der Gewalt in Zusammenhang gebracht wurde. Die Befreiungstheologie sprach zu den Leuten über das Diesseits, über soziale Gerechtigkeit. Die evangelischen Kirchen sprachen über das Jenseits, über die Gerechtigkeit Gottes und über ein besseres nächstes Leben. Das war genau das, was die Leute nach soviel Gewalt hören wollten. Viele Menschen sind auch zum Protestantismus konvertiert, weil sie glaubten, dass sie somit sicherer vor Verfolgung seien. In der Regierungszeit von Ríos Montt (1982 - 1983) galten die Evangelikalen als vertrauenswürdig. Frage: Aber es gab auch viele ProtestantInnen, die unter der Repression litten. V. G.-B.: Das stimmt. Während der Regierung von Lucas García (1978 - 1982) wurden mehr KatholikInnen als ProtestantInnen umgebracht, aber unter Ríos Montt glich sich das wieder aus. Die Leute glaubten, als ProtestantInnen seine sie geschützt, aber dem war nicht so. Ricardo Falla dokumentierte im Ixcán Fälle von evanglischen Gemeinden, in denen die Leute in die Kirche getrieben und verbrannt wurden. Frage: Das heißt also, der Protestantismus war kein Werkzeug im Kampf gegen den Aufstand? V.G.-B.: Doch, sie versuchten es, halfen den evangelischen humanitären Organisationen, welche die Flüchtlinge betreuten, und so hat sich der Protestantismus auch verbreitet. Ich habe auch ZeugInnenaussagen gehört, laut denen Militärkommandanten zu den Leuten gesagt haben sollen: "Ihr müsst nach der Bibel leben und die Macht anerkennen - und die Macht, das sind wir". Man versuchte also, durch den Glauben und das biblische Vokabular die Leute zu kontrollieren. Das machte auch Ríos Montt in seinen Fernsehprogrammen: Er sprach von Moral und Autorität. Aber es gab nie eine geplante Konspiration, die den Protestantismus als aufstandsbekämpfende Maßnahme nutzen wollte. Frage: Wollten ihn die USA gegen die Befreiungstheologie einsetzen? V.G.-B.: Es war die Regierungszeit von Ronald Reagan. Der politische Einfluss der konservativen evangelikalen Lobby-Organisation Moral Majority war zu dieser Zeit beachtlich. Ihr ging es aber vielmehr um die US-amerikanische Innenpolitik, Zentralamerika war für sie zweitrangig. Außerdem befand sich Guatemala nicht explizit im "Radar" der Administration Reagan. Wer in jener Zeit von Zentralamerika sprach, meinte El Salvador und Nicaragua. Die Evangelikalen in den USA sahen in Ríos Montt nicht mehr als einen "Soldaten Gottes", aber sie verstanden (bewusst oder nicht) nie so richtig, was in Guatemala vor sich ging und waren zu naiv, um einen Christen mit Begriffen wie Genozid in Verbindung zu bringen. Nach oben |
Der Aufstieg des Protestantismus ist insofern als eine Reaktion auf die Befreiungstheologie zu sehen, als diese sehr viel von ihren AnhängerInnen forderte: Es wurde von ihnen verlangt, die Bibel zu lesen, sie zu verstehen und entsprechend politisch zu handeln. Bei der Pfingstgemeinde dagegen geht es vielmehr darum, Gott zu erleben. Das sind natürlich völlig verschiedene Ansätze und führt zu unterschiedlichen Erfahrungen. Viele Leute kritisierten an der Befreiungstheologie, dass sie zu viel von Politik und zuwenig von Religion spricht. Der Evangelismus hingegen lebt innerhalb der Religion eine neue Spiritualität. Frage: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass sich zwischen Ihrem ersten Besuch in Guatemala (1980) und Ihrem zweiten (1983) das religiöse Panorama total verändert habe: Evangelische Kirchen waren plötzlich überall anzutreffen. Wie erklären Sie sich diese rasante Veränderung? V.G.-B.: In diesen Jahren geschahen drei wichtige Ereignisse: Die Politik der verbrannten Erde, der Papstbesuch und die Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag des Einzugs des Protestantismus in Guatemala. Diese drei Ereignisse führten dazu, dass das Thema Religion in der Gesellschaft an Wichtigkeit gewann. Frage: Dann hatte der Krieg also doch einen Einfluss auf die Verbreitung des Protestantismus? V.G.-B.: So richtig begann es mit dem Erdbeben 1976. Die Zunahme des Protestantismus hat insofern mit der politischen Gewalt zu tun, als die Leute in Zeiten der Krise immer nach Alternativen suchen, um Ordnung ins Chaos zu bringen: Die einen suchten nach einer politischen Antwort und schlossen sich der Guerilla an, andere wiederum schlossen sich einem religiösen Glauben an. In Nicaragua geschah genau das gleiche, es gab ein schreckliches Erdbeben, kurz darauf begann der Krieg, und der Sandinismus bot eine Alternative gegen all diesen Schrecken. Als man in den 90er Jahren den Sandinismus nicht mehr als die Lösung sah, kam es zu einem Aufschwung der evangelikalen Kirchen. Frage: Es ist etwas paradox, dass die Leute sich genau in dem Moment von der katholischen Kirche abwandten, als diese begann, sich den Leuten zuzuwenden. V.G.-B.: Jemand sagte einmal, die Kirche hat die Armen ausgewählt, und die Armen haben die Pfingstgemeinden gewählt ... Frage: Der Evangelismus verbietet den Synkretismus zwischen dem Christentum und dem traditionellen Glauben. Ist das kein Hindernis für die evangelischen Kirchen? V.G.-B.: Doch, das stimmt. Der von den Indígenas verehrte Maximón zum Beispiel hat keinen Platz in der evangelischen Kirche. Aber ein großer Vorteil gegenüber der katholischen Kirche ist, dass die Pastoren immer aus der Gemeinde stammen, viele von ihnen sind Indígenas. Es gibt eine Ablehnung gewisser Traditionen, wie zum Beispiel die Berggeister, aber meistens ignoriert man sie. Man akzeptiert, dass es sie gibt, aber man misst ihnen keine Bedeutung zu. Frage: Weshalb sind gerade die Pfingstgemeinden so erfolgreich? V.G.-B.: Es ist eine Form des Evangelismus, der gut zum Land passt. Die Pfingstgemeinden offerieren eine Logik, mit der man das Unglück erklären kann, das Guatemala durchlebt hat. Irgendwie müssen die Menschen das alles ja "verdauen". Frage: Ist der Protestantismus eine Fortschrittsreligion, verspricht er einen sozialen Aufstieg durch ethisches Verhalten? V.G.-B.: Ich glaube nicht. Mit Ausnahme der NeupfingstlerInnen vielleicht, die oft Leute aus der Oberschicht sind, sind die meisten ProtestantInnen arme Leute. Ein wichtiger Faktor ist vielmehr, dass viele Evangelikale keinen Alkohol trinken und deshalb die Probleme, die im Zusammenhang mit Alkohol auftreten, bei ihnen nicht vorkommen. Es gibt bei ihnen schon diese Idee der "Besserung", und es gibt Gruppen, die sich wöchentlich treffen, um darüber zu diskutieren, was ein "guter Arbeiter" ist oder wie man "richtig" mit Geld haushaltet. Aber wenn man die lateinamerikanischen Statistiken anschaut, kann man nicht sagen, dass evangelisch zu sein, bedeutet, mehr Geld zu haben. Klar, bei sehr armen Leuten macht es einen finanziellen Unterschied, ob sie Alkohol trinken oder nicht. Ebenso sind Menschen evangelischen Glaubens eher bereit, sich für die Religion einzusetzen, sie opfern ihrer Kirche Zeit und Geld - immer mit dieser Idee der "Besserung". Frage: Der Protestantismus ist heute eine der größten und am besten organisierten sozialen Bewegungen. Bietet er eine Chance für gesellschaftliche Veränderungen oder ist er zutiefst konservativ? V.G.-B.: Es gibt immer mehr protestantische Pfarrer, die zu begreifen beginnen, dass es in diesem Land viele Menschen gibt, die ein schreckliches Leben haben, und zwar nicht, weil sie Gott folgen, sondern weil die sozialen Strukturen ungerecht sind. Diese Entwicklung konnte man in den letzten Jahren auch in Brasilien beobachten, und die Kirchen sind etwas aus ihrer konservativen Ecke herausgekommen. Aber Guatemala hat eine andere Geschichte. Hier verfügen die Evangelikalen über ein enormes soziales Kapital, sie haben eine Vision, haben Geld, Universitäten, Spitäler, und sie haben sehr effiziente soziale Netze. Wer in diesem Land kann von sich dasselbe behaupten? Aber oft scheint es, dass sie selber Angst vor diesem Potential haben. Der Glaube, dass, wer den Kopf gesenkt hält, sicherer ist, ist in Guatemala nach wie vor weit verbreitet. Haroldo Caballeros (evangelischer Pastor und Präsidentschaftskandidat der Partei VIVA im letzen Wahlkampf), den man wegen vielem kritisieren kann, hat mit diesem Denken gebrochen und beschränkt sich nicht darauf, ausschließlich von Religion zu reden. Er sagt: "Wir haben ein enormes Potential, und wir haben eine Zukunftsvision für dieses Land." |
Original-PDF 458 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 --- Nächstes Fijáte