"Aktuelle" Wirtschaftskrise für die einen, "permanente" Krise für die anderen
Fijáte 424 vom 03. Dezember 2008, Artikel 1, Seite 1
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"Aktuelle" Wirtschaftskrise für die einen, "permanente" Krise für die anderen
Auf der Suche nach Artikeln, welche die aktuelle Finanzkrise aus einer "Südperspektive" beleuchten, sind wir in der guatemaltekischen Internet-Zeitung "albedrío" auf die folgenden beiden Texte gestossen. Deren Autor Mariano González ist Psychologe und hat einen Master in Sozialpsychologie. Er unterrichtet an der Universität San Carlos (USAC) und scheint in seinen Texten und Analysen die Stimmungslage vieler GuatemaltekInnen wiederzugeben. Es ist unbestritten, dass eine Krise wie die aktuelle Finanzkrise Auswirkungen auf einen grossen Teil der Weltbevölkerung hat. Von Ländern, die bankrott gehen (wie Island), über US-AmerikanerInnen, die ihre Häuser verlieren, bis zu den armen lateinamerikanischen Bauern und Bäuerinnen, die der mangelnde Absatzmarkt für ihre Produkte in den Ruin treibt und deren Probleme sich mit dem Andauern der Krise multiplizieren. Zweifellos trifft es die Leute je nach ihren ökonomischen, politischen und sozialen Voraussetzungen unterschiedlich. So sind denn auch die Unterschiede abgrundtief zwischen den KonsumentInnen des Nordens, deren Kaufkraft abnimmt, und den immer mehr Arbeitslosen in Lateinamerika, Asien oder Afrika, die ihre Familien nicht mehr ernähren können. In den zentralamerikanischen Ländern, die wirtschaftlich stark von den USA abhängig sind, spürt man weniger den Zusammenbruch der Banken und Versicherungen, sondern vielmehr den Rückgang der Rimessen (Geldrücküberweisungen von migrierten Angehörigen aus dem Ausland, die Red., die eine der wichtigsten Einnahmequellen der Region sind), den Rückgang des Tourismus, den Verlust von Arbeitsplätzen durch die Schliessung transnationaler Unternehmen im Textil- oder Landwirtschaftsbereich und die Erhöhung der Preise von Grundnahrungsmitteln etc. Dies führt zu einer Zunahme von Armut und kann sich auf andere Phänomene auswirken wie zum Beispiel die bereits hohe Delinquenz (speziell in El Salvador, Honduras und Guatemala). All dies geschieht unabhängig vom Informationsstand, welchen die Regierungen und die Bevölkerung von der Krise haben, und ebenfalls unabhängig von der permanenten Leugnung der Neoliberalen hinsichtlich Ursprung und Auswirkung der Krise. Was zählt, ist der Geldbeutel, und unmerklich schliddert man von der Armut in die extreme Armut. Oder anders: Hunger und Not kümmern sich nicht um Klassifizierungen. Nach oben |
Diese kurze Einschätzung des Kontextes dient als Rahmen für die alles andere als banale Frage: Was bedeutet die weltweite Wirtschaftskrise für einen verarmten Bauern in einem rückständigen lateinamerikanischen Land? Unsereins kann noch so viel tiefgreifende Informationen und Analysen über die Finanzkrise lesen, doch wir finden uns darin nicht wieder. Je nach Land und je nach Schicht, in der man lebt, kommt man in den Berichten über die Finanzkrise, die Subprime-Hypotheken oder die Bankencrashs schlicht nicht vor. Könnte man daraus schliessen, dass diese Krise einzig und allein die grossen Ökonomien oder die Ökonomien der "ersten Welt" trifft? Natürlich nicht. Die Antwort auf meine Frage, weshalb unsereins in der Berichterstattung über die Finanzkrise nicht vorkommt, fand ich bei einer befreundeten Ökonomin, welche die Situation treffend beschreibt: "Auf den Alltag von Millionen von verarmten Menschen hat dies alles keine grossen Auswirkungen. Die schlichte und einfache Tatsache ist, dass wir die Krise nicht spüren, weil wir permanent in der Krise leben." Und tatsächlich ist für die Millionen verarmter Menschen auf diesem Planeten die aktuelle Krise der Finanzzentren nicht weiter auffällig und beeinträchtig ihren Alltag kaum. Denn Hunger und Misere sind ein natürlicher (oder naturalisierter) Teil ihres Lebens. Oder wie Walter Benjamin in einem anderem Zusammenhang, aber in analogem Sinn und Geist sagte: "Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, dass der 'Ausnahmezustand' in dem wir leben, die Regel ist." Schauen wir die Krise des Finanzsystems einmal aus der Perspektive der permanenten Krise der verarmten Bevölkerung an: Für sie ist die aktuelle Krise nicht eine Krise des Kapitalismus, sondern der Kapitalismus ist ihre permanente Krise. Sie bekommen nichts davon mit, was an der Wall Street geschieht, denn der Hunger von heute ist für sie derselbe wie jener von gestern und jener von morgen. |
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