Auf dem Weg zu einem failed state?
Fijáte 439 vom 15. Juli 2009, Artikel 1, Seite 1
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Auf dem Weg zu einem failed state?
"Wie sicher ist es, das Haus zu verlassen?" Diese alltägliche Frage vieler GuatemaltekInnen ist ein Symptom dafür, dass die Dinge im Land seit langem nicht mehr im Lot sind. Bedeutet dies, dass Guatemala ein "failed state", ein gescheiterter Staat ist? Diese Frage löst unter Fachleuten eine kontroverse Debatte aus. Einig ist man sich einzig darin, dass die Situation in Guatemala die Angst vor und den Umgang mit den komplexen weltweiten Entwicklungen widerspiegelt. Der folgende Artikel von Matthew Brooke wurde am 19. Juni in der Nr. 1804 von Inforpress Centroamericana veröffentlicht. Im Winter 2008/ 09 veröffentlichte der Journalist Michael Deibert einen Artikel mit dem Titel "Drogen versus Demokratie in Guatemala". Die Reportage, eine ausführliche Beschreibung der jüngsten Geschehnisse, bringt die politische Elite mit dem Drogenhandel in Verbindung und erwähnt unter anderem das Beispiel des bei einem Helikopterabsturz im Juni 2008 ums Leben gekommenen ehemaligen Innenministers Vinicio Gómez. Sie bringt seinen Tod in Verbindung mit dem damaligen Verantwortlichen des Sekretariats für administrative Belange und die Sicherheit des Präsidenten (SAAS), Carlos Quintanilla, der wiederum dem ehemaligen Chef des Präsidialen Generalstabs (EMP), Francisco Ortega Menaldo, nahegestanden haben soll, welcher bekannt ist für seine kriminellen Machenschaften. Deibert schreibt sinngemäss: "Laut anonymisierten Aussagen eines hohen Funktionärs der Regierung von Álvaro Colom kam es vor dem Unglück zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Quintanilla und Gómez. ZeugInnen dieser Dispute sagten, dass Quintanilla nicht einverstanden gewesen sei mit Gómez' Vorhaben, Militärtruppen an die guatemaltekisch-mexikanische Grenze zu entsenden, um gegen den dort mutmasslich agierenden Drogenkartellboss Juan Alberto "Chamale" Ortiz López vorzugehen. Dieser war einer der ersten, der für seine Geschäfte in Guatemala Angehörige der mexikanischen "Zetas" (Söldner des Kartells "del Golfo") anheuerte. Mit dem Tod von Gómez - den niemand in Guatemala als einen Unfall bezeichnet - wurde die bereits geschwächte Administration quasi gänzlich lahmgelegt." Es ist schwierig, den Wahrheitsgehalt dieser Aussage nachzuweisen, und es gibt auch einige Gründe dafür, ihn anzuzweifeln. Dass es Konflikte innerhalb der Regierung gibt, ist bekannt, und es ist durchaus möglich, dass jemand Quintanilla in Verruf bringen will. Ausschlaggebend an dieser Geschichte ist vielleicht nicht so sehr, ob sie stimmt oder nicht, sondern dass sie für viele BürgerInnen durchaus realistisch scheint. Sie ist nur ein Beweis mehr für die Infiltrierung des Staates und der Regierung durch das Organisierte Verbrechen. Dafür gibt es im Verlauf der letzten Jahre genügend Beispiele, angefangen bei der Ermordung der drei salvadorianischen PARLACEN-Abgeordneten und ihrem Fahrer, über die Ermordung der in dieser Angelegenheit festgenommenen guatemaltekischen Polizisten bis hin zum "Fall Rosenberg", welcher den Präsidenten für seine Ermordung verantwortlich machte. Bei all diesen Fällen kann vermutet werden, dass das Organisierte Verbrechen auf höchster Ebene in die politischen Sphären Einfluss genommen hat. Die mögliche Ermordung von Gómez bestätigt aber auch eine These, der immer mehr guatemaltekische Analysten anhängen: Guatemala ist auf dem Weg dazu, ein failed state zu werden, bzw. es ist bereits einer. Der ehemalige Aussenminister und Politologe Edgar Gutiérrez bestätigte kürzlich gegenüber der costaricanischen Zeitung La Nación, dass mehr als 80% der Bevölkerung Guatemala als einen gescheiterten Staat bezeichnen. Weitergedacht - und wenn sich die Hypothese von Deibert bewahrheiten sollte - wäre dies ein weiteres "Erbstück" des militärischen Geheimdienstes, der gemäss der Kommission für die historische Aufklärung (CEH) während des bewaffneten Konflikts die "absolute Herrschaft" über das Land ausübte. "Das System der Geheimdienste war der Dreh- und Angelpunkt einer Staatspolitik. Es wurde während des bewaffneten Konflikts dazu genutzt, die Bevölkerung, die Gesellschaft, den Staat und das Militär zu kontrollieren", schlussfolgert die CEH. Die CEH zeigt auch auf, dass die Apparate des militärischen Geheimdienstes den Rechtsstaat auch in den ersten Jahren der Demokratisierungsphase beherrschten. So werden ihnen während der 90er Jahre diverse politische Morde zugeschrieben, obwohl man den obersten Rängen nie endgültig eine Verantwortung oder Schuld nachweisen konnte. In seinem Buch Die versteckte Macht beweist Jaime Robles Motoya jedoch eindrücklich die Verantwortung des Präsidialen Generalstabs (EMP) unter dem damaligen Leiter Ortega Menaldo im Jahr 1993 bei der Ermordung des Politikers Jorge Carpio Nicolle sowie ein Jahr später bei der Ermordung des damaligen Präsidenten des Verfassungsgerichts. Der einzige Fall, in dem die Beteiligung eines hohen Offiziers des EMP nachgewiesen werden konnte, ist jener von Bischof Gerardi. In dieser Sache wurde der Hauptmann Byron Miguel Lima Oliva verurteilt, seine Vorgesetzten, z. B. Ex-General Otto Pérez Molina, konnten jedoch nicht belangt werden. Wie Edgar Gutiérrez bestätigt, geht heute der Bruch in den staatlichen Institutionen auch quer durch die Geheimdienste. Nach der Auflösung des EMP wurden die Bereiche Staatlicher Geheimdienst und Sicherheit des Präsidenten auf zwei Entitäten aufgeteilt, das Sekretariat für strategische Analysen (SAE) ist zuständig für den ersten Bereich, das Sekretariat für administrative Belange und die Sicherheit des Präsidenten (SAAS) für den zweiten. In seiner Kolumne in der Tageszeitung elPeriódico beschrieb Gutiérrez am 8. Juni, wie die Fälle Gerardi und Rosenberg Ausdruck der jeweiligen Konjunktur sind: "Der grosse Unterschied ist, dass im Fall Gerardi ein zentraler Apparat des Geheimdienstes am Werk war, der aus dem Innern des Staates heraus operierte und zahlreiche Verbindungen nach aussen zu nicht-staatlichen Akteuren und mächtigen Netzwerken hatte (…). Dadurch wurde der Staat feudalisiert. Es gibt heute keine staatliche Autorität, die in der Lage wäre, die Sicherheitshierarchien wiederherzustellen oder die Fragmentierung der Macht aufzuhalten." Ein neues KonzeptDiese Allmacht des militärischen Geheimdienstes ist das Ergebnis historischer Konstellationen: Die Vereinigten Staaten Amerikas verbreiteten die Ideologie der Doktrin der nationalen Sicherheit in ganz Lateinamerika und finanzierten teilweise den Aufbau militärischer Geheimdienste. Ausserdem gaben sie Informationen an Leute wie Ortega Menaldo weiter, was diesem half, seine Schmuggelnetzwerke aufzubauen. Auch die wirtschaftliche Macht arbeitete direkt mit dem Geheimdienst zusammen. So erarbeiteten gemäss dem Bericht des Projektes für die Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses (REMHI) die im CACIF zusammengeschlossenen UnternehmerInnen zusammen mit dem militärischen Geheimdienst G2 den antikommunistischen und repressiven sogenannten "Plan der tausend Tage". Nach oben |
Aber auch der Diskurs des failed state und die Realität, die er beschreibt, sind nicht zu trennen von der aktuellen Konjunktur. Edelberto Torres-Rivas schrieb bereits 2007, dass die "Revision (der Staatskräfte) vorgenommen wurde aufgrund der Angst der USA, dass ein bankrotter Staat Nährboden sein könnte für Terroristen, Drogenhändler oder Feinde der geltenden Wirtschaftsordnung. So wurde von offizieller Seite das Bild verbreitet, ein gescheiterter Staat sei einer, der innerlich verfault, in den institutionellen Bankrott fällt, aufhört, die Nation zu repräsentieren und seiner Pflicht, die Grundfunktionen zu erfüllen, nicht mehr nachkommt. In den letzten Jahren wurde ausführliche Literatur zu diesem Thema produziert. Edgar Gutiérrez erklärt gegenüber Inforpress, dass man von einem gescheiterten Staat sprechen könne, wenn a) dieser strategische Gebiete nicht mehr unter Kontrolle habe, b) seine Autorität nicht mehr respektiert werde und sich die Bevölkerung selber regiere und c) sein Apparat kollabierte: Es gibt zwar eine Führungselite, aber niemanden, der deren Anordnungen ausführt. Nicht alle sind mit dieser Definition einverstanden. Edelberto Torres-Rivas spricht dann von einem failed state, wenn dieser keinen funktionierenden Flughafen, keine Polizei, keine Banken, keinen Handel oder Export mehr habe. In Guatemala funktioniere all dies zwar schlecht, aber es funktioniere, erklärt Torres-Rivas. Unabhängig von der Frage der Brauchbarkeit des Konzepts des failed state zweifelt niemand daran, dass sich das Organisierte Verbrechen in Guatemala ausbreitet. Einige Analysten sind gar der Ansicht, dass dieses und andere illegale oder terroristische Gruppen weltweit an Boden und Einfluss gewinnen. "Verbotene oder gewalttätige Organisationen übernehmen immer mehr die Kontrolle über Land, Märkte und Bevölkerungen", schreibt Terje Rod-Larsenen, Präsident des International Peace Institute und ehemaliger Repräsentant der Vereinten Nationen für den Nahen Osten, in einer Publikation im Jahr 2007. Ein Grossteil der Literatur über das Konzept des failed state stellt einen Zusammenhang her zwischen der Verbreitung des Organisierten Verbrechens und den Auswirkungen des Konsenses von Washington: Zunehmende Ungleichheit, zunehmende internationale Integration im Technologie- und Transportbereich, Deregulierung des Finanzsystems und generelle Schwächung des Staates. Ivan Briscoe von der Stiftung für Internationale Beziehungen und zwischenstaatlichen Dialog in Madrid kommt zu dem Schluss, dass sich diese Elemente mit dem "Erbgut" des guatemaltekischen militärischen Geheimdienstes vermischen und so das Land in ein Paradies für das Organisierte Verbrechen verwandeln. Die Schwächen des Staates sind aber nur zu einem Teil den ehemaligen Militärs anzulasten. Das unveröffentlichte Buch Was die Reichen den Armen nicht erzählen, eine Art ethnologische Studie über die guatemaltekischen Eliten des englischen Akademikers Roman Krznaric, dokumentiert, dass der geschwächte Staat auch die Konsequenz einer Vernachlässigung der Justiz durch die reichen Schichten ist. Krznaric beschreibt, wie die Elite im Jahr 2000 auf die Entführung eines Mitglieds der einflussreichen Familie Botrán, Isabel Botrán de Molina, reagierte: ANACAFE publizierte ganzseitige Inserate, in denen gegen die "schwerbewaffneten Delinquenten" protestiert und die Regierung darum gebeten wurde, "Gesetz und Ordnung wieder herzustellen". In diesem Zusammenhang wurde der Ruf nach der Todesstrafe laut. Krznaric beschreibt zwei Phänomene, die auch in den Wochen nach der Ermordung von Rosenberg zu beobachten waren. Erstens, dass die Oligarchie nur dann protestiert, wenn "einer von ihnen" betroffen ist. Und zweitens, dass dieser Aufruf nach Intervention des Rechtsstaates nicht zu einer grösseren Bereitschaft führt, mehr Steuern zu bezahlen, um damit z. B. das Justizwesen zu modernisieren oder die strukturellen Ursachen der Delinquenz zu beseitigen. "Fast alle meiner InterviewpartnerInnen drückten ein totales Misstrauen gegenüber der Fähigkeit der Polizei aus, den Verbrechen im Allgemeinen und den Entführungen im Speziellen zu begegnen. Sie glauben, dass nicht bloss die Polizei, sondern auch RichterInnen und Kongressabgeordneten korrupt sind", schreibt Krznaric. Aber statt das politische System zu stärken, wählen die Eliten die private Sicherheit: Die Anzahl der privaten SicherheitsagentInnen ist in den letzten Jahren von 35'000 auf 90'000 angestiegen. Der fehlende Wille der Eliten, eine Steuerreform zu unterstützen, ist notorisch. Torres-Rivas erklärt, dass dies aber nur der Ausdruck eines tiefer liegenden Problems sei. Die herrschende Klasse habe keine Führungspersönlichkeiten. Deshalb sei es ihr auch nie gelungen, gemeinsame Visionen über die Zukunft des Landes zu artikulieren oder starke Parteien zu gründen. Gemäss Torres-Rivas hat dies explizit auch jegliche Konsolidierung des Staates unterminiert. In einer Demokratie mit mindestens zwei oder drei konkurrierenden Parteien müsste die Elite Massnahmen zugunsten der Bevölkerung ergreifen, um sich längerfristig deren WählerInnengunst zu sichern. In Guatemala hingegen formieren sich die Parteien im Hinblick auf eine Wahl, aber einmal an der Macht, gelingt es ihnen bis heute nicht, sich dort länger als eine Amtsperiode zu halten. Dies führt zu einer unsäglichen Machtgier. Wer einmal die Wahlen gewinnt weiss, dass er sie nicht noch einmal gewinnen wird und räumt deshalb während seiner Regierungszeit die Staatskassen leer. Den Staat aufzwingen?Iván Briscoe betont, dass die Aufmerksamkeit, die das Konzept des failed state weckt, zu einer neuen Sorge bezüglich der "Regierbarkeit" Guatemalas seitens der USA und Europas geführt hat. In diesem Zusammenhang muss auch die Präsenz der Internationalen Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala (CICIG) gesehen werden, die nicht nur für die Zukunft des Landes wichtig ist, sondern auch ein Prüfstein für die Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft darstellt, ihre "Agenda der Regierbarkeit" durchzusetzen. Noch ist nicht klar, ob der Ansatz der internationalen Staatengemeinschaft im Umgang mit gescheiterten Staaten erfolgreich ist, hat er doch Ähnlichkeiten mit den Erwartungen, die in die "Demokratisierungsprozesse" nach dem Kalten Krieg gesteckt wurden. 1993 beschrieb der argentinische Politologe Guillermo O'Donnell in seinem Essay On the State, Democratization, and some conceptual problems, dass Staaten auf unterschiedliche und komplexe Weisen mit ihren jeweiligen Gesellschaften verbunden seien. Dies bedeute, dass die Eigenarten eines jeden Staates und einer jeden Gesellschaft den Demokratisierungsprozess (sollte sich die Demokratie überhaupt konsolidieren) stark beeinflussten. Wenn dies nicht berücksichtigt würde, sei es eine Frage der Zeit, bis die vermeintliche Demokratie wieder aufbreche. Dies bedeutet also, dass die Entwicklung eines Staates in grossem Masse von der Entwicklung seiner Gesellschaft abhängt. O'Donnell hat Bedenken bezüglich Gesellschaften, die von Ungleichheit geprägt sind und von zentralistischen Mächten, die historisch schwach sind und keine Reichweite haben, wie dies in Lateinamerika weit verbreitet ist: "In vielen aufsteigenden Demokratien funktioniert die staatliche Autorität und die Anwendung der Gesetze nur in den Städten, in ländlichen Gegenden sind sie inexistent. Aber auch die Städte sind geprägt von illegalen Interventionen der Polizei in armen Vierteln, von der Anwendung von Folter und aussergerichtlichen Hinrichtungen von verdächtigen Personen und vermeintlichen Kriminellen. Dazu gehören auch die Verweigerung der Rechte der Frauen oder von Minderheiten, die Straflosigkeit und der Drogenhandel, die grosse Anzahl an Strassenkindern (…). All dies ist Ausdruck des Zerfalls des städtischen Lebens und der Unfähigkeit des Staates, seine eigenen Normen und Gesetze durchzusetzen. Viele öffentliche Räume verschwinden, einerseits weil sie von Randständigen besetzt werden, aber auch, weil sich niemand mehr traut, sie zu nutzen. Angst, Unsicherheit, Isolierung in abgesicherte Quartiere und die schrecklichen Erfahrungen bei der Nutzung des öffentlichen Transports reduzieren die öffentlichen Räume und enden in einer perversen Form der Privatisierung (…)." |
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