¡Híjole...! Die einmonatliche Kolumne von Fernando Suazo: Müll wählen
Fijáte 387 vom 13. Juni 2007, Artikel 9, Seite 6
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¡Híjole...! Die einmonatliche Kolumne von Fernando Suazo: Müll wählen
Wenige Tage bevor die Wahlkampagne eingeläutet wurde, traf ich auf der Dorfstrasse den Bürgermeisterkandidaten der Patriotischen Partei von General Otto Pérez Molina (Kommandant der blutrünstigen Militärkaserne des Departements Quiché in den schlimmsten Jahren des Krieges und später Direktor des schrecklichen Militärgeheimdienstes). Der Herr Kandidat, ein Universitätsdozent, erklärte mir - und ich glaube, er versuchte sich zu rechtfertigen: "Ich bin einige Male in die Hauptstadt gefahren, um mit dem Kommandanten Monsanto (Ex-Guerillaführer und Leiter der jetzigen Partei Allianz Neue Nation ANN) zu sprechen, aber er hat mich nie empfangen. Am Ende hat er mich gerade einmal angehört, als wir zusammen den Parteisitz verliessen. Also hab ich mir gesagt: Wenn der Kommandant mich nicht unterstützt, gehe ich halt zum General." Seht ihr, wie leicht das geht? So wird ein Kandidat geschaffen, ein politischer Führer! Die Szene könnte aus einem Film von Cantinflas (eine Lateinamerikaweite Kult-Filmfigur, dargestellt vom mexikanischen Komiker Fortino Mario Alfonso Moreno Reyes (1911 - 1993, die Red.) stammen, aber das tut sie nicht. Im Gegenteil: Sie kommt in der Vorwahlzeit ziemlich häufig vor. Selbstverständlich, nicht alle KandidatInnen sind Emporkömmlinge, nicht alle so plump wie diese Person. Es gibt andere, die sich von Parteien mit blutiger Vergangenheit protegieren lassen und ausgefeiltere Gründe nennen; wieder andere, wenige, verfolgen solidere, langfristigere politische Projekte - die aber normalerweise nur sie und ihre AnhängerInnen verstehen. Ich behaupte, dass die Gezeiten der Vorwahlen viel zu viel Müll an die Oberfläche spülen, Personen, die schlichtweg Hohlköpfe sind und die Ambition haben, mit den Leuten zu spielen und mit allen möglichen Versprechenslügen um sich zu werfen. Soviel zu den KandidatInnen. Und, wenn wir überlegen, dass unser Parteiensystem dermassen an den Besitz einer bestimmten Menge an Millionen gebunden ist, ist es leicht herauszufinden, was alle wissen, aber was die da oben verstecken: Diese Demokratie besitzt eine lächerlichen Anteil an demos (Volk) und der Rest ist Geld. Die Schlussfolgerung ist zum Verzweifeln: Dieses System reproduziert fast unerbittlich just die Perversionen, unter denen wir leiden: Der massive Ausschluss, die totalen Kriege und unser Selbstmord als Planet. Aber beobachten wir die Leute, die sich dieses Schauspiel ansehen. In den Wahl-Gezeiten werden sie an öffentlichen Plätzen in den Dörfern und Orten von Lärm und Propaganda-Liedlichen überschwemmt; Bäume, Wände und Steine sind bemalt mit Parteisymbolen. Die Herzen der Leute, die mit ihrer alltäglichen Routine oder ihren Überlebensängsten beschäftigt sind, erhalten dann neue Reize, die Versprechen der Parteien. Männliches Grinsen, das auch für Zahnpasta-Werbung stehen könnte, versichert von riesigen Plakatwänden, das Blaue vom Himmel über unserer sozialen Misere herunterzuholen, im Austausch gegen eine Wahlstimme. In der Seele der Leute bewegen sich verschiedenste Gefühle, oftmals sind sie miteinander vermischt: "Und was wäre, wenn wir den Kandidaten unterstützen, der dem Anschein nach gewinnen wird? - Aber der General, der Besitzer der Partei, hat ziemlich viele Probleme mit dem Krieg... Er hat befohlen, unsere Verwandten zu massakrieren! - Aber schlussendlich hat er selbst nicht getötet, er war in der Hauptstadt. Ausserdem war die Guerilla schuld. - Das stimmt. Und was heute interessiert ist, einen Job zu finden oder Projekte für das Dorf. - Und sind nicht irgendwie alle Parteien gleich? Die anderen sind eben im Drogenhandel..." Nach oben |
Der Wahlakt entspricht dem Umgang mit Gefühlen, die durch Gerüchte und Versprechen beeinflusst sind. Es werden keine Regierungsprogramme über die wirklich wichtigen Themen diskutiert: Was wird aus der Justiz? Was wird aus der Lebensqualität (Gesundheit, Bildung, Wohnraum, Infrastruktur)? Wie steht es um die wirkliche Beteiligung, ohne Ausschluss? Wie steht es um die nationale Souveränität (Ernährung und Naturressourcen)? etc. Deswegen verstehe ich eine andere Haltung, auf die ich auch immer wieder treffe, durchaus. Viele Männer und Frauen schauen sich diesen Tumult an und schweigen. Er zieht einfach an ihnen vorbei. Niemand hat ihnen beigebracht, in politischer Sprache auszudrücken, was sie denken und niemand bietet ihnen alternative Antworten an. Einen leeren Stimmzettel abgeben? Aber was wird dann aus unserer Demokratie? Nichtsdestotrotz errate ich in ihrem distanzierten Schweigen jene Unstimmigkeit, die der spanische Meister Miguel de Unamuno für gewöhnlich ausdrückte: "dies ist es nicht und das ist es nicht…" Wer interpretiert und kümmert sich um diese Stimmen der schweigenden Mehrheit? Ich ziehe es vor, mich diesen vorsichtigen, schweigenden und zum Schweigen gebrachten BürgerInnen anzunehmen. In ihnen entdecke ich, dass die Identität (welche die kollektive Erinnerung und der Entwurf eines Lebens in Würde ist) nicht für einen Teller Bohnen zu verkaufen ist oder für einen Parteibeitritt. Ich verstehe durch sie, dass die Demokratie, die uns aufgedrückt wird, die Aufkündigung unsere Identität mit einschliesst. Diese Demokratie zielt darauf ab uns glauben zu machen, dass die Leidenschaften in der Vorwahlzeit alle vier Jahre das Gleiche sind wie die Leidenschaften, die tagtäglich unsere Identität als gedemütigte Frauen und Männer nähren, als ausgeschlossene Maya, als Opfer der Straflosigkeit, als ausgeraubtes Land, als Peripherie der Welt... Politische Parteimitgliedschaft anstelle von Identität, das scheint die Formel zu sein. Und sie scheint zu funktionieren. In verlassenen Gegenden unseres Guatemalas stehen handgeschriebene Schilder mit anregenden Rechtschreibfehlern. Auf einigen steht in Grossbuchstaben: "PROIVIDO VOTAR BASURA" (wörtliche Übersetzung: Es ist verboten, Müll zu wählen.) Sie schreiben "wählen" anstelle von "(in die Gegend) werfen" (v und b werden oft synonym verwendet, was aber die Bedeutung des Wortes völlig verändern kann). Ich gestehe, ich kann beim Lesen ein arglistiges Schmunzeln nicht unterdrücken. "Das ist es", sage ich mir dann, "was uns noch bleibt in diesem Possenspiel, das sie immer noch repräsentative Demokratie nennen: Wir stellen auf allen Wahltischen Schilder auf mit der Aufschrift: "Es ist verboten, Müll zu wählen". |
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