Ixil-Jugend in der Krise (Teil 1)
Fijáte 254 vom 27. Feb. 2002, Artikel 1, Seite 1
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Ixil-Jugend in der Krise (Teil 1)
Der interne bewaffnete Konflikt in Guatemala hat nicht nur jenen sein Erbe hinterlassen, die die Gewalt selbst miterlebt haben, sondern auch der heutigen Jugend. Obwohl sie zur Zeit der schlimmsten Gewaltperiode (1980-85) entweder Kleinkinder oder noch gar nicht geboren waren, haben ihre Eltern ihre Traumata weitergegeben. Schmerz, Verzweiflung und internalisierte Gewalt üben ihren Einfluss auf die neue Generation aus, manifestieren sich in Identitätskonflikten und erhöhter Selbstmordrate unter indigenen Jugendlichen. Der Artikel von Shannon Lockhart und Olivia Recondo (Übersetzung: Yvonne Joos) ist in der Nummer 22/2001 des von NISGUA herausgegebenen Report on Guatemala erschienen. Wegen seiner Länge, werden wir ihn in zwei Teilen veröffentlichen. Das Phänomen der jüngsten Serie von Suiziden sowie der momentane Widerstreit von Identitäten in ländlichen Gemeinden stammen vom Krieg und seinen dazugehörenden kulturellen Verlusten. Indigene Teenagers sind mit einer Reihe von konkurrierenden Forderungen, Erwartungen, Zielen und Wünschen betreffend die Identität und Zugehörigkeit konfrontiert, da die Eltern und die KameradInnen, die Popkultur und die Kirchen alle um ihre Aufmerksamkeit und Werte wetteifern. Das Umfeld, in dem die Indígena-Jugendlichen ihr Alltagsleben ordnen und aufbauen, ist geladen mit erinnerten Traumata, internalisierter Gewalt, schnellem Wandel und widersprüchlichen Botschaften. 1998 suchte die Organisation Niños Refugiados del Mundo in Nebaj, Quiché, Unterstützung beim Menschenrechtsbüro der Erzdiözese Guatemala (ODHAG), um Selbstmorde, speziell unter Jugendlichen, zu verhindern. Das ODHAG begann in der Gegend zu arbeiten, und bot Workshops in Konfliktlösung für JugendleiterInnen an. Später führte das Büro eine soziale Umfrage in der Ixil Region durch. Erbe der GewaltIn der Tradition Guatemalas und der Mayakultur war Suizid selten. Doch seit den späten 1990er Jahren ist eine Welle von Selbstmorden über Nebaj und die umliegenden Dörfer hereingebrochen. Indem die Leute mit dem Schmerz der Verluste und der Bedeutung der Taten ringen, ist der zuvor ungewöhnliche Begriff «Suizid» zu einem Bestandteil des lokalen Diskurses geworden. Die Gemeinden Nebaj, Chajul und Cotzal, die im Norden des Departements Quiché liegen, bilden das «Ixil Dreieck», wo die meisten indigenen Ixil-Gruppen leben. Während des internen bewaffneten Konflikts litt die Bevölkerung im Kreuzfeuer zwischen dem Ejército Guerrillero de los Pobres (EGP) und dem guatemaltekischen Militär. Strategien zur Aufstandsbekämpfung hatten massive Verdrängung der und Massaker unter der Zivilbevölkerung zur Folge. Gemäss der staatlichen Wahrheitskommission (CEH) beging die guatemaltekische Armee Völkermord an der ethnischen Gruppe der Ixil. Der Konflikt zeichnete die Ixiles so tief, dass sie vom Leben "vor" und "nach" der Gewalt sprechen; die schlimmste Zeit der Kämpfe in den 1980er Jahren wurde zum Referenzpunkt ihres Lebens. Zu einem gewissen Grad herrscht ein Generationen-Vakuum, was die historische Erinnerung anbelangt; viele heutige Jugendliche haben den Krieg nicht direkt miterlebt und erinnern sich kaum daran. Trotzdem sind sie mitten in der Gewalt von Eltern aufgezogen worden, die überlebt haben und ihnen erzählen, was geschah. "Die meisten der Jugendlichen waren während jener Zeit entweder im Mutterleib oder sie waren Neugeborene; auch das kommt von der Familie… Mit der Muttermilch nahmen sie Traurigkeit und Glück auf; ihre Charaktere wurden so geformt, wie ein wütendes Kind." - Ixil -Erwachsene, Interview in Nebaj Diskriminierung und der versuchte Völkermord ihres Volkes führte zu Selbsthass und Schuld unter den Ixiles. Dies äussert sich in Depression, Alkoholismus, Ohnmacht und Hilflosigkeit sowie in neuen Formen von Gewalt gegen sich selbst und andere, inklusive Selbstmord. Jüngste Suizide in Ixil-Gemeinden zeigen jene Formen von Gewalt, die im Krieg üblich waren. Während des Konflikts wurden verdächtigte Subversive oft in der Öffentlichkeit aufgehängt, und die Mehrzahl der Selbstmorde von Jugendlichen geschahen durch Erhängen. Die Leute in Nebaj glauben, dass die hohe Anzahl der Selbstmorde eine Langzeitfolge der Schäden darstellt, die den Familien während der Gewaltperiode angetan wurden. Sowohl die Jugendlichen als auch die Erwachsenen in Ixil-Dreieck sind der Meinung, dass die Suizide von zwei fundamentalen Ursachen herrühren: Von emotionalen Problemen der Jugendlichen (ein Grund für speziellen Stress) und vom Mangel an Lösungen für diese Probleme. Diese Umstände resultieren zum grossen Teil vom hohen Armutsniveau und dem Zerfall traditioneller spiritueller und sozialer Strukturen. Der bewaffnete Konflikt wie auch die äusseren Einflüsse, welche über die Region in der Zeit nach dem Konflikt hereingebrochen sind, haben die traditionellen Prozesse der Problemlösung und die spirituelle Führung in Ixil- Gemeinden geschwächt. Durch die soziale Zerstörung der Kriegszeit wurden auch traditionelle Formen der Gemeinschaftsorganisation durch militarisierte Strukturen ersetzt. In diesem Kontext haben viele Ixiles das Gefühl, es fehle ihnen ein kollektives Lebensprojekt oder ein Ziel, das einen Sinn hat für ihre Zukunft als soziale Gruppe. Die anhaltende Weigerung der Regierung, Kompensation für materielle Zerstörung zur Verfügung zu stellen, vervollständigt das Gefühl von Sinn- und Hoffnungslosigkeit. Gleichzeitig konfrontieren verschiedene soziale Gruppen und äussere Einflüsse die Ixil-Jugendlichen mit widersprüchlichen Werten, Weltanschauungen und Verhaltensmustern, welche die Identität der Jugendlichen betreffen. Das ODHAG-Team hat herausgefunden, dass die Selbstmordversuche und Todesfälle von Jugendlichen in Beziehung stehen zu einer Reihe von sich widerstreitenden Botschaften und Wertestrukturen in den Ixil-Gemeinden. Nach oben |
Der Stolz der IxilesDer traditionellen Definition der Ixiles zu Folge ist ein/e "Jugendliche/r" eine unverheiratete Person, die über die Kindheit hinaus ist und noch nicht eine formale soziale Rolle in der Gemeinde übernommen hat. Dieses Konzept weicht von der strikt altersabhängigen Definition eines/einer Minderjährigen des guatemaltekischen Staates ab. "Wenn ein 15-jähriger Junge bereits verheiratet ist, ist er kein Jugendlicher… Wenn ein 40-jähriger Mann unverheiratet ist, ist er ein Jugendlicher." - Jugendlicher, Workshop in Nebaj. Eine Art für die Jugendlichen in Nebaj, sich selbst zu definieren - sowohl als Gruppe als auch individuell -, ist ihre Ethnizität als Ixil-Mayas. Wenn sie sich selbst beschreiben, erwähnen die Jugendlichen immer, dass sie Ixiles sind, Ixil sprechen, die traditionelle Kleidung tragen (Frauen: rote Röcke und kunstvoll gewobene Blusen und Tücher mit Tieren, Pflanzen und geometrischen Symbolen) und bestimmte Lebensmittel essen. Diese Identitätsmerkmale stimmen mit den Beschreibungen des traditionellen Lebensstils der Erwachsenen überein. Sowohl die verinnerlichte Kultur (Lebensstil und Weltanschauung) der Ixiles als auch die von der Gemeinschaft geteilte Geschichte (inklusive Unterdrückung und versuchte Auslöschung) wurden von einer Generation zur nächsten weiter gegeben und sind nun von den Jugendlichen wiederum internalisiert worden. Das traditionelle Bild von Identität, das die Jugendlichen wie die Erwachsenen beschreiben, definiert ein Wertesystem und einen Lebensstil, der auf Glück, Ehre, Bescheidenheit, Verantwortung, Gehorsam, Respekt (für sich selbst und andere, für Traditionen und Kultur, für die Muttersprache), Verständnis, Arbeit, Dynamik, Partizipation und Hilfe für andere, Intelligenz (theoretisch und praktisch) und Treue (in zwischenmenschlichen Beziehungen: Freundschaften, Liebe, Brauch-Gesetz-Verbindungen, Ehe) basiert. Diesen Idealen wohnt eine Spiritualität inne, die im Gottesdienst in einer religiösen Gruppe konkret gelebt wird. Gespaltene SpiritualitätFür die Ixiles ist die Spiritualität auf komplexe Weise an die kulturelle Identität gebunden. Zudem wandten sich viele während der schlimmsten Zeit der Gewalt - als den Leuten alles genommen wurde, was in ihrem Leben heilig war - dem Glauben zu, um Interpretationen zu finden für das, was ihnen widerfahren war. Das guatemaltekische Militär nahm während des Konflikts direkt die Spiritualität der Maya ins Visier. Die Armee zerstörte beispielsweise Salquil Grande, ein heiliger Ort für Maya-PriesterInnen und wandelten ihn in ein militarisiertes "Modelldorf" um. Zusätzlich wurde der Zustrom zahlreicher verschiedener evangelikaler protestantischer Sekten als eine Form sozialer Kontrolle benutzt, um die Gemeindemitglieder zwischen den verschiedenen Sekten zu polarisieren und sie sowohl von der Maya-Weltanschauung als auch von der katholischen Befreiungstheologie zu distanzieren, welche die Leute dazu ermuntert, sich für ihre Rechte einzusetzen. Evangelikale Lehren bringt die Leute dazu, ihr Los protestlos zu akzeptieren und sich auf das Leben nach dem Tod zu konzentrieren. Einige Sekten suggerieren oder erklären gerade heraus, dass die Menschen Guatemalas im Krieg gelitten hätten, weil sie der falschen Religion gefolgt seien. "Also, was das Wachstum der evangelikalen Kirchen betrifft, so ist die Wahrheit, dass der Krieg der Grund dafür ist, und dass es deswegen heute so viele Religionen gibt. Warum? … Wenn sie wüssten, dass jemand katholisch wäre, so würden sie ihn/sie sicher anklagen, kriminell zu sein, der Guerilla anzugehören, doch das stimmt nicht… Aus Angst mussten sie die Religion wechseln… Viele hatten Angst, deshalb gibt es Spaltungen…" - Eltern, Interview in Nebaj. Die Präsenz von sich konkurrenzierenden Kirchen hat Streitigkeiten zwischen den Leuten darum zur Folge, wer nun die "Geretteten" seien und die "Wahrheit" besässen. Jede Sekte weist die anderen als häretisch zurück. Zur einen zu gehören meint, die anderen auszuschliessen. (…) Diese Situation trägt zum Zerfall des Zusammenhalts der Gemeinschaft bei, indem eine potenziell einigende Praxis der Zugehörigkeit beseitigt wird. Die Spannungen in den Familien nehmen zu, wenn ein Teenager entscheidet, sich einer bestimmten Sekte anzuschliessen, während andere Familienmitglieder zu einer anderen gehören. Heranwachsende, die auf der Suche sind nach ihrem Platz und dem Sinn im Leben sind mit zahlreichen Kirchen konfrontiert, die alle den alleinigen Zugang zur Wahrheit für sich reklamieren; sie haben oft grosse Angst, die "falsche" Wahl zu treffen und möglicherweise dem Heil zu entgehen. Gleichzeitig trägt die anvisierte Zerstörung und das teilweise Verschwinden von charakteristischen spirituellen Ixil-Riten und Überzeugungen zu einem kulturellen Sinnverlust bei wie auch zum Gefühl unter Jugendlichen, indigene Lebensformen seien minderwertig. Bei der Beschreibung der idealen Jugend-Identität verweisen Ixil-Teenager auf traditionelle Werte, doch in der Praxis weisen sie bisweilen Maya-Tugenden zu Gunsten nicht-indigener Praktiken zurück. Rückzug des IdealsWenn junge Ixil-Männer und -Frauen darüber diskutieren, was es heisst, Jugendliche/r zu ein, stellen sei eine weitreichende Liste von Eigenschaften und Werten zusammen, die sowohl ihr Bild des idealen Verhaltens von Jugendlichen einschliessen als auch Schilderungen ihres tatsächlichen Handelns. Das Modell des/der idealen Jugendlichen, auf das sich junge Ixiles stützen, basiert primär auf traditionellen soziokulturellen Mustern, die Verantwortung, Gehorsam und Respekt als fundamentale Werte des individuellen, familiären und gemeinschaftlichen Lebens ausweisen. Die Jugendlichen sehen in diesen Eigenschaften jene Prinzipien, welche ihr tägliches Denken und Handeln führen sollen, damit sie "gute Jugendliche" sind. Sie anerkennen, dass dieses Modell mit dem von den Erwachsenen beschriebenen Standard übereinstimmt. Trotzdem sehen junge Ixil-Männer und -Frauen sich selbst nicht als Verkörperungen des Idealbildes. Sie stellen sich ihre Identität als eine Mischung von positiven und negativen Eigenschaften vor, entsprechend der Charakterisierung, die von den Jugendlichen wie von den Erwachsenen verwendet wird. Unter den positiven Eigenschaften, die Ixil-Jugendliche sich selbst zuschreiben, sind Verantwortung, Gehorsam, Respekt, Liebenswürdigkeit, Arbeitsethik, Bildung und Intelligenz. Die negativen Werte, mit denen sie sich selbst beschreiben sind Verantwortungslosigkeit, Ungehorsam, Respektlosigkeit, Unehrlichkeit, Beleidigung, Unhöflichkeit und Apathie. Die Jugendlichen zeigen selten offen die Einsicht, dass diese beiden Listen von Eigenschaften sich direkt widersprechen. Auch fassen sie nicht in Worte, wie diese Kontraste sich auswirken. Aber ihr Scheitern - oder ihre Weigerung -, ihren selbst geäusserten Idealen sowie den Erwartungen ihrer Eltern Folge zu leisten, verursachen Probleme mit ihrer eigenen Person wie auch in ihren Beziehungen. (Zweiter Teil im nächsten !Fijáte!) |
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