Käufliche Gesundheit
Fijáte 293 vom 10. Sept. 2003, Artikel 1, Seite 1
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Käufliche Gesundheit
Auch in Guatemala wird über eine Reform des Gesundheitswesens gestritten Die 5. WTO-Ministerkonferenz in Cancún, Mexiko, vom 10. bis zum 14. September ist ein wichtiger Meilenstein in der neuen Welthandelsrunde. Nachdem die letzte grosse Welthandelsrunde im Jahr 1994 mit der Gründung der Welthandelsorganisation WTO zu Ende gegangen war, begannen im Jahr 2000 die Verhandlungen zur weiteren Liberalisierung des Agrar- und Dienstleistungshandels. Einer der geplanten Themenschwerpunkte in Cancún ist die Liberalisierung von Dienstleistungen. Die Marschrichtung wird von den Verhandlungen zum General Agreement on Trade in Services (GATS) vorgegeben. Ziel dieses Abkommens ist es, "Handelshemmnisse" abzubauen, um den wettbewerbsfähigsten Dienstleistungsunternehmen einen weitreichenden Zugang zu internationalen Märkten zu verschaffen. Einer der zur Verhandlung stehenden Sektoren ist die Gesundheitsversorgung. Vor 25 Jahren hat die Weltgesundheitsorganisation WHO in Alma Ata beschlossen, das Menschenrecht auf angemessene Gesundheitsversorgung bis zum Jahr 2000 für alle Menschen durchzusetzen. 1965 wurde die Frist bis 2020 verlängert. Seither wurden zwar deutliche Verbesserungen des Gesundheitsstandards der Weltbevölkerung erreicht, doch gerade in den ärmsten Ländern der Erde sind noch immer Millionen von Menschen von diesem Fortschritt ausgeschlossen. Insgesamt ist die Lebenserwartung zwar gestiegen, aber auch die Zahl der Menschen, die in absoluter Armut lebt, hat zugenommen - und Armut macht krank. Wir danken Andreas Boueke, dass wir an dieser Stelle seinen Artikel abdrucken dürfen. Ähnlich wie in den meisten Ländern Lateinamerikas sind auch in Guatemala die Anzeichen einer Privatisierungswelle im Gesundheitsbereich nicht zu übersehen. Um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diesen Prozess zu lenken, haben sich zahlreiche Organisationen in der Nationalen Gesundheitsinstanz zusammengeschlossen. Die Koordinatorin des Netzwerks, Lidia Morales, möchte eine weitreichende Privatisierung des Gesundheitssektors verhindern: "Doch wir erleben eine schleichende Privatisierung durch Abnutzung. Weil die Regierung die öffentlichen Dienstleistungen bewusst vernachlässigt, geht das Vertrauen der Bevölkerung verloren. So steigt der Bedarf an privaten Angeboten." Die Zahl der teuren Privatkliniken nimmt ständig zu. Es gibt dort zwar keine Warteschlangen und jedeR Einzelne wird sorgfältig betreut, aber einen solchen Service können sich die meisten GuatemaltekInnen nicht leisten. Der Bauarbeiter Coronado Ramos zum Beispiel muss mit seinem Monatseinkommen von rund zweihundert Euro eine sechsköpfige Familie ernähren: "Wir Armen haben nie Geld. Wenn wir krank sind, müssen wir dorthin gehen, wo wir zwar schlecht behandelt werden, aber wo wir zumindest nicht zu zahlen brauchen." Doch auch in dem staatlichen Krankenhaus Roosevelt sind schon längst nicht mehr alle Leistungen umsonst. Zum Beispiel muss die Krankenschwester Gloria in der Notaufnahme immer wieder untätig das Sterben zahlungsunfähiger Unfallopfer beobachten. "Patienten mit Schädeltraumata können wir oft deshalb nicht retten, weil zuerst eine Tomographie gemacht werden muss. Die aber kostet Geld. Das Krankenhaus hat nicht die nötigen Mittel, um den Leuten eine Tomographie zu schenken. So bleibt der Patient/die Patientin ohne Behandlung bis ein Familienmitglied auftaucht und zahlt. Nach etwa sechs Stunden sind viele tot, obwohl der Eingriff nicht so schwierig gewesen wäre." Der Direktor des Hospital Roosevelt, Doktor Joel Sambrano, weiss um die gravierenden Mängel der Betreuung in seinem Krankenhaus. Seiner Meinung nach ist das öffentliche Gesundheitssystem in Guatemala absolut überfordert: "Die Zahl der Menschen, die zu uns kommen, ist enorm. Die Nachfrage wird solange steigen, bis sich das Land wirtschaftlich stabilisiert hat und die Leute genug verdienen, um Privatkliniken aufsuchen zu können." Im Prinzip finanziert sich das öffentliche Gesundheitswesen vorwiegend aus Steuern. Doch mit etwa neun Prozent des Bruttosozialprodukts hat Guatemala das niedrigste Steueraufkommen in ganz Lateinamerika. Weil zudem noch die Militärausgaben höher sind als die für das Gesundheitswesen, funktionieren die öffentlichen Krankenhäuser meist am Rand des Existenzminimums. So gesehen ist das Gesundheitswesen schon längst weitgehend privatisiert. 75 Prozent der Ausgaben werden im privaten Bereich getätigt, vor allem in den Apotheken. Nur 25 Prozent sind öffentlich. Der Generalsekretär der nationalen Gewerkschaft der GesundheitsarbeiterInnen, Luis Alberto Lara, schimpft: "In diesem Gesundheitssystem werden unsere Kinder und Frauen weitgehend ausgeschlossen. Sie bekommen keine Hilfe und sterben an Krankheiten, die sich leicht vermeiden liessen." Viele Kinder sind schon bei der Geburt unterernährt. In Guatemala kommt nicht einmal ein Viertel der Babys mit Unterstützung eines Arztes oder einer Ärztin auf die Welt. Bei den meisten Schwangerschaften übernehmen Hebammen oder erfahrene Frauen aus der Nachbarschaft die Verantwortung. Schon ab ihrem ersten Lebenstag kommen viele Babys mit verunreinigtem Wasser in Berührung. Sie Nach oben |
schlafen auf dem nackten Fussboden und bekommen nicht ausreichend Nahrung, weil auch die Mütter unterernährt sind. Solche Verhältnisse schwächen die Widerstandskraft des Körpers und fördern die Ausbreitung von Infektionen. Versorgung bei Krankheit ist in Guatemala ein Recht, das eher für die Zahlungsfähigen reserviert ist. Statistisch gesehen kommt ein Arzt/eine Ärztin auf tausend Menschen. Da jedoch die meisten ÄrztInnen in der Hauptstadt arbeiten, gibt es in vielen ländlichen Regionen nicht eineN einzigeN ausgebildeteN MedizinerIn, geschweige denn ein Gesundheitszentrum. Ob eine Privatisierung des Gesundheitssystems diese Situation verbessern würde? Jorge Labareda, Direktor des konservativen Sozialforschungszentrums CIEN, argumentiert, dass es ohne Bezahlung keine Konkurrenz geben werde: "Und ohne Konkurrenz kann kein effizientes Gesu ndheitssystem entstehen. Deshalb halten wir es nicht für ein Problem, wenn auch im öffentlichen Sektor Profite gemacht werden, solange die Angebote vernünftig sind." Der Liberalisierungsprozess und der Rückzug des Staates aus sozialen Bereichen scheint unaufhaltbar. Einen weiteren Schub bekommt diese Entwicklung durch die Verhandlungen über das General Agreement on Trade and Services, GATS. Das Abkommen wird im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit diskutiert, obwohl das GATS weitreichende Konsequenzen für Menschen in allen Ländern haben wird, ob sie nun in Deutschland leben, in den USA, in Ägypten oder in Guatemala. Ähnlich wie bei Maschinen und anderen Waren sollen künftig auch Dienstleistungen frei gehandelt werden können. So wird ein riesiger Markt entstehen. Der Direktor des Büros der Weltbank in Guatemala, Eduardo Somensato, erhofft sich von dem GATS-Abkommen positive Entwicklungsimpulse für die armen Länder der Welt. "Die öffentliche Verwaltung bringt nicht zwangsläufig die besten Voraussetzungen mit, um ein Gesundheitswesen zu managen. Wir glauben, es wäre viel effizienter, diese Aufgaben mit Verträgen und Konzessionen an die Privatwirtschaft zu übergeben. Natürlich kostet das Geld. Jede Gesellschaft muss für ihre Dienstleistungen zahlen. Die Frage ist, ob direkt bezahlt werden soll oder indirekt über Steuern. Für Einzelpersonen mag es teurer sein, einen privaten Dienstleister aufzusuchen. Aber das muss nicht unbedingt schlecht sein. Wer mehr bezahlt, bekommt einen besseren Service, einen besseren Zugang und letztlich eine bessere Gesundheit." KritikerInnen der Privatisierungswelle weisen darauf hin, dass die meisten Menschen in Lateinamerika nicht genug Geld haben, um für ihre Gesundheitsversorgung zu zahlen. Der Politologe Omero Fuentes spricht von einer Ausgrenzung der Bevölkerungsmehrheit: "Die soziale Vision der Weltbank ist an Schreibtischen entstanden. Das Denken dieser Leute hat nichts mit der Realität unseres Landes zu tun. Sie entwickeln Rezepte, die vielleicht in einem reichen Land wie Deutschland funktionieren könnten. Aber in Mittelamerika ist die Situation eine völlig andere. Trotzdem drängt die Weltbank unsere Regierungen in Richtung dieser Rezepte. Sie sagt: `Ihr bekommt nur dann einen hundert Millionen Dollar Kredit, wenn ihr diesen und jenen Bereich eures Gesundheitswesens reformiert.'" Der Reformbedarf im Gesundheitswesen ist offensichtlich, ob in Deutschland, in Guatemala oder in den meisten anderen Ländern der Welt. Doch überall dort, wo der Solidargedanke durch Privatisierungskonzepte in den Hintergrund gerückt wurde, sind die Kosten für die Gesundheitsversorgung gestiegen. In Chile zum Beispiel, dem lateinamerikanischen Musterland der LiberalisiererInnen, richtet sich die Versorgung heute vorwiegend nach dem Geldbeutel. In den USA, dem einzigen Land der Welt, in dem noch nie in grossem Stil ein Umverteilungssystem im Gesundheitssektor etabliert wurde, ist die Versorgung so teuer wie nirgendwo sonst. Demgegenüber müssen sich die meisten Menschen in armen Ländern wie Guatemala mit einer Gesundheitsversorgung auf niedrigstem Niveau begnügen, wenn überhaupt. Vor dem Hospital Roosevelt in Guatemala-Stadt vergeht kein Tag, ohne dass sich eine Schlange wartender Kranker bildet. Einige haben Glück und bekommen ihre notwendige Behandlung. Für andere wird es zu spät sein. Kranke Menschen in Guatemala müssen geduldig sein. Wer nicht bezahlen kann, wartet oder stirbt. |
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