Das Recht, ein Leben in Würde zu führen
Fijáte 251 vom 26. Dez. 2001, Artikel 1, Seite 1
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Das Recht, ein Leben in Würde zu führen
Gonzalo de Villa ist Jesuit, Rektor der Universität Rafael Landívar und schreibt als Kolumnist in verschiedenen Tageszeitungen. Er hat sich schon immer für den Dialog eingesetzt, war Mitglied der Versammlung der Zivilgesellschaft (ASC) und ist heute Mitinitiator des Foro Guatemala. Das folgende Interview ist in Crónicas de Minugua vom 15. November 2001 erschienen. "Jede Person hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Massnahmen und internationale Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich ist." (Art. 22 der UNO-Menschenrechte) Frage: Was bedeutet für Sie, ein Leben in Würde zu führen? Gonzalo de Villa: Es bedeutet, reale Möglichkeiten und Chancen zu haben, gewisse Grundbedürfnisse befriedigen zu können. Diese Frage kann aber nicht in jedem Teil der Erde gleich beantwortet werden. Wenn das Pro-Kopf-Einkommen 3000 US-$ beträgt, fällt die Antwort anders aus, als wenn es 500 US-$ beträgt. Ein Leben in Würde zu führen heisst, ein Minimum an Spielraum haben, Zugang zu Gütern zu haben und ein Leben führen zu können, in dem man weiss, worauf man sich stützen kann. Insofern hat ein würdevolles Leben etwas mit der Kultur zu tun, in der jemand lebt und von der jemand geprägt wird. Frage: Was verstehen Sie unter 'Grundbedürfnissen'? G.V.: Man kann das auf zwei Arten definieren, entweder man berücksichtigt die vorhandenen Mittel oder man berücksichtigt sie nicht. Einmal unabhängig von den vorhandenen Mittel würde ich sagen, zu den Grundbedürfnissen gehört z.B. eine Wohnung mit einem Minimum an sanitären Einrichtungen, die Schutz und Intimität bietet. Dazu gehören weiter der Zugang zu medizinischer Versorgung und einer Sozialversicherung, eine ausgewogene Ernährung und eine Bildung, die einem gewisse Fähigkeiten lehrt. Dazu gehört auch die Möglichkeit, eine Familie zu gründen, die in einer respektvollen Umgebung lebt. Diese Definition klammert die vorhandenen Mittel aus und ist deshalb etwas theoretisch. Wollen wir realistisch sein, müssen wir sofort darüber sprechen, in welchem Land wir leben, welche realen Möglichkeiten wir haben, in welchen Traditionen wir leben und welche gangbaren, kurzfristigen Veränderungen möglich sind, um eine bessere Zukunft aufzubauen. Und da wird es auch gleich sehr kompliziert: In unserem Land existieren die unterschiedlichsten Vorstellungen davon, was ein würdevolles Leben ist, je nach dem, welcher Kultur, Ethnie oder Generation jemand angehört. Frage: Könnte man ganz allgemein sagen, die GuatemaltekInnnen führen ein Leben in Würde? G.V.: Gemäss den Standards der Vereinten Nationen, nein. Aber natürlich definiert jedes Individuum seinen Standard entsprechend dem Kontext, in dem es lebt. Ich glaube, viele Menschen definieren das 'unwürdige' an ihren Lebensbedingungen anhand der Entbehrungen, Möglichkeiten, Gütern und Sicherheit, die sie haben oder eben nicht haben. Aber es gibt natürlich auch unterschiedliche Parameter: Personen über 50 Jahre geben ein optimistischeres Urteil ab als ein Teenager, der oder die von der Werbung beeinflusst ist und jeden Tag mit Frustration feststellen muss, was möglich wäre und was möglich ist. Frage: Wenn wir vom Standard der Vereinten Nationen ausgehen, woran mangelt es der guatemaltekischen Gesellschaft, um von einem würdevollen Leben sprechen zu können? G.V.: An vielem. Die meisten Familien leben unter Bedingungen, die den internationalen Standards nicht entsprechen. Ein Grossteil der Bevölkerung hat keinen Zugang zu Bildung und ein noch grösserer hat zwar Zugang zu Bildung, doch ist diese sehr schlecht. Bezüglich der Gesundheitsversorgung gibt es viele Personen, die in einem Notfall oder bei einer schweren Erkrankung keinen Arzt oder Ärztin in erreichbarer Nähe haben. Dieser Mangel trifft mehr die indigene Bevölkerung als die Ladin@s und ist auf dem Land ausgeprägter als in den Städten. Wer und wie soll sich Ihrer Meinung nach darum kümmern, dass sich diese Verhältnisse ändern? G.V.: Man könnte sich z.B. einen Staat vorzustellen, in dem es keine Korruption gibt, der effizient arbeitet. Ein Staat, den man mit den notwendigen Ressourcen ausstattet, damit er gewisse Verantwortung übernimmt und so zur zentralen Figur wird innerhalb eines Projekts, das einer Mehrheit der Bevölkerung ein Minimum an Wohlstand garantiert. Das Problem ist, dass es in Guatemala diesen Staat nicht gibt, dass es ihn nicht nur nicht gibt, sondern dass er viele Risse in seinem Fundament hat. Entsprechend reagiert er wie der Organismus einer unterernährten Person, wenn man ihm plötzlich viel Nahrung gibt. Er bricht zusammen. In anderen Gesellschaften, die eine gewisse Reife und ein gewisses ökonomisches Niveau erreicht haben, kann der Staat sehr wohl diese Verantwortung wahrnehmen. Wir jedoch müssen uns zuerst eine Staatsform ausdenken und uns überlegen, wie wir diese erreichen, bevor wir einfach sagen, der Staat soll dieses oder jenes übernehmen. Eines der grossen Dramen, unter dem Guatemala und vergleichbare Länder leiden, ist, dass die Traditionen verloren gehen, die geholfen haben, das eigene Leben in einen Kontext zu stellen. Vor einigen Generationen gab es genau so viel Armut und die indigenen Dörfer war noch viel abgeschiedener als heute, doch es gab eine soziale Struktur innerhalb der Gemeinschaften, die ein würdevolles Leben möglich machten. Die Gemeinschaft gab den Kindern ein Gefühl von Zugehörigkeit, von Identität und Kosmovision, von Sicherheit. Dies half ihnen beim Aufbau des Selbstwertgefühls, gab ihnen das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein und vermittelte ihnen ein Gefühl von Würde, auch wenn vieles entbehrt werden musste. Vor Jahren habe ich einen Artikel gelesen, in dem der Grad der Schulbildung zwischen Kindern aus San Marcos und schwarzen Kindern aus Harlem verglichen wurde. Auf materieller Ebene ging es den schwarzen Kindern dreissig mal besser. Doch war das Leben der Kinder in San Marcos viel würdevoller als dasjenige der Kinder in Harlem, da es weniger von Gewalt und Ungerechtigkeit geprägt war. Nach oben |
Wenn Sie auf die letzten fünfzig Jahre zurückblicken: Hat die Lebensqualität der GuatemaltekInnen zu- oder abgenommen? G.V.: Ich könnte Ihnen die eine oder die andere Behauptung beweisen oder widerlegen. Will ich die These verteidigen, dass die Situation heute besser ist als vor fünfzig Jahren, argumentiere ich folgendermassen: Vor fünfzig Jahren war der Zugang zu Bildung mehr Menschen verwehrt und das Thema Land war ein noch grösseres Tabu als heute. Das heisst, vor fünfzig Jahren besassen noch weniger Menschen das Land, das sie bebauten und sie hatten noch weniger die Chance, zu einem Landtitel zu kommen. Vor fünfzig Jahren war die technologische Entwicklung sehr rückständig. Ich erinnere mich, dass mir in den 70er Jahren ein spanischer Jesuit nach einem Besuch in einem Dorf im Quiché sagte, er habe an diesem Ort nichts angetroffen, dass darauf hingewiesen hätte, dass wir im 20. Jahrhundert leben. Heute hat sich das geändert, ob zum Guten oder zum Schlechten, sei dahingestellt. Vertrete ich die gegenteilige These, nämlich, dass es vor fünfzig Jahren besser war, argumentiere ich so: Es gab zu dieser Zeit eine Reihe von Werten, an die sich die Leute heute zurückerinnern und nach denen sie sich sehnen: Sicherheit, Zugehörigkeit und der Stolz, in einem ruralen Land zu leben. Letzteres birgt auch einen gewissen Fatalismus in sich, gibt aber gleichzeitig ein Gefühl von Familienzugehörigkeit in einem grösseren Rahmen: Es gab Mechanismen sozialer Sicherheit die selbstverständlich funktionierten. Die sozialen Netze waren enger und tiefer und stützten die Gemeinschaft. Auf dem Lande gibt es viele ältere Menschen, die sagen, die heutige Jugend habe es viel einfacher als sie es damals hatten: Heute hätten sie Zugang zu Gütern, würden Schuhe tragen (während sie noch barfuss gingen) und die Mädchen müssten den Mais nicht mehr mit dem Stein mahlen... Was können die GuatemaltekInnen machen, um ihre Lebensqualität zu verbessern? G.V.: Wir brauchen eine Gesellschaft, in der alle dieselben Möglichkeiten haben und die auf Gerechtigkeit beruht. Das ist das Ziel Nummer eins, auf das wir hinarbeiten müssen. Wir sind ein Land mit enormer Ungleichheit, mit enormen Distanzen zwischen Arm und Reich, mit einer ungleichen Verteilung des Einkommens, mit einer ungleichen Verteilung des Landes... Das Problem ist, dass es schon immer so war und wir den Film nicht zurückdrehen und noch einmal von vorne und besser beginnen können. Dieser Film hat schlecht begonnen und läuft schon zu lange. Wir zwar können schauen, dass er ab heute besser ist, aber zurück können wir nicht. Klar ist es nicht einfach, eine Umgebung zu schaffen, die es den Menschen ermöglicht, Mechanismen zu entwickeln, die zu mehr Gerechtigkeit führen. Dies wäre aber dringlich und notwendig und ich glaube, dass die Themen, die unsere Gesellschaft heute beschäftigen, wie zum Beispiel die Gewalt, das Ergebnis einer traurigen Geschichte sind, die wir weder ignorieren noch leugnen können. Gewisse Muster zu durchbrechen, wäre aber eine Art, diese Geschichte zu überwinden und Veränderungen herbeizuführen. Was hat das alles mit dem Foro Guatemala zu tun, in dem Sie sich engagieren? G.V.: Was das Foro Guatemala anstrebt, ist einen Dialog zu lancieren, an dem Sektoren teilnehmen, die traditionellerweise nie miteinander gesprochen haben, ein Dialog über gewisse Grundsatzfragen, die unser Land betreffen. Es ist sehr wichtig, dass wir einen Rahmen schaffen, in dem ein solcher Dialog möglich ist. Es ist nicht so, dass wir uns nun zum Gespräch hinsetzten, weil es die grossartige Idee von Herrn Portillo ist... nein, ich glaube, innerhalb der Gesellschaft finden sehr viele Dialoge statt. Vielleicht bringen wir es zu einem Nationalen Dialog, vielleicht können wir den Raum schaffen, in dem ein paar grundsätzliche Abkommen getroffen werden. Aber es hat keinen Sinn, das ganze nur von seiner öffentlichkeitswirksamen Seite her zu betrachten. Ich persönlich glaube immer noch daran, dass es möglich ist, die Bedingungen für einen Dialog zu schaffen. Das wichtige ist, Kommunikation zwischen Sektoren aufzubauen, die sonst nicht miteinander kommunizieren, auch zwischen der Regierung und Sektoren der Zivilgesellschaft. Dies ist ein Terrain, in dem es viel aufzubauen und zu gewinnen gibt, aber dazu müssen viele Hindernisse überwunden werden. Den Dialog zum vornherein auszuschliessen ist ein riskantes Unternehmen, ebenso, bedenkenlos in ihn zu vertrauen. Man muss vorsichtig vorgehen. Die bisherige Geschichte Guatemalas beweist, dass, wenn sich die Türen des Dialogs schliessen, schlimme Zeiten folgen. Im Moment ist es uns viel wichtiger, keine Rückschritte zu erleiden, als voranzukommen. Wir sehen eine reale Gefahr, im Demokratisierungsprozess Rückschritte zu erleiden. Im Moment befinden wir uns eher in der Defensive als auf Angriffskurs. |
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