Die Auswirkungen der temporären Emigration in die USA auf die Herkunftsorte in der Sierra de Los Cuchumatanes
Fijáte 288 vom 2. Juni 2003, Artikel 4, Seite 3
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Die Auswirkungen der temporären Emigration in die USA auf die Herkunftsorte in der Sierra de Los Cuchumatanes
Im Hochland der Cuchumatanes sind bis zu 90% der Bevölkerung Indígenas. Die Region, in der sie leben, liegt auf einer Höhe von 500 bis 3´600 Meter über Meeresniveau und erstreckt sich über die Departements Huehuetenango und El Quiché. Aufgrund des kalten Klimas, der unfruchtbaren Erde und den mageren Erntegewinnen erfolgte die erste Binnenwanderung bereits Mitte des 20. Jahrhunderts ins Flachland, um dort Mais, Kakao, Chili, Obst und Zucker anzubauen. Die Möglichkeiten einer wirtschaftlichen Verbesserung für die Bevölkerung in der Region sind sehr eingeschränkt. 80% widmen sich der Agrarwirtschaft, deren Landbesitz allerdings häufig zu klein ist, um die Produkte auf überregionaler Ebene vermarkten zu können. Daher handelt es sich in der Regel um eine Subsistenzwirtschaft, die, wenn überhaupt, gerade einmal ein karges Überleben ermöglicht. In der landwirtschaftlich geprägten Region der Cuchumatanes kann die Emigration als eine wichtige Strategie zur Diversifizierung der Verteilung von Haushaltsressourcen, v.a. der Ressource Arbeit betrachtet werden. Viele Haushalte haben oder hatten ein oder mehrere Familienmitglieder in ,,El Norte", den USA. Dort arbeiten sie einige Jahre als Gärtner, im Bau- und Gastronomiegewerbe, in den sweatshops oder auch als Haushaltshilfen, schicken Geld in ihren Herkunftsort über Western Union oder Moneygram, und ermöglichen mit diesen ,,remesas" (Geldrücküberweisungen) den Kauf eines Pick-up, Land, dem Bau eines grösseren Hauses oder den Beginn eines kleinen Gewerbes. In den ländlichen Gemeinden mit einer hohen Emigrationsrate ist der ökonomische Wandel deutlich zu erkennen: Banken und Kreditinstitute haben sich in den Hauptstrassen etabliert sowie Hotels und kleine Geschäfte mit Telefonkabinen, die besonders günstige Tarife in die USA anbieten. Restaurants und Geschäfte tragen Namen wie ,,California", ,,Lucky" oder ,,Golden Plaza". Auf vielen Autos sind Aufkleber mit der amerikanischen Nationalfahne oder auf der Windschutzscheibe Logos wie ,,Regalo de Dios" (,,Geschenk Gottes") oder ,,Mi destino es viajar" (,,Mein Schicksal ist reisen"), welche darauf hindeuten, dass der oder die BesitzerIn bereits in den USA war und womöglich auch mit dem dort gekauften Fahrzeug die Rückreise angetreten ist. Die regionalökonomische Wirtschaft in den Herkunftsorten ist stark von den remesas aus den USA beeinflusst. Familien, die regelmässig Zugang zu Devisen haben, sind in der Regel auch von diesen abhängig. Die starke Dollarzirkulation hat in den letzten Jahren zu einem Anstieg des Preisniveaus geführt sowie zu einer Inflation, unter der die Teile der Bevölkerung am meisten zu leiden haben, denen keine Dollar zur Verfügung stehen. In Gesprächen vor Ort wurde deutlich, dass die Devisen langfristig keine optimale Lösung für die Ökonomie der Heimatregionen darstellen. Oft existieren keine zukunftsträchtigen Investitionsmöglichkeiten, das Geld wird stattdessen kurzund mittelfristig ausgegeben. Neben den wirtschaftlichen Auswirkungen dieser temporären Migration haben weitere Faktoren einen Einfluss auf die Herkunftsorte der MigrantInnen, die sich auf das Zusammenleben innerhalb der Familie einerseits und dem Kommunalleben andererseits auswirken. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Effekte, die eine Desintegration der Kernfamilie zur Folge haben. Es werden nicht nur Probleme zwischen Ehepartnern durch die Migration eines Elternteils generiert, sondern auch zwischen Eltern und deren Kindern. RückkehrerInnen bringen neben ökonomischen Gütern auch neue Ideen, neue Denkmuster, Werte und Normen wieder mit nach Hause. Vor allem die ältere Generation in den Gemeinden beklagt den Einfluss, den die RückkehrerInnen auf die Kultur, die Tradition, das Gemeinschaftsleben und die Religion haben. Der Anstieg der Kriminalität sowie des Drogenkonsums und -handels unter Jugendlichen wird auch dem Einfluss der temporären Reise in die USA zugeschrieben. Die Effekte der Migration eines Familienmitgliedes auf den Haushalt prägen das tägliche Leben innerhalb der Familie. Der Vater gilt gemeinhin als das Familienoberhaupt im Haushalt und hat gerade in ländlichen, traditionsbewussten Gebieten eine ,,sakrale" Rolle inne auch wenn er über längere Zeit abwesend ist und die Ehefrau praktisch seine Position eingenommen hat. Er ist in der Regel derjenige, der allein für mehrere Jahre in die USA emigriert und dort arbeitet. Das Beispiel der Gemeinde San Pedro de Soloma im Bezirk Huehuetenango zeigt, dass jeder zweite Haushalt ein oder mehrere Familienmitglieder in den USA hat. Von diesen Haushalten lebt die Hälfte ohne den Familienvater. Dass heisst, dass die Ehefrau faktisch die Funktionen des Mannes - zusätzlich zu ihren eigenen - übernimmt. Sie muss nun Entscheidungen treffen und Verantwortung tragen, welche vorher ihrem Mann zufielen. Daraus ergeben sich Probleme, die vor dem Hintergrund einer Stereotypisierung der Gender-Rollen zu verstehen sind. Die Aufgabe der Frau ist es, die Integrität der Familie zu gewährleisten, die Finanzen zu koordinieren sowie Entscheidungen zu fällen, welche die Erziehung der Kinder oder den Besitz betreffen. Das Fehlen eines Familienmitgliedes erfordert zudem die Reorganisation der Funktionen in einer Weise, die eine Neudefinierung der Rollen innerhalb der Familie zur Folge hat. Obwohl dies eine Gelegenheit sein könnte, sich durch die neuen Aufgaben und Verantwortung eine gewisse Unabhängigkeit oder Emanzipation zu verschaffen, zeigt das Beispiel von Soloma, dass dies nur selten der Fall ist. Die Doppel-Rolle der Frau erfordert viel Zeit und stellt eine grosse Belastung für sie dar. Neben den zusätzlichen Aufgaben darf die Frau selbstverständlich nicht die ,,Ehre" ihrer Ehe riskieren, indem sie öffentlich mit einem anderen Mann spricht, es sei denn, es handelt sich um den Vater, den Bruder oder ein anderes Familienmitglied ihres Ehemannes. Der Familie des Gatten kann sogar die Aufgabe zukommen, sicher zu stellen, dass die Frau ihren Partner während seiner Abwesenheit nicht betrügt. Bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen sehen sich die Ehefrauen von Männern, die sich in den USA aufhalten, zudem vor Autoritätsprobleme gestellt. Der Mann bzw. der Vater ist die Respektsperson in der Familie. Sein Fehlen verursacht Schwierigkeiten bei der Erziehung der Kinder, da die Mut- Nach oben |
ter bei den Kindern nicht die gleiche Autorität geniesst, obwohl sie sowohl die Rolle als auch die Aufgaben des Vaters übernimmt. Auf der kommunalen Ebene gibt es einen Wandel in Bezug auf den Lebensstil und das Konsumverhalten. Dies betrifft Aspekte wie Ernährungsgewohnheiten, Bildung, Gesundheit, Kleidung, Freizeitverhalten, Sprache und v.a. die Erwartungen, Bestrebungen und Hoffnungen auf eine Verbesserung der Lebensqualität. Dies geht einher mit einem Wertewandel, der sich durch eine steigende Tendenz zu individualistischem Handeln charakterisieren lässt. Die Lebensperspektiven konzentrieren sich verstärkt auf persönliche Ziele oder Projekte und haben wenig Bezug zur indigenen Gemeinschaft und dem Kommunalleben. Dies steht im Kontrast zur Tradition, in der es gilt, sich Prestige und einen sozialen Aufstieg in der Gemeinschaft durch ehrenamtliche Tätigkeiten zu erarbeiten, wovon die Gemeinde wiederum profitiert. In den Bereichen Bildung und Gesundheit kann allerdings eine Verbesserung im Vergleich zu den Orten ohne eine hohe Emigrationsrate festgestellt werden. Zudem können öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Gesundheitszentren und Kirchen mit Spendengeldern von MigrantInnen aus el norte finanziert und unterhalten werden. Gestärkt werden diese Verbindungen durch zahlreiche kirchliche Partnerschaften. Trotz des Wissens um die negativen Effekten innerhalb der Herkunftsorte ist die Tendenz zu emigrieren steigend, die Wahrnehmung der positiven Auswirkungen der Migration überwiegt. Die Fernsehbilder, die über Satellitenschüssel selbst in den abgelegensten Gegenden empfangen werden können, erwecken den Wunsch, einen Lebensstil wie die ,,gringos" zu führen. Es gibt jedoch inzwischen vor Ort Kooperativen und Nichtregierungsorganisationen, die gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung Strategien für eine nachhaltige regionale Entwicklung erarbeiten. Dadurch wird den Kommunen die Möglichkeit gegeben, eine stabile und sich selbst tragende Wirtschaft aufzubauen und überregionale und vereinzelt sogar internationale Märkte für sich zu erschliessen. Es werden Bildungsinitiativen gefördert und Projekte verfolgt, welche die Stellung der Frau in der Gemeinschaft verbessern sollen. Diese Mikro- bzw. Mesoprojekte bieten den Menschen in den Herkunftsregionen eine Möglichkeit, ihre wirtschaftliche Lage auf lange Sicht zu verbessern und zu sichern und tragen dazu bei, dass die Emigration nicht mehr als die einzige Option eines ökonomischen Aufstiegs erscheint. (Philipp Burtzlaff) |
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