Das Recht auf Nahrung in Guatemala
Fijáte 457 vom 31. März 2010, Artikel 1, Seite 1
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Das Recht auf Nahrung in Guatemala
Im März diesen Jahres wurde die Studie "Das Recht auf Nahrung in Guatemala" veröffentlicht. Eine internationale Kommission analysierte und dokumentierte mehrere Monate lang die verschiedenen Aspekte und Ursachen der Nahrungsmittelproblematik und der chronischen Unterernährung in Guatemala. Der folgende Artikel fasst einige Punkte dieses Berichts zusammen. Die ausführliche Studie ist in spanischer und englischer Ausführung auf der Webseite http://www.fian.org zu finden. Hintergrund und Ziel der StudieAufgrund der Ernährungsunsicherheit und der Situation der chronischen Unterernährung in Guatemala sahen mehrere lokale Organisationen (1) die Notwendigkeit, eine Verifikationsstudie durchzuführen, welche auf einer externen und objektiven Perspektive basieren sollte. So schlossen sich verschiedene internationale Menschenrechtsorganisationen (2) zusammen, um diverse Fälle von Verletzung des Rechts auf Nahrung und der damit zusammenhängenden Verletzungen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu dokumentieren und analysieren. So entstand die Studie Das Recht auf Nahrung in Guatemala, welche die Nahrungsmittelkrise in einen direkten Zusammenhang mit dem Abbau der Rohstoffvorkommen (Minen, sog. Agrotreibstoffe, Wasserkraftwerke etc.) setzt. Dieser Abbau zieht Wassermangel und -verschmutzung nach sich und übt einen wachsenden Druck auf die Gemeinden aus, ihr Land aufzugeben, um Zugang zu den Naturrohstoffen zu erlangen. Dadurch wird jeglicher Zugang auf Nahrungsmittelquellen blockiert. Die Studie zeigt ebenfalls auf, wie der vermehrte Anspruch auf Land durch so genannte Megaprojekte Gewalt gegenüber den betroffenen Gemeinden hervorruft - hauptsächlich in ländlichen Gebieten und an indigenen Personen - und aus den gleichen Gründen aktive MenschenrechtsverteidigerInnen stark bedroht, eingeschüchtert und kriminalisiert werden. Insgesamt wurden von der Mission zwölf Fälle von Bergbau, Wasserwerken, Landvertreibungen, massiven Anbaus von Biokraftstoffen und konkreten Fällen von Menschenrechtsverletzung (die uns oft in früheren ¡Fijáte! begegnet sind) näher untersucht: Die Räumungen von Panzós und El Estor; der Gemeinde Mich Bill Rix Pú, Laguna Lachuá; die Effekte der Ausweitung des Anbaus von Agrotreibstoff in Ocós und Coatepeque; in Sayaxché, El Petén; die Mine Marlin, der Umweltkonflikt des Berges Montaña de las Granadillas; die Erbauung des Wasserkraftwerkes Xalalá; der Landkonflikt um die Finca La Perla und San Luis Malacatán; die Gründung der Gewerkschaft SITRAPETEN; der Arbeitsrechtkonflikt in Nueva Florencia; und die Verteilung von transgenetischen Nahrungsmitteln über Regierungsprogramme. Rechts- und Hungerlage in GuatemalaDas Recht auf Nahrung ist eines der Grundrechte, die der Staat Guatemala auf nationaler (Verfassung und Rechtsprechung) und internationaler Ebene anerkannt hat. Das Gesetz über Nahrungs- und Ernährungssicherheit anerkennt das Recht aller Personen, physischen, wirtschaftlichen und sozialen, sowie permanenten Zugang zu einer angemessenen Ernährung zu haben, die der Kultur der Person entspricht und vorzugsweise aus nationaler Produktion stammt. Um dies zu gewährleisten, besitzt Guatemala eine weit gefächerte institutionelle Struktur (Räte, Ministerien, Kommissionen, Gerichtsbarkeit für Kinder und Jugendliche). Trotz dieses Rahmens, der das Recht auf Nahrung garantieren soll, platziert sich Guatemala auf einem bedrohlichen Niveau der Unterernährung. Besonders was Kinder betrifft, ist Guatemala das Land mit dem höchsten Prozentsatz an Unterernährung in Lateinamerika, wie der Bericht von UNICEF Estado Global de los niños 2007 unterstreicht. Dies betrifft vor allem die ländliche und indigene Bevölkerung, von denen mehr als 80% unter chronischer Unterernährung leitet. Mehr als zwei Millionen Menschen (15% der Bevölkerung) leben mit dem Risiko der Nahrungsmittelunsicherheit. Die Regierung ist sich der Situation bewusst und führt sie auf den historischen Hintergrund von mehr als 30 Jahren Bürgerkrieg zurück. Doch schon zu Zeiten der Kolonialisierung tauchte dieses Phänomen auf, in Abhängigkeit von politischen, wirtschaftlichen und klimatischen Faktoren. Die Nahrungsmittelkrise ist also ein strukturelles Problem, welches der Staat mit verschiedenen Programmen zu lösen versucht. Im Moment trifft das Land eine schwere Lebensmittelkrise, die dazu führte, dass Guatemala am 8. September 2009 den Katastrophenzustand ausrief und bis zum Zeitpunkt der Studie (März 2010) noch nicht für beendet erklärte. Diese Katastrophe hat laut Auswertungen des Staates 462 Tote, davon 54 Kinder, gefordert. Sinn dieses Ausnahmezustandes war es, internationale Hilfe anfordern zu können und Notfallmechanismen zu nutzen, ohne auf die gesetzlich festgelegte Prozedur zurückgreifen zu müssen, z.B. beim Kauf von Nahrungsmitteln. Es wurde kalkuliert, dass etwa 54.000 Familien Hunger leiden und die Zahl bis Ende 2009 auf 400.000 steigen würde. Diese Rechnungen verschlimmerten sich aufgrund der Klimabedingungen: 2005 führte der Hurrikan Stan zu enormen Ernteverlusten, danach folgte im Jahr 2009 eine Trockenperiode, in der 90% der Nahrungsmittelproduktion des Landes zugrunde ging. Eine Verlängerung der Trockenzeit ist für 2010 zu erwarten. Deshalb wurde für eine Milliarde Quetzales Mais importiert, man wusste aber schon zu dem Zeitpunkt, dass dies nicht ausreichen würde, um künftige Defizite zu decken. Ein anderer Faktor ist die Preiserhöhung von Nahrungsmitteln seit dem Jahr 2006, welche 2008 ihren Höhepunkt fand und Guatemala hart traf. Der Preis von Grundnahrungsmitteln wie Mais oder Bohnen stieg um über 60%. Diesen Anstieg konnten viele Familien finanziell nicht verkraften, da es auch keine Lohnerhöhungen zu verzeichnen gab, was das Problem der Nahrungsmittelkrise vertiefte. Ausserdem führte die Finanzkrise dazu, dass die Rimessen, die von EmigrantInnen aus den USA nach Guatemala geschickt wurden, 2009 gegenüber dem Vorjahr um fast 10% sanken. Verpflichtungen und Antwort des Staates GuatemalaIm August 2009 wurde vom Staat der Plan der Gefahren und Ernährungsnotfälle (PCEA2009) beschlossen, der Familien mit hohem Risiko an Nahrungsmittelknappheit helfen soll und für den 60 Millionen Quetzales veranschlagt wurden. Verabschiedet wurde der Plan allerdings erst vier Monate später. Insgesamt sollen über 200.000 Familien davon profitieren. Der Inhalt der Pakete, der je nach Risikostatus variiert, sind Bohnen, Mais, Huhn in Dosen, Zucker und Öl. Neben diesem Plan existiert das Programm Mi Familia Progresa, welches 300 Quetzales monatlich an Gesundheits- und Bildungszuschüssen an arme und extrem arme Familien übergibt. Seit 2006 versucht der Staat die chronische Unterernährung mit einer Nationalen Strategie für Kinder unter fünf Jahren in den Griff zu bekommen. 2009 wurde dann der Strategische Plan der Nahrungssicherheit 2009-2012 formuliert. Allerdings hat die Finanzkrise dem Staat zu schaffen gemacht, der 2009 ein Defizit von über 40 Milliarden Quetzales verzeichnete. Dies verkomplizierte die Ausführung der Notfallpläne. Politische Unstimmigkeiten im Land, wie das Fehlen der Unterstützung des Präsidenten durch den Kongress, verunmöglichten es, die finanzielle Problemlage zu verbessern oder gar eine Finanzreform durchzusetzen. Dazu kommt personelle Instabilität im Landwirtschaftministerium, das ein relativ kleines Budget hat und noch weniger davon exekutierte. Auf internationaler Ebene, hat die Regierung sich mit verschiedenen Instanzen zusammengesetzt, um Massnahmen zur Ernährungssicherheit festzulegen, wie die Übergabe von Esspaketen und die Einrichtung von Notfallzentren für unterernährte Kinder. Weiterhin haben die internationalen Büros der Entwicklungszusammenarbeit verschiedenster Länder und andere internationale Organisationen Geld, Nahrungsmittel und technische Hilfe im Wert von insgesamt US$ 25,368,825.88 gespendet. Nach oben |
Trotzdem sind die Perspektiven auf kurze und mittlere Sicht nicht sehr erbauend. Aufgrund der Finanzkrise und des Klimawandels sieht die Regierung eine Verschlimmerung der Nahrungsmittelkrise voraus, da die Reserven an Lebensmitteln wegen der Ernteverluste nicht aufgefüllt werden können. Bei all dem ist aber nicht zu vergessen, dass der Staat gewisse Verpflichtungen gegenüber der Bevölkerung hat: * Verpflichtung des Respekts, was impliziert, dass der Staat den existierenden Zugang der Bevölkerung zu Nahrungsquellen respektieren muss. Dass dies nicht geschieht, zeigen klar die Beispiele von gewaltsamen Räumungen von Indígenas und BäuerInnen von ihrem Land. Dabei verlieren die Menschen ihre Unterkunft, ihre Ernte, die meistens verbrannt wird, und damit ihre Nahrungsgrundlage. Oft wird geräumt, ohne die traditionellen Rechte über Ländereien zu analysieren oder alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen. Verletzte, wenn nicht Tote, sind keine Seltenheit und auch Vergewaltigungen werden inoffiziell verzeichnet. Ausserdem wird den vertriebenen Menschen keine Wohnalternative angeboten, sie sitzen sprichwörtlich auf der Strasse und bleiben somit ohne Lebensmittelquellen. Auch der Anbau von Agrotreibstoff grenzt den Zugang zu Nahrungsmittelquellen und Wasser ein. Ebenso wird Druck auf die BäuerInnen ausgeübt, ihr Land zu verkaufen, so dass sie im Endeffekt mit Nichts zurück bleiben. Auf gleiche Weise wird die Bevölkerung durch Megaprojekte wie die Mine Marlin oder das Wasserkraftwerk Xalalá beeinträchtigt. Der Staat fördert diese Projekte, ohne das Volk um seine Meinung zu fragen, was aber das Abkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, welches von Guatemala ratifiziert wurde, verlangt. * Eine andere Verpflichtung des Staates ist der Schutz der Bevölkerung, wenn der existierende Zugang zu Nahrungsquellen von Dritten bedroht wird. In diesem Sinn hat der Staat auch die Aufgabe, die ArbeiterInnen zu schützen, deren Rechte tagtäglich und in fast totaler Straflosigkeit verletzt werden. Neben einem ausreichenden Mindestlohn ist vor allem die Zugehörigkeit zu Gewerkschaften ein Entlassungsgrund für Finca- oder FirmenbesitzerInnen. * Der Staat ist ebenso verpflichtet, das Recht auf Nahrung zu garantieren. Dies wird teilweise erfüllt, allerdings auf einseitige Art und Weise. Der Staat stellt bei Notwendigkeit an Nahrungsmittelhilfe diese zur Verfügung; er verhilft aber den Menschen nicht dazu, Eigenanbau bzw. Selbstversorgung zu betreiben, was die Gemeinden in eine Situation der Abhängigkeit drängt. Es verletzt auch das Recht auf Selbstbestimmung über die Art der Ernährung. Zum Beispiel haben die Gemeinden von San Mateo Ixtatán Nahrungsmittel der Regierung zurückgewiesen, da diese transgenetischen Mais enthielten. * Auch muss die Nicht-Diskriminierung garantiert sein. Oft sind Frauen mehr von der Nahrungsmittelkrise, dem erschwerten Zugang zum Wasser etc. betroffen, da diese Aktivitäten aufgrund der sexuellen Arbeitsteilung, die in Guatemala vorherrscht, in ihren Arbeitsbereich fallen. Frauen sind auch häufiger Teil der ärmsten Bevölkerung und haben weniger Zugang zu Land, Bildung und Information als Männer. Die Situation der MenschenrechtsverteidigerInnenSo wie indigene BäuerInnengemeinden vertrieben und bedroht werden, so werden auch diejenigen, die für deren Rechte eintreten, eingeschüchtert. Wie zu Zeiten des Bürgerkrieges sind noch heute die gleichen Mächte die treibende Kraft, die schon damals MenschenrechtsverteidigerInnen bedroht und ermordet haben. Auch heute wird getötet, eingeschüchtert und kriminalisiert. Zu den damaligen Machtinteressen kamen neue wirtschaftliche Interessen hinzu, die mit den Megaprojekten in Verbindung stehen. Öffentliche Sicherheitskräfte und das Rechtssystem werden missbraucht, um MenschenrechtsverteidigerInnen einzuschüchtern - Verbrechen, die aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Macht der Auftraggeber ungestraft bleiben. So stieg die Kriminalisierung der sozialen Proteste in den letzen beiden Jahren ernorm an. GewerkschafterInnen und ArbeiterInnen sind Opfer von schweren Verletzungen ihrer Rechte, ohne dass strafrechtliche Verfolgung zu erwarten wäre. Multinationale Firmen schränken das Gewerkschaftswesen durch Aggressionen ein. Die Landproblematik ist nicht von den Interessen jener Firmen zu trennen, und die indigene ländliche Bevölkerung wird nicht selten Opfer von Gewalt durch öffentliche Kräfte. Die Aggressionen gegen MenschenrechtsverteidigerInnen stiegen rasant an: von 58 im Jahr 2000 sind es 2009 mehr als fünfmal so viele, also fast eine Attacke pro Tag. Mindestens 15 MenschenrechtsverteidigerInnen wurden 2009 ermordet. Bevor es zu Ermordungen kommt, sollen Bedrohungen ausreichen, um die MenschenrechtsverteidigerInnen von ihrer Arbeit abhalten. Dies geschah im Fall der Gemeinden in Panzós, Alta Verapaz und in El Estor, Izabal, wo AnführerInnen eingeschüchtert wurden. Auch Mitglieder der Gewerkschaft SITRAPETEN in Guatemala Stadt und AnführerInnen der Bewegung gegen den Bergbau sind davon betroffen. Ebenso greift man auf die Methode der Kriminalisierung zurück, d.h., das Gesetz wird auf eine Art eingesetzt, dass MenschenrechtsverteidigerInnen für ihre Arbeit angezeigt werden können. Personen und ganze Bewegungen werden stigmatisiert, in Verruf gebracht oder rechtlich belangt, damit sie ihre Arbeit nicht weiter verfolgen. Dies passierte z. B. José Pilar Álvarez, der verhaftet wurde, da er mit der Lutheranischen Kirche und dem Verein zum Schutz des Berges Granadillas für die Erhaltung der Wasservorkommen bzw. Waldvorkommen der Region eintritt, und deswegen der Störung privatem Eigentums beschuldigt wurde. Mit dieser ausführlichen Verifikationsstudie ist zu erhoffen, dass die internationale Gemeinschaft noch grössere Aufmerksamkeit auf die Menschenrechts- und Nahrungsmittelsituation Guatemalas richtet und jede/r BürgerIn sich genau überlegt, wo und welchen Kaffee er/sie kauft oder in welche Aktien er/sie sein/ihr Geld anlegt. (1) CUC, CONIC, CNOC, Pastoral de la Tierra Interdiocesana, Plataforma Agraria, CIIDH, CONGCOOP, REDSAG), Campaña "Guatemala sin Hambre", ActionAid Guatemala, la Mesa Nacional Alimentaria, Fundación Guillermo Toriello, CALDH), el Comité de Derechos Humanos de und UDEFEGUA. (2) Fian International (Koordination), CIFCA, FIDH, Vía Campesina, CIDSE, OMCT, OBS, mit finanzieller Unterstützung durch Brot für die Welt, APRODEV, HEKS und der EU. |
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