Die katholische Kirche stärkt ihre soziale Linie
Fijáte 357 vom 12. April 2006, Artikel 1, Seite 1
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Die katholische Kirche stärkt ihre soziale Linie
Auch wenn die katholische Kirche in Guatemala einen Grossteil ihrer Hegemonie eingebüsst hat, ist sie nach wie vor eine wichtige soziale und politische Akteurin. Schon immer haben in Guatemala zwei Kirchen unter einem Dach gelebt: Die eine konservativ und wenig konfrontativ, die andere den sozialen Kämpfen und den Basisgemeinden verpflichtet. Eine interne Dichotomie, die sich in unterschiedlicher Intensität über Jahre die Waage hielt und die sich nun mit der Wahl von Bischof Ramazzini zum Präsidenten der guatemaltekischen Bischofskonferenz (CEG) auf die Seite der sozial engagierten Kirche zu neigen scheint. Vertreter verschiedener Strömungen innerhalb der katholischen Kirche erklärten gegenüber Inforpress (Nr. 1647) die aktuelle Lage des Katholizismus, seine verschiedenen Visionen und seine soziale Position und Beteiligung im guatemaltekischen Gesellschaftsgefüge. Ramazzini: Garant für das SozialeIn einem Moment zunehmender sozialer Probleme hat sich die katholische Kirche mit der Wahl von Alvaro Ramazzini zum Präsidenten der Bischofskonferenz konsequent für die soziale Linie entschieden (siehe ¡Fijáte! 353). Ramazzini ist Bischof von San Marcos und bekannt für seine dezidierten Positionen und seinen Aktivismus in Themen wie dem Minenabbau, der Migration, der Landverteilung und der Freihandelsabkommen. Die Wahl Ramazzinis rief erwartungsgemäss Stimmen auf den Plan, die eine Radikalisierung und Stärkung des Sozialen innerhalb der katholischen Kirche vorhersagen bzw. befürchten. Sämtliche von Inforpress befragten Quellen zeigen sich zufrieden mit der Wahl Ramazzinis, selbst der Opus Dei, der im Prinzip der Linie der Diözese von San Marcos weit entfernt steht. Die Meinungen gehen jedoch auseinander bei der Frage, ob Ramazzini die Geschäfte der Bischofskonferenz wie bisher weiterführt oder ob eine Stärkung der sozialen und progressiven Kräfte innerhalb der Kirche zu erwarten ist. Für den Jesuiten Ricardo Falla ist die Wahl von Ramazzini ein Zeichen des Vertrauens in eine neue Generation von Bischöfen, denen die Veteranen langsam das Spielfeld räumen. Santiago Otero, ehemaliger Hilfssekretär der Bischofskonferenz sieht in der Wahl von Ramazzini die Weiterführung der bisherigen Linie der CEG. Bereits sein Vorgänger Rodolfo Quezada Toruño habe immer aktiv und realitätsbezogen Position eingenommen und sich sehr bestimmt für soziale Belange eingesetzt. Diese Meinung vertritt auch der Bischof von Quetzaltenango und ebenfalls Ex-Präsident der CEG, Víctor Hugo Martínez: "Es wird keine Richtungsänderung geben, sondern die bereits eingeschlagene Richtung wird mit mehr Engagement weiter verfolgt". Nicht alle teilen diese Meinung. Tomás García, Pfarrer in der Diözese von Martínez, ist der Meinung, die Kirche sei mit der Wahl Ramazzinis in Sachen Soziales und Progressivität zu weit gegangen. Für Pfarrer Ricardo Bendaña, Jesuit und Historiker, bedeutet die Wahl Ramazzinis das Wiederaufnehmen einer Ini-tiative, die mit der strategischen Ermordung von Bischof Gerardi verloren ging. Weiterführung oder Bruch mit der bisherigen Linie der Bischofskonferenz, Tatsache ist, dass die Wahl von Ramazzini das Abbild einer Kurie ist, die laut Bendaña, politisch links oder mitte-links steht. Einer Kurie, in der es kaum einen Vertreter der konservativen Linie gäbe, alle hätten ein soziales Bewusstsein, meint der Jesuit. Politisch-Religiöse DebatteDas aktive Engagement der katholischen Kirche in konfliktiven Themen wie kürzlich die Mediation im Streit der LehrerInnen mit der Erziehungsministerin, oder im Minenabbau, die klare Positionierung in sozialpolitischen Fragen wie beispielsweise der Migration oder den Freihandelsabkommen, hat in gewissen Kreisen zur Kritik geführt, die Kirche würde ihr Mandat überschreiten und sich in politische Themen einmischen. Diese Kritik ist nicht neu, ebenso wenig die Debatte über die Grenzen des kirchlichen Engagements. Alle von Inforpress befragten Personen, unabhängig ihrer religiösen Tendenz, sind sich jedoch darin einig, dass jeder Aspekt, der mit der Würde des Menschen zu tun hat, zum Auftrag der Kirche gehöre. Fernando Bermúdez, Theologe, Laienmissionar und Koordinator des Menschenrechtsprogramms der Diözese San Marcos, erklärt in diesem Zusammenhang, dass die Einmischung der Kirche in solche Fragen nicht eine politische Angelegenheit sei sondern Teil des Evangeliums und somit Teil der sozialen Doktrin der Kirche. Die Rechte habe Christus in die Sakristei sperren, sein soziales Engagement zunichte machen und sein Wirken allein aufs Spirituelle reduzieren wollen, kritisiert Bermúdez. Selbst Sektoren wie der Opus Dei, die traditionellerweise im sozialen Bereich weniger aktiv sind, erklären gegenüber Inforpress: Die Bischöfe haben die Verpflichtung, die Menschen in zivilen Fragen zu beraten und zu orientieren, vor allem wenn es um die Gerechtigkeit und Würde der Gläubigen geht. Pedro Vinicio Donis, Direktor des Informationsbüros von Opus Dei in Guatemala, hebt speziell die Beteiligung von Kardinal Rodolfo Quezada als Vermittler bei den Friedensverhandlungen zwischen der Guerilla und der Regierung hervor. Ebenso die Rolle von Ramazzini bei der Verteidigung der menschlichen Würde der am meisten Benachteiligten. "Das Problem ist der Protagonismus, den viele Menschen den Pfarrern vorwerfen. Doch was Ramazzini macht ist nichts anderes, als seine Aufgabe als Pfarrer zu erfüllen. Wenn ihm jemand vorwirft, er mische sich in die Politik ein, dann soll diese Person zuerst die Dokumente der Kirche über die Aufgaben eines Bischofs lesen und sie wird sehen, dass Ramazzini das macht, was er machen muss, nämlich die soziale Doktrin der Kirche umsetzen", ergänzt Donis. In eine ähnliche Richtung spricht auch Víctor Ruano, ehemaliger Direktor des Priesterseminars: "Ich finde es hervorragend, mehr noch, ich finde es richtig und notwendig, dass sich die Kirche in politische Themen einmischt. Politische Themen sind immer menschliche Themen und alles, was den Menschen betrifft, ist für die Kirche von Interesse. Die Kirche mischt sich ein, um die Würde des Menschen zu verteidigen, vor allem dann, wenn es offensichtlich ist, dass die Regierung sich nicht um die Würde der Menschen kümmert und nur im Dienste der Mächtigen steht." Nach oben |
Konservative MoralGegenüber der aktiven und progressiven Einstellung in sozialen Themen, welche die guatemaltekische und überhaupt die lateinamerikanische Kirche auszeichnet, ist die kirchliche Position in moralischen Fragen nicht gerade fortschrittlich. Dies geben auch alle von Inforpress befragten Kirchenmänner zu, vor allem, wie Tomás García konkretisiert, wenn es ums Thema Sexualität geht. Dies hat sich in der jüngsten Debatte um das Familienplanungsgesetz gezeigt, gegen das sich die Bischofskonferenz vehement ausgesprochen hat. "Im Sozialen ist die Kirche offen, engagiert, aber im moralischen ist sie konservativer. Ich habe sogar festgestellt, dass die KatholikInnen, die im sozialen Bereich am engagiertesten sind, in moralischen Fragen oft am verschlossensten sind. Für mich ist das fragwürdig. Wir dürfen nicht dogmatisch sein, wir dürfen nicht einer Diktatur der Dogmen verfallen", erklärt Fernando Bermúdez. Ricardo Bedaña dazu: "Wir sind TraditionalistInnen. Es gibt eine Art geistigen Konvervatismus. Es gibt Dinge, über die nicht verhandelt werden kann, wie zum Beispiel Abtreibung, aber auch hier findet eine gewisse Öffnung statt, z.B. beim Thema Scheidung. Hier scheinen die Bischöfe fortschrittlicher zu sein als die Gläubigen. Junge SeminaristInnen haben heute die Tendenz, konservativer zu sein als frühere Generationen." Und die Befreiungstheologie?1976 haben die Bischöfe in Guatemala ihr traditionelles Schweigen gebrochen und mit ihrem Hirtenbrief "Gemeinsam für Hoffnung" eine anklägerische Richtung eingeschlagen. Damit brachen sie die konservative und traditionelle Allianz mit der Macht, verkörpert bislang durch Bischof Rossell, der den Sturz von Jacobo Arbenz befürwortete, und Bischof Casariego, der explizit verbot, über irgend etwas im Zusammenhang mit "sozialer Gerechtigkeit" zu sprechen. Seit 1976 und speziell seit dem Tod von Casariego im Jahr 1983, erhebt die Kirche immer und immer wieder ihr Wort zur Situation des Landes. Ein Höhepunkt ist der Hirtenbrief im Jahr 1988, "Clamor por la Tierra", wo sie das Landthema aufnimmt und die ungerechte Landverteilung anprangert. Diesen Bewusstseinsprozess musste die guatemaltekische katholische Kirche in Form von Verfolgungen und Ermordungen von Pfarrern und Katecheten teuer bezahlen. Die Anzahl der wegen ihres christlichen Glaubens Ermordeten führte dazu, dass die Kirche als eine Märtyrerkirche bezeichnet wurde. Durch Gewalt zum Schweigen gebracht und wegen der Verfolgung, der diese Doktrin durch den Vatikan ausgesetzt ist, verliert die Befreiungstheologie an Kraft und wird in den Hintergrund verdrängt. Als ein "Thema vergangener Jahre" bezeichnet der Bischof von Escuintla, Víctor Hugo Palma, diese Linie. Heute habe sich das Konzept der Befreiungstheologie weiterentwickelt, man spreche von einer Theologie der Solidarität. Viele der Befragten sind der Meinung, die Befreiungstheologie sei überhaupt nicht verschwunden, im Gegenteil, sie sei noch sehr präsent im Gedankengut der lateinamerikanischen Kirche. Gemäss Santiago Otero gehört sie zu den wichtigsten Prinzipien vieler Kirchen. Wenn die Realität sich nicht verändert, ist die Befreiungstheologie aktueller denn je, auch wenn man sie nicht so nennt", erklärt Otero. "Der Name ist das Geringste. Wir sprechen nicht von Befreiungstheologie, wir leben sie", bestätigt Ramazzini. Unterschiede und GemeinsamkeitenWährend Jahrzehnten, während Jahrhunderten, gab es innerhalb der katholischen Kirche verschiedene Tendenzen und Arten, die Religion zu verstehen. Es sind Strömungen, die in groben Zügen in "progressiv" und "konservativ" unterteilt werden können. Unterschiede die, wie einige Theologen gegenüber Inforpress erklären, auch heute nicht ganz verschwunden sind, die sich aber im Laufe der Zeit angeglichen und ausgeglichen haben. Heutzutage würden die Gemeinsamkeiten mehr gewichtet als die Unterschiede. Uneinigkeit herrscht darüber, wie viele Vertreter der Kirchenhierarchie die Linie der Bischofskonferenz wirklich gutheissen. Víctor Hugo Palma spricht von Haltungen, nicht von Tendenzen. Die Unterteilung in progressiv und konservativ genüge nicht als Erklärung, einige Kirchenleute seien in gewissen Fragen offener, in anderen nicht. Man dürfe das nicht verallgemeinern. Als Beispiel nennt er Bischof Romero aus El Salvador, der dem Opus Dei nahe gestanden habe. Gemäss Víctor Ruano zeichnet sich die aktuelle Bischofskonferenz durch die Vielfalt der darin vertretenen Tendenzen aus, auch wenn sich diese nicht öffentlich ausdrücken. Dasselbe könne man von der Vereinigung der Religiösen Guatemalas (COFREGUA) sagen, ebenso von den laizistischen Vereinigungen. Einige verfolgen mehr die Doktrin, andere machen sich für die Benachteiligten stark, wieder andere konzentrieren sich auf die Inkulturation oder auf Befreiungsprozesse. Bendaña ergänzt, dass die guatemaltekische Kirche stark, aber gleichzeitig sehr zersplittert sei. Der konservative Sektor sei gewichtig, aber wenig einflussreich in der Bischofskonferenz. Als konservativer Sektor werden u.a. Bewegungen wie der Opus Dei, die Heraldos de Díos ("Herolde Gottes") und die Neokatechumen (Kikos, nach ihrem Begründer Kiko Argüello benannt, die überwiegend die Erwachsenentaufe vornehmen), ebenso die Charismatische Erneuerung. Zu den einigenden Gemeinsamkeiten der katholischen Kirche gehören laut Bendaña die gemeinsame 500-jährige Geschichte, die Papsttreue, die Hierarchie, die Verehrung der Jungfrau Maria und, zu einem gewissen Grad, die protestantische Herausforderung. Ein Protestantismus der sich, in seiner neuapostolischen Version, in Guatemala stark ausgebreitet hat mit einer Botschaft, die Erlösung ohne soziales Engagement verspricht. Diese neuen Strömungen machen dem Katholizismus ihren traditionellen Platz streitig und ziehen auch immer mehr konservative Sektoren an, während die katholische Kirche mehr die sozial denkenden Sektoren vereint. Unabhängig von Tendenzen, Spaltungen und Widersprüchen kann nicht geleugnet werden, dass die katholische Kirche in der Lage gewesen ist, sich den Veränderungen der Zeit anzupassen und eine enorme Wandlungsfähigkeit an den Tag zu legen. |
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