"Etwas ist deutlich schiefgelaufen"
Fijáte 447 vom 4. November 2009, Artikel 1, Seite 1
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"Etwas ist deutlich schiefgelaufen"
Carlos Castresana, eine Grösse in Sachen Internationalem Recht, war in seiner damaligen Funktion als spanischer Staatsanwalt einer der Initiatoren des Falls Pinochet und der Prozesse gegen die argentinischen Militärs. Seit 2007 ist er der im Rahmen eines UNO-Mandats tätige Leiter der Internationalen Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG). In dieser Funktion hat er sich unter anderem mit dem Fall des Anwalts Rosenberg beschäftigt, der vor seiner Ermordung ein Video hinterliess, in dem er den guatemaltekischen Präsidenten Alvaro Colom, für seinen Tod verantwortlich machte. Der folgende Text ist die Kombination eines Interviews, das Carlos Castresana am 9. Oktober der spanischen Zeitung "Vanguardia" gegeben hat, seinem Referat an der Jahreskonferenz der Politischen Abteilung IV für Menschliche Sicherheit des Schweizerischen Departement des Äussern (EDA) vom 15. Oktober sowie eines in diesem Rahmen mit ihm geführten Interviews der ¡Fijáte!-Redaktion. Vanguardia: Wie haben Sie den Fall Rosenberg gelöst? Carlos Castresana: Der Fall Rosenberg wurde dermassen "mixtifiziert" (Wortspiel zischen vermischen und mystifizieren), dass er zu einer regelrechten Staatskrise ausartete. Tatsächlich stand während 72 Stunden die Regierbarkeit des Landes auf dem Spiel. Doch der Fall an sich ist relativ einfach und ein gutes Beispiel, um die Arbeit der CICIG aufzuzeigen. Der Fall Rosenberg wurde aufgeklärt (siehe ¡Fijáte! 444), weil man nicht, wie es die Mehrheit der guatemaltekischen und internationalen öffentliche Meinung gefordet hatte, den Präsidenten und seine Gattin an den Pranger stellte, sondern weil man striktes kriminalistisches Vorgehen anwendete: Wir werteten die Aufnahmen sämtlicher Videokameras in Rosenbergs Wohnquartier aus und konnten so das Fahrzeug identifizieren, das Rosenberg verfolgt hatte, als er am 10. Mai auf seinem Fahrrad das Haus verliess. Dieses Auto war sehr auffällig: ein schwarzer Mazda, das Nummernschild war gefälscht, es hatte hinten einen Spoiler, einen rote Markierung an den Pneus und einen Aufkleber am Tankdeckel. Es war also nicht irgendein Fahrzeug und alles, was wir machten, war klassische Polizeiarbeit: Wir gingen auf die Fahrzeugkontrolle, liessen uns die Namen sämtlicher BesitzerInnen von Mazdas 6 geben und überprüften sie einzeln. Bis wir den Besitzer dieses spezifischen Fahrzeugs ausmachen konnten - ein ehemaliger Polizist. Und wir machten, was in jedem zivilisierten Land in diesem Fall gemacht würde: Wir hörten sein Telefon ab und leiteten die normalen Untersuchungen ein, bis wir die ganze Bande hatten. Damit haben wir nichts anderes gemacht, als in Guatemala eine "normale" Untersuchung durchzuführen, transparent und vertrauenswürdig. Wir erlangten eine Glaubwürdigkeit, welche die lokalen Institutionen nicht haben, und in diesem Sinne hat die Kommission eine Normalität wieder herstellen können in einem Moment, in dem die Institutionen extrem in Frage gestellt waren. Wie sich eine solche Situation im Extremfall entwickeln kann, sehen wir aktuell im Nachbarland Honduras. Es geht hier um einen Kriminalfall, und unabhängig davon, welch hochrangige Institutionen oder Personen darin involviert sind, muss er wie ein Kriminalfall angegangen werden. ¡Fijáte!: Nun sind ja, wie in so vielen anderen Fällen in Guatemala, zwar die materiellen Täter verhaftet, die intellektuellen Verantwortlichen geniessen nach wie vor Straflosigkeit. Gehen Sie mit Ihren Untersuchungen noch einen Schritt weiter oder bleibt es bei der Verurteilung von Sündenböcken? C.C.: Ich kann Ihnen im Moment keine Details erzählen, aber dieser Fall wird komplett aufgeklärt werden, das verspreche ich Ihnen. Wir werden wie bisher die normalen Untersuchungsweisen anwenden - die für Guatemala alles andere als normal sind - und keinerlei Vorbehalte oder Vorurteile berücksichtigen. ¡Fijáte!: Auch wenn es um den Präsidenten geht? C.C.: Auch wenn es um den Präsidenten geht. Wir können da keine Animositäten berücksichtigen, denn schliesslich geht es um das Ansehen der Vereinten Nationen. Was wir aufdecken werden, decken wir auf, und wir wenden dabei polizeiliche und kriminalistische Methoden an und nicht politische. Weder im Guten noch im Schlechten gehen wir anders vor, als wir bei irgendeinem Mordfall in Bern vorgehen würden. So sind wir auch bisher vorgegangen und dies nicht erfolglos, oder? Vanguardia: Wie wurde die Kommission von den guatemaltekischen Autoritäten aufgenommen? C.C.: Wir wurden respektiert, und man hat uns die nötige Zeit gelassen, um Fuss zu fassen. Ehrlicherweise muss man sagen, dass es am Anfang Sektoren gab, die uns gegenüber sehr kritisch eingestellt waren und aus patriotischen Gründen und mit Souveränitätsargumenten sogar Widerstand gegen unsere Präsenz leisteten. Dies war die Folge vieler Missverständnisse, was unsere Präsenz und unser Mandat anbelangt. Aber man darf nicht vergessen, dass es die guatemaltekische Regierung war, die uns eingeladen hat, ins Land zu kommen. Unterdessen gewannen wir aber in breiteren Kreisen Anerkennung, ein Grossteil der Bevölkerung hat Vertrauen in uns. Was die Regierung betrifft, war es nicht immer einfach. Grundsätzlich ist sie kooperativ und verhält sich korrekt. Aber in einem Land, in dem es immer an Ressourcen mangelt, ist es einfach so, dass uns nicht alle Leute und die gesamte Infrastruktur zur Verfügung gestellt oder die Gesetze so schnell modifiziert werden können, wie wir uns das wünschen. So haben uns zum Beispiel die häufigen Wechsel im Innenministerium ziemlich zu schaffen gemacht, weil die jeweiligen Minister unterschiedlich kooperativ waren. Mit dem aktuellen sind wir dran, wieder eine Zusammenarbeit aufzubauen. Auch unsere kürzliche Intervention bei den Wahlen der Richter des Obersten Gerichtes hat unsere Beziehung mit der Regierung, dem Kongress und den Institutionen auf eine harte Probe gestellt. Aber schlussendlich wurden unsere Einwände angenommen und berücksichtigt, was für uns ein grosser Erfolg bedeutet. Vanguardia: Der jüngste Bericht der guatemaltekischen Menschenrechtsorganisation Grupo de Apoyo Mutuo (GAM) spricht davon, dass die Gewalt in Guatemala ständig zunimmt, wortwörtlich: "Die Gewalt von heute ist grösser als jene von gestern, und was wir morgen erleben werden, ist nichts im Gegensatz zu dem, was uns in der Zukunft bevorsteht." Teilen Sie diese Meinung? C.C.: Ja. Ich will nicht dramatisieren, aber es ist einfach so, dass die Probleme, die wie heute nicht lösen, sich mit der Zeit verschlimmern werden. Die Anzahl der durch Gewalteinfluss Gestorbenen hat seit der Unterzeichnung der Friedensabkommen ständig zugenommen. Während der Präsidentschaft von Alvaro Arzu waren es 12'000 , in der Zeit von Portillo waren es 14'000, unter der Regierung von Berger waren es 21'000, und nun mit Colom müssen wir mit 25'000 gewalttätigen Morden rechnen (in je vier Jahren). Wir sind wieder bei den Zahlen des bewaffneten Konflikts angelangt mit dem Unterschied, dass sich das Land heute im Frieden befindet. Es ist auch beunruhigend, dass in Guatemala derzeit doppelt soviel Munition im Umlauf ist wie während des Krieges: Damals waren es 25 Mio. Kugeln pro Jahr, heute sind es 50 Mio. Wo werden all diese Kugeln verschossen? Es ist offensichtlich, dass ein Teil ausser Landes geschmuggelt wird, der Rest wird aber in Guatemala verschossen, was bedeutet, dass wir hier einen Konflikt haben, zwar nicht im legalen oder politischen Sinne, der aber trotzdem gelöst werden muss. Nach oben |
Vanguardia : Guatemala ist heute gewalttätiger als El Salvador, das bisher den Ruf hatte, das diesbezüglich schlimmste Land Lateinamerikas zu sein. C.C.: Qualitativ gesehen stimmt das. Vielleicht nicht in absoluten Zahlen, aber was die Fähigkeit des Staates betrifft, darauf zu reagieren, auf jeden Fall. In El Salvador beträgt die Straflosigkeit ca. 50%, in Guatemala ist sie 98%. El Salvador hatte einen ähnlichen brutalen, bewaffneten Konflikt, Friedensabkommen, die mehr oder weniger implementiert wurden und Institutionen, die zwar nur auf Sparflamme funktionieren, die aber funktionieren. In Guatemala ist das Justizsystem quasi kollabiert. Nur zwei von hundert Fällen zu lösen, bedeutet, dass die fundamentalen Rechte der Bevölkerung nur noch in der Theorie bestehen. Ausführung Castresana an der EDA-Tagung: Die Ausgangslage ist heute in Guatemala völlig anders. Die Gewalt wird nicht mehr von staatlichen Kräften ausgeübt, das heisst, wir können nicht mehr von politischer Gewalt sprechen. Die Täter stammen aus der Zivilgesellschaft, und die Institutionen des Staates sind von rechtswidrigen Gruppen unterwandert. Heute respektiert der Staat die BürgerInnen, aber er kann sie nicht schützen. Meiner Meinung nach ist nach den Friedensabkommen etwas gewaltig schief gelaufen. Es wurden zwar perfekte Abkommen unterzeichnet, doch diese wurden nicht umgesetzt (z. B. Ablehnung des Referendums 1999, welches die gesetzliche Verankerung diverses Punkte der Friedensabkommen garantiert hätte, die Red.). Es wurde nichts zur Auflösung der aufstandsbekämpfenden Strukturen unternommen, und so konnten sich diese Kräfte nach Belieben neu organisieren und sich neue Wirkungsfelder suchen. Was die Aufarbeitung der Vergangenheit betrifft, wurde an dem Recht auf Wahrheit gearbeitet, das Recht auf Gerechtigkeit wurde jedoch ausgeklammert, und alle Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen an der Menschlichkeit aus der Zeit des bewaffneten Konflikts blieben straflos. Unterdessen hat sich die Straflosigkeit zu einem Instrument der Gewalt gewandelt, deren Ursache die Korruption ist. Manchmal denke ich, man hätte so etwas wie eine CICIG bereits 1996 einrichten müssen. ¡Fijáte!: Dadurch, dass das Mandat der CICIG darin besteht, nur aktuelle Fälle aufzuklären, wurde ein wichtiger Teil der Aufarbeitung der Vergangenheit übersprungen. Kann unter diesen Bedingungen überhaupt eine längerfristige und nachhaltige Veränderung erreicht werden? C.C.: Klar wäre es viel einfacher, wenn alle oder wenigstens einige der wichtigen Verbrechen des bewaffneten Konflikts verfolgt und aufgeklärt worden wären. Da können wir aber nichts machen und müssen unser Mandat strikt einhalten. Ich möchte festhalten, dass es in acht Fällen zu Anfechtungen kam, weil uns vorgeworfen wurde, wir würden uns in etwas einmischen, das nicht unserem Mandat entspricht, doch die Gerichte haben in allen acht Fällen zu unseren Gunsten entschieden. Die Aufklärung der Verbrechen der Vergangenheit ist Aufgabe der guatemaltekischen Gerichte, und wenn die internationale Gemeinschaft ein Interesse daran hat, dass diese Verbrechen aufgeklärt werden, muss sie sich andere Mechanismen überlegen als die CICIG. Wenn wir jedoch heute klandestine Apparate demontieren können, die bereits vor 30 Jahren funktioniert haben, tragen wir selbstverständlich etwas zur Aufarbeitung der Vergangenheit bei. ¡Fijáte!: Aus einer Intervention von Helen Mack an der heutigen Tagung war eine grosse Frustration zu hören bezüglich dem, was die CICIG bewirken kann. Wie ist Ihre Beziehung zu jenen guatemaltekischen Menschenrechtsorganisationen, die massgeblich für das Vorgängerprojekt der CICIG, die CICIACS, gekämpft haben? C.C.: Unsere Beziehung zu diesen Organisationen und überhaupt zur organisierten Zivilgesellschaft ist sehr gut, und wir geniessen ihre volle Unterstützung. Das Problem, das diese Organisationen haben, haben sie mit ihrer Regierung, weil sie sehen, dass dort nichts unternommen wird, um ihre Forderungen umzusetzen. Dass die Regierung nichts macht, ist aber wiederum nicht unser Fehler. Vanguardia: Ihre Kommission beschäftigt sich auch mit den Frauenmorden. Die sind ja in Guatemala noch viel schlimmer als in Ciudad Juárez, Mexiko? C.C.: Ja, es ist schlimmer. In Mexiko ist in erster Linie die Straflosigkeit das Problem und nicht die Anzahl der Toten. In Guatemala sind die Zahlen exorbitant: 700 ermordete Frauen pro Jahr in einem Land mit 13 Mio. EinwohnerInnen. Und eine Aufklärungsrate von 2%. Die Straflosigkeit ist immens. Dies ist fast eine Einladung an die Täter: Frauen können umgebracht werden, ohne dass es juristische Konsequenzen hat. Vanguardia : Gibt es in diesen Fällen ein Muster ? C.C.: Prozentual ist die Zahl unaufgeklärter Morde im Fall von Frauen etwa gleich hoch wie jene der Männer. Aber es gibt einen elementaren Unterschied: Männer werden normalerweise für das umgebracht, was sie tun, derweil Frauen umgebracht werden für das, was sie sind. Während Männer ihr Verhalten ändern können, wenn sie wollen, können Frauen ihr Frausein nicht verändern. Sie brauchen einen spezifischen Schutz, weil sie einer spezifischen Gewalt ausgesetzt sind. In zwei von drei Fällen sind ausserdem die Täter bekannt, da es sich um Fälle häuslicher Gewalt handelt. Sie werden von ihren Partnern, Verlobten, Vätern, Arbeitskollegen oder männlichen Bekannten umgebracht. Es wäre also kein polizeiliches Kunststück, die Täter zu bestimmen. ¡Fijáte!: Wenn es so einfach ist, wie Sie das darstellen, weshalb hat die CICIG denn nicht schon längst ein paar Präzedenzfälle geschaffen? C.C.: Die Aufklärung der Frauenmorde ist nicht direkt Teil unseres Mandats. Wir haben die Aufgabe, klandestine Sicherheitsapparate und illegale Strukturen zu demontieren. Wir haben ein paar Fälle von Feminizid aufgenommen, in die kriminelle Strukturen involviert sind. Aber individuelle Fälle häuslicher Gewalt müssen von der Polizei und der Staatsanwaltschaft verfolgt werden. Hier geht es aber nicht nur um die rein institutionelle Aufgabe, sondern es liegt in der Verantwortung der ganzen Gesellschaft, ihre Einstellung gegenüber den Frauen und dem Wert eines Frauenlebens zu ändern. ¡Fijáte!: Was geschähe, wenn in zwei Jahren das Mandat der CICIG nicht erneuert würde? C.C.: Das müssen Sie den UNO-Generalsekretär fragen! Ich weiss nicht, was das für Guatemala bedeuten würde. Aber wenn es internationales Interesse gibt, dass die Arbeit weitergeführt wird, können neue Verträge abgeschlossen und im Rahmen der üblichen Kooperation die von uns in die Wege geleiteten Prozesse unterstützt werden. Natürlich würde ich mir wünschen, dass es bis dahin die CICIG nicht mehr brauchen würde, aber ich habe keine Kristallkugel, um die Zukunft zu lesen. ¡Fijáte!: Und wenn die Regierung wechselt? C.C.: Der Erfolg der CICIG hängt nicht von dieser oder irgendeiner guatemaltekischen Regierung ab. Wir müssen mit jeder Regierung zusammenarbeiten können, mit der aktuellen, der nächsten und der übernächsten. Sie sehen, ich habe eine Zeithorizont von mindestens 12 Jahren im Blick. |
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