Die indigene Beteiligung am politischen Geschehen
Fijáte 295 vom 22. Okt. 2003, Artikel 1, Seite 1
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Die indigene Beteiligung am politischen Geschehen
Guatemala ist dem Wahlfieber verfallen. Die Strassen und Häuser sind gepflastert mit Plakaten von Kandidaten, die sich aus der Ferne auffallend ähnlich sehen. Die Seifenopern und Unterhaltungssendungen im Fernsehen werden alle paar Minuten von einem Wahlspot unterbrochen, die alle ähnlich tönen. Die populistische Art, in der diese Spots daherkommen, soll über den Mangel an seriösen Wahlprogrammen hinwegtäuschen. Es fehlt an gehaltvollen Informationen und Auseinandersetzungen, die über die Frage ,,Gewinnt er oder gewinnt er nicht?" hinausgehen. Im folgenden Artikel macht sich der Soziologe Ricardo Sáenz de Tejada Gedanken über die politischen Prozesse der letzten Jahre, die Beteiligung der indigenen Bevölkerung daran sowie über den aktuellen Wahlprozess. Der Artikel erschien im Reporte Diario 341 und 342 von Incidencia Democrática. Einleitung: Die politische Beteiligung der Indígenas zu analysieren stellt einen vor eine Reihe von Fragen und vor eine Reihe theoretischer, konzeptueller und methodologischer Leerstellen, die schwer zu füllen sind. Von welchem Zeitraum will man sprechen? Von welchem Moment an kann von einer politischen Beteiligung gesprochen werden? Welche Formen politischer Herrschaft haben sich im Laufe der Jahre in den indigenen Gesellschaften entwickelt? Die Unterdrückung der indigenen Völker seit Anfang des 16. Jahrhunderts auf dem heutigen guatemaltekischen Territorium bedeutete gleichzeitig die Zerstörung der autochthonen Staaten. Es entstanden Indigene Völker und aufgrund mehrerer und komplizierter Prozesse entstanden die verschiedenen indigenen Gemeinschaften. (Hierbei wird von einer Definition ausgegangen, die nicht auf linguistischen Gruppen aufbaut, sondern auf einem Gemeinschaftsleben, das auf territorialen und überregionalen Zusammenschlüssen basiert.) Die Formen der Machtausübung in den indigenen Gesellschaften waren seit jeher unterschiedlich. Mit dem Beginn der Spanischen Herrschaft übernahm die indigene Nobleza Verantwortung und übte eine Art Vermittlerrolle aus. Zu ihren Aufgaben gehörte das Einziehen der Tribute und Abgaben, die Organisierung der Fronarbeit, das Abfangen von Protesten etc. Im Gegenzug wurde die Nobleza von den Spaniern begünstigt. Sie musste keine Abgaben bezahlen, hatte gewisse Privilegien und entwickelte sich zur höchsten Autorität der indigenen Gemeinschaft. Doch die indigene Nobleza konnte ihren Ruf und ihre Autorität nicht lange aufrechterhalten. Nach und nach wurde sie ersetzt durch die Gruppe der Principales: Ältere Menschen, die eine einflussreiche Familie vertraten oder eine Gruppe, die auf einem bestimmten Gebiet lebte, und die ihre Macht aufgrund des Dienstes, den sie an der Gemeinschaft leisteten, aufbauen und erhalten konnten. Dieses System der traditionellen Machtpositionen oder religiös-zivilen Hierarchie erlaubte die Konstituierung einer internen politischen Ordnung in den indigenen Gemeinschaften. Ihre Entwicklung und ihre soziale Reproduktion waren garantiert. Und obwohl dieses System ein fragiles soziales Gleichgewicht schuf, war es nicht ohne Widersprüche. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kollabierten diese traditionellen Hierarchien. Interessant dabei ist, dass dieser Zusammenbruch parallel mit dem Beginn von politischen Wahlkampagnen in den mehrheitlich von Indígenas bewohnten Gemeinden einhergeht. Ebenso wichtig zu erwähnen ist, dass das Wahlrecht in Guatemala keine lange Tradition hat. Die Verfassung von 1945 verpflichtet alle Männern über 18 Jahren, die lesen und schreiben können, sich ins Wahlregister eintragen zu lassen. Wählen bedeutete für sie Wahlpflicht. Für Frauen (egal ob sie lesen und schreiben konnten oder Analphabetinnen waren) sowie für analphabetische Männer war Wählen nur ein Recht und niemand konnte sie dazu zwingen. Mit dem Aufkommen der Parteien auf Gemeindeebene in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Grundlage für eine politische Kultur und Praxis gelegt, die bis in die heutige Zeit gültig ist. Sie charakterisiert sich durch die Gegensätze: (Haupt-)Stadt Land und Bezirkshauptorte Dörfer. Die auf nationaler Ebene arbeitenden politischen Parteien werden in der Hauptstadt gegründet und von dort aus geführt. Eine Analyse über die Zusammensetzung der Führungseliten der Parteien, die im Parlament vertreten sind, ergab, dass 70% der VertreterInnen dieser Leitungsgremien in der Hauptstadt leben. Diese Dynamik ändert sich während der Wahlkampagne, wenn die Parteien versuchen, auch in den Gemeinden präsent zu sein. Auf dem Land spielt sich das politische Leben in den Bezirkshauptorten ab, wo die einzelnen Gruppierungen oder lokalen Parteivertretungen sich aufgrund ausgehandelter Privilegien einer der nationalen Parteien anschliessen. Dabei bieten die nationalen Parteien die legale Struktur und in einigen Fällen eine finanzielle Unterstützung. Umgekehrt gewährleisten die lokalen Parteien die Basis, auf die sich die nationalen Parteien in ihren Kampagnen abstützen und sie verpflichten sich, eine bestimmte Anzahl Wahlstimmen zusammenzubringen und auf lokaler Ebene die Wahlkampagne für die entsprechende Partei zu organi- sieren. Der Klientelismus ist eines der Kernelemente dieser politischen Praxis. Auffallend ist dabei die Tatsache, dass es seitens der Basis keinerlei Identifizierung mit den Kernaussagen und den Ideologien der Partei gibt, der man sich angeschlossen hat. Dies hat vielerlei Ursachen. Die wichtigste ist, dass die Parteien kein Interesse an der Mitarbeit und Mitsprache der Parteimitglieder bei der Ausarbeitung eines politischen Programms haben. Sie haben kein Interesse daran, organisative Arbeit an der Basis zu leisten, geschweige denn, ihre Mitglieder politisch zu bilden. Das Resultat ist, dass die Lebensdauer der Parteien sehr kurz ist (eine Ausnahme ist die Democracia Cristiana), und dass sich auf Gemeindeebene eine Art lokale Politelite bildet, die von einer Partei zur andern springt, je nach ihren persönlichen Interessen und den Abkommen, die sie aushandeln konnten. Das zweite erwähnte Spannungsfeld: Bezirkshauptort Dörfer funktioniert nach ähnlichen Mechanismen wie das Phänomen Stadt Land: Die lokale Partei sucht den Kontakt zu Führungspersönlichkeiten in den Dörfern, damit diese ihnen auf Dorfebene die Wahlkampagne bestreiten. ,,Gekauft" werden sie oft mit leeren Versprechen oder mit der Aussicht auf einen Posten in der Gemeinderegierung. Klima eingesetzt wird. findet in Form von politischen Vereinigungen, sozialer Organisationen und Nicht-Regierungsorganisationen statt. Als Beispiel einer politischen Vereinigung ist Nukuj Ahpop (,,Regierungsexperiment") zu erwähnen. Diese Vereinigung bildete sich 1995 im Vorfeld der Wahlen und schloss sich der Frente Democrático Nueva Guatemala (FDNG) an. In diesem Regierungsexperiment wurden von zahlreichen IndígenavertreterInnen Diskussionen und Debatten geführt, die in Form einer indigenen Plattform in das Regierungsprogramm der FDNG aufgenommen wurde. Vor kurzem wurde eine politische Vereinigung der Maya-Frauen, Moloj, gegründet. Darin sind indigene Frauen mit verschiedenen politischen Hintergründen vertreten. Allein die Tatsache, dass sich solche Interessensvereinigungen bilden, ist als ein wichtiger Fortschritt für den Aufbau einer vielfältigen Demokratie zu werten. Durch die NRO´s und die sozialen Organisationen entwickelt die MayaBewegung Prozesse und politische Aktionen, die, auch wenn sie noch immer nicht ganz aufeinander abgestimmt sind, je nach politischer Konjunktur Einfluss haben können. Auf Gemeindeebene kann es auch vorkommen, dass die NRO´s und die sozialen Bewegungen die politischen Parteien gänzlich ersetzen wenn es darum geht, politischen Druck auszuüben. Generell kann also gesagt werden, dass die politischen Parteien die indigene Bevölkerung nicht vertritt. Die Mayas bringen ihre Vorschläge nicht über parteipolitische Strukturen sondern vielmehr auf politischen Nebenschauplätzen ein. Es besteht aber durchaus ein Konsens darüber, dass das Wahlgesetz substantiell verbessert werden muss, damit eine wirkliche Beteiligung und die bürgerrechtliche Partizipation der Mayas gewährleistet werden kann. Nach oben |
Wie ist das Verhältnis der Mayas zu den politischen Parteien? Seitens einer intellektuellen MayaElite gibt es eine permanente Kritik und Veränderungsvorschläge. Einige sprechen sich generell gegen Parteien aus, weil diese nicht der Kosmovision und den Interessen der Mayabevölkerung entsprechen. Andere schlagen vor, bei allen politischen Debatten und speziell bei der Diskussion über eine Reform des Partei- und Wahlgesetztes, die Kosmovision der Mayas als elementaren Bestandteil einzubeziehen. Eine teilweise erfolgreiche Strategie beim Durchbrechen der zentralistischen Parteiführung ist die Beteiligung von sog. Comités Cívicos (BürgerInnenkomitees). Der Aktionsradius der BürgerInnenkomitees beschränkt sich auf die Gemeinde und sie haben einen zeitlich begrenzten Charakter, der auf die Wahlkampagne bezieht. Bei den Wahlen im Jahr 1985 haben sich in 48 Gemeinden BürgerInnenkomitees gebildet und es wurden acht Bürgermeistersitze gewonnen. Bei den Wahlen 1999 waren es 174 Komitees, die insgesamt 25 Rathäuser gewannen. Der Nachteil der BürgerInnenkomitees ist ihre begrenzte politische Einflussnahme. Sie können weder KandidatInnen für den Kongress, geschweige denn für die Präsidentschaft aufstellen. Eine andere Möglichkeit für die indigene Bevölkerung ist, sich auf Gemeindeebene explizit als Maya- oder Landbevölkerung zu organisieren, sich einer nationalen politischen Partei anzuschliessen und unter Umgehung der departamentalen Parteistrukturen direkt KandidatInnen für das Bürgermeisteramt zu stellen. In Fällen, wo diese Strategie erfolgreich war, kam es teilweise zu Spannungen, weil diese BürgermeisterInnen dazu tendierten, die Landbevölkerung gegenüber den BewohnerInnen der Bezirkshauptorte zu bevorzugen. In anderen Fällen gab es aber auch eine ausgewogene Gemeindepolitik, die der ganzen Gemeindebevölkerung zugute kam. In einigen Gemeinden kam es durch die Präsenz eines indigenen Bürgermeisters zu einer neuen politischen Praxis, die Elemente republikanischer Staatsführung mit traditioneller Machtausübung vermischte. Beispiele dafür sind die Bildung von Räten, die Entscheidungsfindung auf Konsensbasis, die Beteiligung der BürgerInnen an politischen Entscheidungen. Eine weitere Form politischer Beteiligung der indigenen Bevölkerung Die Mayas und die politischen Parteien In Bezug auf die indigene Bevölkerung, betreiben die Parteien eine in der Hauptstadt zentralisierte, ausschliessende und ethnozentrische Praxis. Ein Blick auf die Zusammensetzung der Parteispitzen, auf die Kongressabgeordneten und auf die politischen Leitfiguren zeigt, dass diese der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung nicht entspricht. Von den 113 Abgeordneten, die zur Zeit den Kongress besetzen, sind nur 13, das heisst 11%, Indígenas. Im Moment existieren keine präzisen Daten über die Organisationsstrukturen der Parteien und über die ethnische Zusammensetzung ihrer Mitglieder. Es ist jedoch festzustellen, dass die Parteien dazu tendieren, ihre legale Struktur auf ein gesetzlich vorgeschriebenes Minimum zu beschränken. Das hat zur Folge, dass es kein parteipolitisches Selbstverständnis auf lokaler und munizipaler Ebene gibt. Seit den 80er Jahren hat sich die indigene Bevölkerung zu einem politischen Subjet entwickelt, zu einer Manövriermasse, die von den Ladinos je nach Bedarf und politischem Das Wahlsystem Der Bericht "Desarrollo Humano de Guatemala" vom Jahr 2000 zeigt, dass die indigene Bevölkerung von der politischen Beteiligung ausgeschlossen ist. Dieser Ausschluss hat zwei Hauptgründe: die Struktur des Wahlmechanismus und das Parteiensystem. Das aktuelle Wahlsystem ist exklusiv, weil es einen Identitätsausweis und die Einschreibung ins Wahlregister verlangt. Nicht alle Leute haben jedoch persönliche Dokumente, weil diese in den Bezirkshauptorten ausgestellt werden vielen Leute fehlt das Geld, um dorthin zu gehen und die notwendigen Formalitäten zu bezahlen. Die Wahlurnen werden ebenfalls in den Bezirkshauptorten aufgestellt, was oft nicht den Wahlbezirken entspricht, die nach geographischen und demographischen Kriterien bestimmt wurden. Dies hindert viele Leute an der Stimmabgabe. Nach wie vor ist das ganze Wahlmaterial ausschliesslich auf Spanisch geschrieben und verhindert so die Beteiligung eines wichtigen Teils der Bevölkerung. Die Wahlen finden zu einem Zeitpunkt statt, wo viele GuatemaltekInnen ihre Herkunftsorte verlassen, um auf den Fincas zu arbeiten. Dort jedoch können sie ihre Wahlstimme nicht abgeben. Wie bereits erwähnt, sind die politischen Parteien Vehikel, um einen Präsidentschaftskandidaten zur Wahl aufzustellen. Dieser kann eine Partei oder eine politische Organisation gründen oder sich in eine bestehende ,,einkaufen", ohne dass er mit deren Ideologie oder Programm einverstanden sein muss. Das Resultat von all dem ist eine Demotivierung der Bevölkerung bezüglich Wahlbeteiligung und politischer Beteiligung überhaupt. Man wählt nicht, weil sich die Bedingungen auch unter einem neuen Präsidenten nicht ändern und die Versprechen der Kampagne sich bald als Lügen entpuppen. Man beteiligt sich politisch nicht, weil politische Beteiligung in der Gesellschaft nach wie vor stigmatisiert ist: Entweder man gehört zur Guerilla, ist kriminell oder will sich auf Kosten des Staates bereichern. |
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