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"Etwas ist deutlich schiefgelaufen"

Fijáte 447 vom 4. November 2009, Artikel 1, Seite 1

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"Etwas ist deutlich schiefgelaufen"

Vanguardia : Guatemala ist heute gewalttätiger als VGEl SalvadorNF, das bisher den Ruf hatte, das diesbezüglich schlimmste Land Lateinamerikas zu sein.

C.C.: Qualitativ gesehen stimmt das. Vielleicht nicht in absoluten Zahlen, aber was die Fähigkeit des Staates betrifft, darauf zu reagieren, auf jeden Fall. In El Salvador beträgt die Straflosigkeit ca. 50%, in Guatemala ist sie 98%. El Salvador hatte einen ähnlichen brutalen, bewaffneten Konflikt, Friedensabkommen, die mehr oder weniger implementiert wurden und Institutionen, die zwar nur auf Sparflamme funktionieren, die aber funktionieren. In Guatemala ist das Justizsystem quasi kollabiert. Nur zwei von hundert Fällen zu lösen, bedeutet, dass die fundamentalen Rechte der Bevölkerung nur noch in der Theorie bestehen.

Ausführung Castresana an der EDA-Tagung: Die Ausgangslage ist heute in Guatemala völlig anders. Die Gewalt wird nicht mehr von staatlichen Kräften ausgeübt, das heisst, wir können nicht mehr von politischer Gewalt sprechen. Die Täter stammen aus der Zivilgesellschaft, und die Institutionen des Staates sind von rechtswidrigen Gruppen unterwandert. Heute respektiert der Staat die BürgerInnen, aber er kann sie nicht schützen. Meiner Meinung nach ist nach den Friedensabkommen etwas gewaltig schief gelaufen. Es wurden zwar perfekte Abkommen unterzeichnet, doch diese wurden nicht umgesetzt (z. B. Ablehnung des Referendums 1999, welches die gesetzliche Verankerung diverses Punkte der Friedensabkommen garantiert hätte, die Red.). Es wurde nichts zur Auflösung der aufstandsbekämpfenden Strukturen unternommen, und so konnten sich diese Kräfte nach Belieben neu organisieren und sich neue Wirkungsfelder suchen. Was die Aufarbeitung der Vergangenheit betrifft, wurde an dem Recht auf Wahrheit gearbeitet, das Recht auf Gerechtigkeit wurde jedoch ausgeklammert, und alle VGMenschenrechtsverletzungenNF und Verbrechen an der Menschlichkeit aus der Zeit des bewaffneten Konflikts blieben straflos. Unterdessen hat sich die Straflosigkeit zu einem Instrument der Gewalt gewandelt, deren Ursache die VGKorruptionNF ist. Manchmal denke ich, man hätte so etwas wie eine CICIG bereits 1996 einrichten müssen.

¡Fijáte!: Dadurch, dass das Mandat der CICIG darin besteht, nur aktuelle Fälle aufzuklären, wurde ein wichtiger Teil der Aufarbeitung der Vergangenheit übersprungen. Kann unter diesen Bedingungen überhaupt eine längerfristige und nachhaltige Veränderung erreicht werden?

C.C.: Klar wäre es viel einfacher, wenn alle oder wenigstens einige der wichtigen Verbrechen des bewaffneten Konflikts verfolgt und aufgeklärt worden wären. Da können wir aber nichts machen und müssen unser Mandat strikt einhalten. Ich möchte festhalten, dass es in acht Fällen zu Anfechtungen kam, weil uns vorgeworfen wurde, wir würden uns in etwas einmischen, das nicht unserem Mandat entspricht, doch die Gerichte haben in allen acht Fällen zu unseren Gunsten entschieden. Die Aufklärung der Verbrechen der Vergangenheit ist Aufgabe der guatemaltekischen Gerichte, und wenn die internationale Gemeinschaft ein Interesse daran hat, dass diese Verbrechen aufgeklärt werden, muss sie sich andere Mechanismen überlegen als die CICIG. Wenn wir jedoch heute klandestine Apparate demontieren können, die bereits vor 30 Jahren funktioniert haben, tragen wir selbstverständlich etwas zur Aufarbeitung der Vergangenheit bei.

¡Fijáte!: Aus einer Intervention von VGHelen MackNF an der heutigen Tagung war eine grosse Frustration zu hören bezüglich dem, was die CICIG bewirken kann. Wie ist Ihre Beziehung zu jenen guatemaltekischen Menschenrechtsorganisationen, die massgeblich für das Vorgängerprojekt der CICIG, die VGCICIACS, gekämpft haben?

C.C.: Unsere Beziehung zu diesen Organisationen und überhaupt zur organisierten Zivilgesellschaft ist sehr gut, und wir geniessen ihre volle Unterstützung. Das Problem, das diese Organisationen haben, haben sie mit ihrer Regierung, weil sie sehen, dass dort nichts unternommen wird, um ihre Forderungen umzusetzen. Dass die Regierung nichts macht, ist aber wiederum nicht unser Fehler.

Vanguardia: Ihre Kommission beschäftigt sich auch mit den Frauenmorden. Die sind ja in Guatemala noch viel schlimmer als in VGCiudad Juárez, VGMexikoNF?

C.C.: Ja, es ist schlimmer. In Mexiko ist in erster Linie die Straflosigkeit das Problem und nicht die Anzahl der Toten. In Guatemala sind die Zahlen exorbitant: 700 ermordete Frauen pro Jahr in einem Land mit 13 Mio. EinwohnerInnen. Und eine Aufklärungsrate von 2%. Die Straflosigkeit ist immens. Dies ist fast eine Einladung an die Täter: Frauen können umgebracht werden, ohne dass es juristische Konsequenzen hat.

Vanguardia : Gibt es in diesen Fällen ein Muster ?

C.C.: Prozentual ist die Zahl unaufgeklärter Morde im Fall von Frauen etwa gleich hoch wie jene der Männer. Aber es gibt einen elementaren Unterschied: Männer werden normalerweise für das umgebracht, was sie tun, derweil Frauen umgebracht werden für das, was sie sind. Während Männer ihr Verhalten ändern können, wenn sie wollen, können Frauen ihr Frausein nicht verändern. Sie brauchen einen spezifischen Schutz, weil sie einer spezifischen Gewalt ausgesetzt sind. In zwei von drei Fällen sind ausserdem die Täter bekannt, da es sich um Fälle häuslicher Gewalt handelt. Sie werden von ihren Partnern, Verlobten, Vätern, Arbeitskollegen oder männlichen Bekannten umgebracht. Es wäre also kein polizeiliches Kunststück, die Täter zu bestimmen.

¡Fijáte!: Wenn es so einfach ist, wie Sie das darstellen, weshalb hat die CICIG denn nicht schon längst ein paar Präzedenzfälle geschaffen?

C.C.: Die Aufklärung der Frauenmorde ist nicht direkt Teil unseres Mandats. Wir haben die Aufgabe, klandestine Sicherheitsapparate und illegale Strukturen zu demontieren. Wir haben ein paar Fälle von VGFeminizidNF aufgenommen, in die kriminelle Strukturen involviert sind. Aber individuelle Fälle häuslicher Gewalt müssen von der Polizei und der Staatsanwaltschaft verfolgt werden. Hier geht es aber nicht nur um die rein institutionelle Aufgabe, sondern es liegt in der Verantwortung der ganzen Gesellschaft, ihre Einstellung gegenüber den Frauen und dem Wert eines Frauenlebens zu ändern.

¡Fijáte!: Was geschähe, wenn in zwei Jahren das Mandat der CICIG nicht erneuert würde?

C.C.: Das müssen Sie den UNO-Generalsekretär fragen! Ich weiss nicht, was das für Guatemala bedeuten würde. Aber wenn es internationales Interesse gibt, dass die Arbeit weitergeführt wird, können neue Verträge abgeschlossen und im Rahmen der üblichen Kooperation die von uns in die Wege geleiteten Prozesse unterstützt werden. Natürlich würde ich mir wünschen, dass es bis dahin die CICIG nicht mehr brauchen würde, aber ich habe keine Kristallkugel, um die Zukunft zu lesen.

¡Fijáte!: Und wenn die Regierung wechselt?

C.C.: Der Erfolg der CICIG hängt nicht von dieser oder irgendeiner guatemaltekischen Regierung ab. Wir müssen mit jeder Regierung zusammenarbeiten können, mit der aktuellen, der nächsten und der übernächsten. Sie sehen, ich habe eine Zeithorizont von mindestens 12 Jahren im Blick.


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