guatemala.de > Guatemalagruppe Nürnberg e. V. > Fijate
Fijáte
 

Auf dem Weg zu einem failed state?

Fijáte 439 vom 15. Juli 2009, Artikel 1, Seite 1

PDF Original-PDF 439 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 --- Nächstes Fijáte

Auf dem Weg zu einem failed state?

Aber auch der Diskurs des failed state und die Realität, die er beschreibt, sind nicht zu trennen von der aktuellen Konjunktur. Edelberto Torres-Rivas schrieb bereits 2007, dass die "Revision (der Staatskräfte) vorgenommen wurde aufgrund der Angst der USA, dass ein bankrotter Staat Nährboden sein könnte für Terroristen, Drogenhändler oder Feinde der geltenden Wirtschaftsordnung. So wurde von offizieller Seite das Bild verbreitet, ein gescheiterter Staat sei einer, der innerlich verfault, in den institutionellen Bankrott fällt, aufhört, die Nation zu repräsentieren und seiner Pflicht, die Grundfunktionen zu erfüllen, nicht mehr nachkommt. In den letzten Jahren wurde ausführliche Literatur zu diesem Thema produziert.

Edgar Gutiérrez erklärt gegenüber Inforpress, dass man von einem gescheiterten Staat sprechen könne, wenn a) dieser strategische Gebiete nicht mehr unter Kontrolle habe, b) seine Autorität nicht mehr respektiert werde und sich die Bevölkerung selber regiere und c) sein Apparat kollabierte: Es gibt zwar eine Führungselite, aber niemanden, der deren Anordnungen ausführt.

Nicht alle sind mit dieser Definition einverstanden. Edelberto Torres-Rivas spricht dann von einem failed state, wenn dieser keinen funktionierenden Flughafen, keine Polizei, keine Banken, keinen Handel oder Export mehr habe. In Guatemala funktioniere all dies zwar schlecht, aber es funktioniere, erklärt Torres-Rivas.

Unabhängig von der Frage der Brauchbarkeit des Konzepts des failed state zweifelt niemand daran, dass sich das Organisierte Verbrechen in Guatemala ausbreitet. Einige Analysten sind gar der Ansicht, dass dieses und andere illegale oder terroristische Gruppen weltweit an Boden und Einfluss gewinnen. "Verbotene oder gewalttätige Organisationen übernehmen immer mehr die Kontrolle über Land, Märkte und Bevölkerungen", schreibt Terje Rod-Larsenen, Präsident des International Peace Institute und ehemaliger Repräsentant der VGVereinten NationenNF für den Nahen Osten, in einer Publikation im Jahr 2007.

Ein Grossteil der Literatur über das Konzept des failed state stellt einen Zusammenhang her zwischen der Verbreitung des Organisierten Verbrechens und den Auswirkungen des Konsenses von VGWashingtonNF: Zunehmende Ungleichheit, zunehmende internationale Integration im Technologie- und Transportbereich, Deregulierung des Finanzsystems und generelle Schwächung des Staates. Ivan Briscoe von der Stiftung für Internationale Beziehungen und zwischenstaatlichen Dialog in Madrid kommt zu dem Schluss, dass sich diese Elemente mit dem "Erbgut" des guatemaltekischen militärischen Geheimdienstes vermischen und so das Land in ein Paradies für das Organisierte Verbrechen verwandeln.

Die Schwächen des Staates sind aber nur zu einem Teil den ehemaligen Militärs anzulasten. Das unveröffentlichte Buch Was die Reichen den Armen nicht erzählen, eine Art ethnologische Studie über die guatemaltekischen Eliten des englischen Akademikers Roman Krznaric, dokumentiert, dass der geschwächte Staat auch die Konsequenz einer Vernachlässigung der Justiz durch die reichen Schichten ist. Krznaric beschreibt, wie die Elite im Jahr 2000 auf die Entführung eines Mitglieds der einflussreichen Familie VGBotránNF, Isabel Botrán de Molina, reagierte: VGANACAFENF publizierte ganzseitige Inserate, in denen gegen die "schwerbewaffneten Delinquenten" protestiert und die Regierung darum gebeten wurde, "Gesetz und Ordnung wieder herzustellen". In diesem Zusammenhang wurde der Ruf nach der VGTodesstrafeNF laut.

Krznaric beschreibt zwei Phänomene, die auch in den Wochen nach der Ermordung von Rosenberg zu beobachten waren. Erstens, dass die Oligarchie nur dann protestiert, wenn "einer von ihnen" betroffen ist. Und zweitens, dass dieser Aufruf nach Intervention des Rechtsstaates nicht zu einer grösseren Bereitschaft führt, mehr Steuern zu bezahlen, um damit z. B. das Justizwesen zu modernisieren oder die strukturellen Ursachen der Delinquenz zu beseitigen.

"Fast alle meiner InterviewpartnerInnen drückten ein totales Misstrauen gegenüber der Fähigkeit der Polizei aus, den Verbrechen im Allgemeinen und den Entführungen im Speziellen zu begegnen. Sie glauben, dass nicht bloss die Polizei, sondern auch RichterInnen und Kongressabgeordneten korrupt sind", schreibt Krznaric. Aber statt das politische System zu stärken, wählen die Eliten die private Sicherheit: Die Anzahl der privaten SicherheitsagentInnen ist in den letzten Jahren von 35'000 auf 90'000 angestiegen.

Der fehlende Wille der Eliten, eine Steuerreform zu unterstützen, ist notorisch. Torres-Rivas erklärt, dass dies aber nur der Ausdruck eines tiefer liegenden Problems sei. Die herrschende Klasse habe keine Führungspersönlichkeiten. Deshalb sei es ihr auch nie gelungen, gemeinsame Visionen über die Zukunft des Landes zu artikulieren oder starke Parteien zu gründen. Gemäss Torres-Rivas hat dies explizit auch jegliche Konsolidierung des Staates unterminiert.

In einer Demokratie mit mindestens zwei oder drei konkurrierenden Parteien müsste die Elite Massnahmen zugunsten der Bevölkerung ergreifen, um sich längerfristig deren WählerInnengunst zu sichern. In Guatemala hingegen formieren sich die Parteien im Hinblick auf eine Wahl, aber einmal an der Macht, gelingt es ihnen bis heute nicht, sich dort länger als eine Amtsperiode zu halten. Dies führt zu einer unsäglichen Machtgier. Wer einmal die Wahlen gewinnt weiss, dass er sie nicht noch einmal gewinnen wird und räumt deshalb während seiner Regierungszeit die Staatskassen leer.

Den Staat aufzwingen?

Iván Briscoe betont, dass die Aufmerksamkeit, die das Konzept des failed state weckt, zu einer neuen Sorge bezüglich der "Regierbarkeit" Guatemalas seitens der USA und Europas geführt hat. In diesem Zusammenhang muss auch die Präsenz der Internationalen Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala (VGCICIGNF) gesehen werden, die nicht nur für die Zukunft des Landes wichtig ist, sondern auch ein Prüfstein für die Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft darstellt, ihre "Agenda der Regierbarkeit" durchzusetzen.

Noch ist nicht klar, ob der Ansatz der internationalen Staatengemeinschaft im Umgang mit gescheiterten Staaten erfolgreich ist, hat er doch Ähnlichkeiten mit den Erwartungen, die in die "Demokratisierungsprozesse" nach dem Kalten Krieg gesteckt wurden. 1993 beschrieb der VGargentinischeNF Politologe Guillermo O'Donnell in seinem Essay On the State, Democratization, and some conceptual problems, dass Staaten auf unterschiedliche und komplexe Weisen mit ihren jeweiligen Gesellschaften verbunden seien. Dies bedeute, dass die Eigenarten eines jeden Staates und einer jeden Gesellschaft den Demokratisierungsprozess (sollte sich die Demokratie überhaupt konsolidieren) stark beeinflussten. Wenn dies nicht berücksichtigt würde, sei es eine Frage der Zeit, bis die vermeintliche Demokratie wieder aufbreche.

Dies bedeutet also, dass die Entwicklung eines Staates in grossem Masse von der Entwicklung seiner Gesellschaft abhängt. O'Donnell hat Bedenken bezüglich Gesellschaften, die von Ungleichheit geprägt sind und von zentralistischen Mächten, die historisch schwach sind und keine Reichweite haben, wie dies in Lateinamerika weit verbreitet ist: "In vielen aufsteigenden Demokratien funktioniert die staatliche Autorität und die Anwendung der Gesetze nur in den Städten, in ländlichen Gegenden sind sie inexistent. Aber auch die Städte sind geprägt von illegalen Interventionen der Polizei in armen Vierteln, von der Anwendung von Folter und aussergerichtlichen Hinrichtungen von verdächtigen Personen und vermeintlichen Kriminellen. Dazu gehören auch die Verweigerung der Rechte der Frauen oder von Minderheiten, die VGStraflosigkeitNF und der Drogenhandel, die grosse Anzahl an Strassenkindern (…). All dies ist Ausdruck des Zerfalls des städtischen Lebens und der Unfähigkeit des Staates, seine eigenen Normen und Gesetze durchzusetzen. Viele öffentliche Räume verschwinden, einerseits weil sie von Randständigen besetzt werden, aber auch, weil sich niemand mehr traut, sie zu nutzen. Angst, Unsicherheit, Isolierung in abgesicherte Quartiere und die schrecklichen Erfahrungen bei der Nutzung des öffentlichen Transports reduzieren die öffentlichen Räume und enden in einer perversen Form der VGPrivatisierungNF (…)."


PDF Original-PDF 439 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 --- Nächstes Fijáte