Die liebe Verwandtschaft
Fijáte 299 vom 17. Dez. 2003, Artikel 3, Seite 3
Original-PDF 299 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9 - 10 - 11 --- Nächstes Fijáte
Die liebe Verwandtschaft
Guatemala, 12. Dez. Mit Übernahme der Regierungsführung im Januar hätten sowohl Alvaro Colom, Kandidat der Nationalen Einheit der Hoffnung (UNE) als auch Oscar Berger von der Grossen Nationalen Allianz (GANA) Gelegenheit, ihre Bereitschaft zur Verfolgung der Rechtsstaatlichkeit in Guatemala unter Beweis zu stellen. Und das in gewisser Weise am eigenen Leibe, stehen doch beide in familiären Beziehungen zu Personen, die massiv gegen die geltenden Arbeitsrechte verstossen haben bzw. es immer noch tun. So liegen den entsprechenden gerichtlichen Instanzen zahlreiche Anklagen gegen Coloms Ehefrau, Sandra Torres Casanova vor. Diese war lange Zeit als selbständige Textilunternehmerin und Alleinverwalterin einer Kleidungsfirma und AG tätig, bevor sie diese im April an UnternehmerInnen aus El Salvador übergeben hat, um sich dem Wahlkampf ihres Gatten zu widmen. Allein in den letzten drei Jahren summierten sich neun Anzeigen gegen Torres, die sich auf die Nichtauszahlung von Löhnen, der Verweigerung der gesetzlich vorgeschriebenen Sozialleistungen wie Sozialversicherung, Urlaub, Bezahlung von Überstunden und Kündigungsabfindungen beziehen. Angestellte berichten, dass ihnen zudem der Lohn eines Arbeitstages abgezogen wurde, wenn sie zum Arzt gehen mussten. Zur potentiellen Sicherstellung einer Schuldentilgung wurde Torres Konto beschlagnahmt und ihr bis April dieses Jahres die Ausreiseerlaubnis aus Guatemala verweigert. Doch die Angestellten warten immer noch auf die Nachzahlung der ausstehenden Leistungen. Während sich Colom darüber beschwert, dass zu seinem Nachteil die Medienberichterstattung bezüglich seiner und der Person seines Wahlkontrahenten Oscar Bergers ungleichgewichtig sei, was den Einschätzungen von Renzo Rosal der Universität Rafael Landívar und Virgilio Álvarez der Lateinamerikanischen Sozialwissenschaftsfakultät FLACSO durchaus entspricht, weisen doch einige Meldungen darauf hin, dass auch Bergers Familie keine weisse Weste trägt. Dabei ist u. a. von der Fincabesitzerin Olga Elena Whitman Luna, der Tante der Ehefrau Bergers, die Rede. Diese Tante kündigte 1992 65 Familien fristlos und schuldet seitdem den ArbeiterInnen die Zahlung von einbehaltenen Löhnen und Abfindungsleistungen in Höhe von ca. 4 Mio. Quetzales pro Finca. Zwar gaben diverse Gerichtsinstanzen den prozessierenden Arbeitenden Recht, doch verändert hat sich nichts. 250 Familien haben sich nun zusammengetan und seit Ende November die Fincas María Lourdes und La Merced in der Gemeinde Génova Costa Cuca, Quetzaltenango, besetzt, die im Besitz von Whitman Luna sind. Diverse Organisationen, darunter die Nationale BäuerInnendachorganisation CNOC, das BäuerInnenkomitee CUC, der Zusammenschluss Plataforma Agraria sowie die Nationale Indigene und BäuerInnenorganisation CONIC, fordern die Justiz auf, den bewaffneten Überfall auf die besetzten Fincas aufzuklären, der Anfang Dezember stattfand, und bei dem eine Führungsperson der Besetzenden und ein 7jähriges Kind durch Schüsse schwer verletzt wurden. Nach oben |
International durch die Menschenrechtsorganisation FIAN begleitet wird seit einigen Jahren der Fall der Kaffeefinca Nueva Florencia, in der Gemeinde Colomba Costa Cuca, ebenfalls Quetzaltenango. Diese ist im Besitz der Familie Bruderer Berger, zu der der Präsidentschaftskandidat Oscar Berger auch gehört. Den Arbeitenden wurde hier ebenfalls fristund abfindungslos gekündigt, ihnen wurden weder Mindestlöhne geschweige denn Zusatzleistungen gezahlt. Auch dieser Fall ging bereits, jeweils mit bestätigendem Rechtsurteil bezüglich der Wiedereinstellung und Nachzahlung der Gehälter durch diverse Gerichtsinstanzen, doch ohne Erfolg. In einem, der Redaktion vorliegen- den Brief vom 23. Nov. 2003 an die FIANGruppe Herne-Marl, Nordrheinwestfalen, schlidert die Gewerkschaft der Arbeitenden der Finca Nueva Florencia ihre Situation: ,,Unseren Kindern ist der Zugang zur Schule verwehrt, unsere Unterkünfte sind noch mehr beschädigt worden (diese wurden bereits u. a. teilw. niedergebrannt, die Red.). Nach wie vor haben wir keinen Zugang zur Maismühle und zur Krankenstation der Finca, immer noch sind wir ohne Arbeit, unsere Ernährungslage wird jeden Tag kritischer: Im April hat man auf Anordnung der Arbeitgeber unsere selbst gepflanzten Obstbäume abgehackt. Wir haben Gesundheitsprobleme und kein Geld für einen Arztbesuch oder Medikamente, man hindert uns sogar daran, Brennholz zu schlagen (...) Das Gericht ordnete an, dass die Arbeitgeberseite zu einer klärenden Sitzung kommen solle, aber sie erscheinen nicht. Sie wollen unser Problem nicht lösen und wollen uns mit dem Instrument des Hungers töten." Die Interdiözesane Landpastorale von Quetzaltenango misst dem Fall exemplarische Bedeutung bei: Würde hier einmal die Straflosigkeit durchbrochen, wäre ein Durchbruch für das ganze Land erzielt. An ,,persönlichen" Herausforderungen fehlt es hinsichtlich ihres Ansinnens auf die Präsidentschaft also beiden Kandidaten nicht. |
Original-PDF 299 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9 - 10 - 11 --- Nächstes Fijáte