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Die Aufgabe des Evangelismus ist es, Ordnung ins Chaos zu bringen

Fijáte 458 vom 14. April 2010, Artikel 1, Seite 1

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Die Aufgabe des Evangelismus ist es, Ordnung ins Chaos zu bringen

Der Aufstieg des Protestantismus ist insofern als eine Reaktion auf die Befreiungstheologie zu sehen, als diese sehr viel von ihren AnhängerInnen forderte: Es wurde von ihnen verlangt, die Bibel zu lesen, sie zu verstehen und entsprechend politisch zu handeln. Bei der Pfingstgemeinde dagegen geht es vielmehr darum, Gott zu erleben. Das sind natürlich völlig verschiedene Ansätze und führt zu unterschiedlichen Erfahrungen. Viele Leute kritisierten an der Befreiungstheologie, dass sie zu viel von Politik und zuwenig von Religion spricht. Der Evangelismus hingegen lebt innerhalb der Religion eine neue Spiritualität.

Frage: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass sich zwischen Ihrem ersten Besuch in Guatemala (1980) und Ihrem zweiten (1983) das religiöse Panorama total verändert habe: Evangelische Kirchen waren plötzlich überall anzutreffen. Wie erklären Sie sich diese rasante Veränderung?

V.G.-B.: In diesen Jahren geschahen drei wichtige Ereignisse: Die VGPolitik der verbrannten ErdeNF, der Papstbesuch und die Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag des Einzugs des Protestantismus in Guatemala. Diese drei Ereignisse führten dazu, dass das Thema Religion in der Gesellschaft an Wichtigkeit gewann.

Frage: Dann hatte der Krieg also doch einen Einfluss auf die Verbreitung des Protestantismus?

V.G.-B.: So richtig begann es mit dem VGErdbebenNF 1976. Die Zunahme des Protestantismus hat insofern mit der politischen Gewalt zu tun, als die Leute in Zeiten der Krise immer nach Alternativen suchen, um Ordnung ins Chaos zu bringen: Die einen suchten nach einer politischen Antwort und schlossen sich der VGGuerillaNF an, andere wiederum schlossen sich einem religiösen Glauben an. In Nicaragua geschah genau das gleiche, es gab ein schreckliches Erdbeben, kurz darauf begann der Krieg, und der Sandinismus bot eine Alternative gegen all diesen Schrecken. Als man in den 90er Jahren den Sandinismus nicht mehr als die Lösung sah, kam es zu einem Aufschwung der evangelikalen Kirchen.

Frage: Es ist etwas paradox, dass die Leute sich genau in dem Moment von der katholischen Kirche abwandten, als diese begann, sich den Leuten zuzuwenden.

V.G.-B.: Jemand sagte einmal, die Kirche hat die Armen ausgewählt, und die Armen haben die Pfingstgemeinden gewählt ...

Frage: Der Evangelismus verbietet den Synkretismus zwischen dem Christentum und dem traditionellen Glauben. Ist das kein Hindernis für die evangelischen Kirchen?

V.G.-B.: Doch, das stimmt. Der von den Indígenas verehrte Maximón zum Beispiel hat keinen Platz in der evangelischen Kirche. Aber ein großer Vorteil gegenüber der katholischen Kirche ist, dass die Pastoren immer aus der Gemeinde stammen, viele von ihnen sind Indígenas. Es gibt eine Ablehnung gewisser Traditionen, wie zum Beispiel die Berggeister, aber meistens ignoriert man sie. Man akzeptiert, dass es sie gibt, aber man misst ihnen keine Bedeutung zu.

Frage: Weshalb sind gerade die Pfingstgemeinden so erfolgreich?

V.G.-B.: Es ist eine Form des Evangelismus, der gut zum Land passt. Die Pfingstgemeinden offerieren eine Logik, mit der man das Unglück erklären kann, das Guatemala durchlebt hat. Irgendwie müssen die Menschen das alles ja "verdauen".

Frage: Ist der Protestantismus eine Fortschrittsreligion, verspricht er einen sozialen Aufstieg durch ethisches Verhalten?

V.G.-B.: Ich glaube nicht. Mit Ausnahme der NeupfingstlerInnen vielleicht, die oft Leute aus der Oberschicht sind, sind die meisten ProtestantInnen arme Leute. Ein wichtiger Faktor ist vielmehr, dass viele Evangelikale keinen Alkohol trinken und deshalb die Probleme, die im Zusammenhang mit Alkohol auftreten, bei ihnen nicht vorkommen. Es gibt bei ihnen schon diese Idee der "Besserung", und es gibt Gruppen, die sich wöchentlich treffen, um darüber zu diskutieren, was ein "guter Arbeiter" ist oder wie man "richtig" mit Geld haushaltet. Aber wenn man die lateinamerikanischen Statistiken anschaut, kann man nicht sagen, dass evangelisch zu sein, bedeutet, mehr Geld zu haben. Klar, bei sehr armen Leuten macht es einen finanziellen Unterschied, ob sie Alkohol trinken oder nicht. Ebenso sind Menschen evangelischen Glaubens eher bereit, sich für die Religion einzusetzen, sie opfern ihrer Kirche Zeit und Geld - immer mit dieser Idee der "Besserung".

Frage: Der Protestantismus ist heute eine der größten und am besten organisierten sozialen Bewegungen. Bietet er eine Chance für gesellschaftliche Veränderungen oder ist er zutiefst konservativ?

V.G.-B.: Es gibt immer mehr protestantische Pfarrer, die zu begreifen beginnen, dass es in diesem Land viele Menschen gibt, die ein schreckliches Leben haben, und zwar nicht, weil sie Gott folgen, sondern weil die sozialen Strukturen ungerecht sind. Diese Entwicklung konnte man in den letzten Jahren auch in VGBrasilienNF beobachten, und die Kirchen sind etwas aus ihrer konservativen Ecke herausgekommen. Aber Guatemala hat eine andere Geschichte. Hier verfügen die Evangelikalen über ein enormes soziales Kapital, sie haben eine Vision, haben Geld, Universitäten, Spitäler, und sie haben sehr effiziente soziale Netze. Wer in diesem Land kann von sich dasselbe behaupten? Aber oft scheint es, dass sie selber Angst vor diesem Potential haben. Der Glaube, dass, wer den Kopf gesenkt hält, sicherer ist, ist in Guatemala nach wie vor weit verbreitet. Haroldo Caballeros (evangelischer Pastor und Präsidentschaftskandidat der Partei VIVA im letzen Wahlkampf), den man wegen vielem kritisieren kann, hat mit diesem Denken gebrochen und beschränkt sich nicht darauf, ausschließlich von Religion zu reden. Er sagt: "Wir haben ein enormes Potential, und wir haben eine Zukunftsvision für dieses Land."


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