Nach Stan: Zurück zur "Normalität"?!
Fijáte 346 vom 26. Okt. 2005, Artikel 1, Seite 1
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Nach Stan: Zurück zur "Normalität"?!
Rund drei Wochen, nachdem der Sturm Stan seine Verwüstungen vornehmlich im Südwesten, Westen und Hochland Guatemalas angerichtet hat, bleiben Fragen, Zweifel, Kritik und Verzweiflung. Weder sind inzwischen alle Gemeinden erreicht, in denen Hilfe gebraucht wird, noch reicht das aus, was an Sach- und Nahrungsspenden gesammelt wurde, um der betroffenen Bevölkerung aus der ärgsten Not zu helfen. Die Regierung hat keinen Überblick über den tatsächlichen Schaden und die Zahlen der betroffenen Dörfer und BürgerInnen. Und noch weniger hat sie eine Idee oder gar Strategie für das weitere Vorgehen, von den Mitteln ganz zu schweigen. Als Retter in der Not sprang das Militär - stets schwerbewaffnet! - in Bergungs- und Evakuierungsaktionen ein, eine Aufgabe, die augenscheinlich der Bevölkerung zu Gute kam. Es ist zu befürchten, dass damit nun die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung geschaffen ist, um das Militär nicht nur bei Naturkatastrophen à la Stan, sondern auch für andere "soziale Einsätze", sprich gegen Gewalt und Delinquenz, gegen regierungskritische Demonstrationen oder gegen Jugendbanden auf die Strasse zu schicken. Beeindruckend derweil die vorgebliche Solidarität der HauptstadtbewohnerInnen, die in vielen Fällen an Rassismus nicht zu überbieten war: Gespendet wurde dreckige, kaputte Kleidung, westliche noch dazu, die in indigene Gemeinden geschickt werden sollte. Mir klingt noch die Stimme der Ladina im Ohr, die sich im Radio über die Undankbarkeit der Betroffenen aufregte und meinte, in so einem Katastrophenfall würde sie sich doch alles anziehen! Auf den folgenden Seiten versuchen wir, ein umfassendes Bild der aktuellen Situation zu geben, beginnend mit einer Kolumne von Carolina Sarti Escobar, gefolgt von einem Kommuniqué des Internationalen Indigenen BäuerInnenkongresses (CLOC) und diversen Nachrichten zum Thema. Vor Stan bedeutete "Normalität" in Guatemala, dass zwei Drittel der Bevölkerung in ländlichen Gebieten lebte, das Tausende von guatemaltekischen Familien, in ihrer Mehrheit Indígenas, weder Land noch ein Haus besassen und keine Arbeit hatten, dass Millionen von Personen an unsicheren, dem Vergessen ausgesetzten Orten wohnten. Vor Stan bedeutete ,,Normalität", dass die Hälfte unserer Kinder unter 5 Jahren an chronischer Unterernährung litten und als Folge davon körperliche und geistige Mängel aufwiesen. Ist dies die "Normalität" zu der wir zurückkehren wollen? Ein Schritt vorwärts und einer zurück, sagen die Sachverständigen, und versprechen uns, dass bald die Normalität zurückkehrt. Wenn aber das Wasser das nächste Mal ansteigt, werden die karitativen Seelen, die sich heute mit den Opfern der Tragödie solidarisieren, die drei ,,weisen Affen" mimen, die nichts sehen, nichts hören und nichts sagen. Ich wehre mich gegen dieses abnormale Verständnis von Normalität, die von zu vielen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Machteliten während zu langer Zeit aufrechterhalten wurde. Nach oben |
Normal wäre, dass alle genügend zu essen hätten, von einer guten Bildung und einem funktionierenden Gesundheitssystem profitieren könnten, in Sicherheit und einer gesunden Umwelt ihre Entwicklungsmöglichkeiten ausschöpfen könnten, eine würdevolle Arbeit, einen Ort, um zu wohnen, Zugang zur Justiz und freie Zeit, um sich zu Erholen, hätten. Wenn also die Voraussetzungen für ein Leben in Frieden gegeben wären. Normalität wäre, wenn alle Menschen als solche leben könnten. Doch kehren wir zur guatemaltekischen Normalität vor Stan zurück und werfen einen genaueren Blick auf nur eines der absurden Beispiele. Innerhalb des Staatshaushalts für 2006 wird für das auf 15'500 Mann reduzierte Militär eine Budgeterhöhung von 84 Mio. Quetzales vorgeschlagen. Dazu kommen 258 Mio. Q für die Modernisierung der Truppen, was ein Militär-Gesamtbudget von stolzen 1,11 Milliarden Q für nächstes Jahr macht. Wie bloss wollen wir eine Nation verändern, in der die Kongressabgeordneten erlauben, dass mehr Geld ins Militär als in die Bildung und Gesundheit ihrer Kinder investiert wird? Die vorher genannten Summen kontrastieren mit denen, die die Regierung für Nothilfe zur Verfügung stellt, um den über 134 Tausend von Stan Betroffenen während sechs Monaten zu helfen: 59 Mio. Q für Lebensmittelhilfe, 31.4 Mio. Q für Hygiene und Sanitätswesen und 11.6 Mio. für Gesundheit, total 102 Mio. Dazu kommen noch Ausgaben für Infrastruktur und anderes, die genannten Zahlen beziehen sich nur auf die Sozialausgaben innerhalb der Nothilfe. Just in diesen Tagen diskutieren die Verteidigungsminister Zentralamerikas mit ihrem US-amerikanischen Amtskollegen über zwei Themen, die sich für das Pentagon zu Prioritäten für die Region entwickelt haben: Die Schaffung einer multinationalen Friedenstruppe sowie einer Rettungsbrigade in Fällen von Naturkatastrophen. Damit wird dann in unserem Land möglicherweise die Erhöhung des überrissenen Militärbudgets gerechtfertigt. Zurück zur "Normalität" vor Stan bedeutet, Geschichten und beschämende Praxen zu wiederholen, bedeutet, noch mehr Vergessen über die bereits Vergessenen auszubreiten und weiterhin Tausende von Tote in Kauf zu nehmen. Ich verweigere mich dieser, die Realität versteckende Normalität. Falls wir uns wirklich verändern und nicht noch mehr in der Unterentwicklung versinken wollen, müssen wir das Land, in dem wir leben wollen, neu überdenken und entsprechend handeln. Wir müssen schnell handeln, aber mit Bedacht überlegen. Wir haben aus dem Erdbeben von 1976 und dem Hurrikan Mitch von 1998 ein paar Dinge gelernt. Heute wird z.B. die Verwendung der Spendengelder überwacht, man verfolgt diejenigen, die Hilfsgüter stehlen, bestraft die SpekulantInnen und denunziert diejenigen, die aus dem Elend anderer Profit zu schlagen versuchen. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn er vielen Leuten nicht passt. Doch die Misere so vieler Menschen ist nicht normal und die Blindheit ebenso vieler ist ebenfalls nicht normal. Deshalb bitte, lasst uns nicht zu dieser ,,Normalität" zurückkehren! |
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