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Die Vergangenheit ist präsent

Fijáte 391 vom 15. Aug. 2007, Artikel 1, Seite 1

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Die Vergangenheit ist präsent

Ein Informatiker begann mit der Erarbeitung einer Datenbank, in welche die gesammelten Informationen eingegeben werden können und die später dazu dient, die eingegebenen Daten nach verschiedenen Kriterien zu analysieren.

Eine zweite Gruppe begann mit der Übersetzung der Zeugenaussagen aus den indigenen Sprachen des Ixil und Quiché ins VGSpanischeNF. Nach der Übersetzung werden die Zeugenaussagen miteinander verglichen und nach den darin erwähnten Ereignissen und Themen systematisiert.

Eine dritte Gruppe forscht nach anderen historischen Quellen, um dadurch die in den Zeugenaussagen gesammelten Informationen zu ergänzen. Dabei werden zunächst die beiden Berichte des REMHI und der VGCEHNF (offizielle Wahrheitskommission) hinzugezogen, sowie die Dokumentation, welche die verschiedenen VGExhumierungsteamsNF über die von ihnen in der Region durchgeführten Ausgrabungen von VGMassengräbernNF erarbeitet haben. Schliesslich werden auch andere Publikationen zum Thema gesammelt und analysiert.

Ein Fotograf begleitet den Prozess und dokumentiert die Arbeit in den Dörfern. Historische Orte, welche die Zeugenaussagen veranschaulichen können, sowie das soziale und geografische Umfeld des Projekts - d.h. der Alltag der Menschen in den Gemeinden - werden fotografisch dokumentiert. Gleichzeitig wird über die Erarbeitung eines Dokumentarfilmes zum Thema nachgedacht.

Eine fünfte Gruppe versucht eine Reflexion darüber zu beginnen, in welcher Form die Ergebnisse der Arbeit schlussendlich wieder an die Basisgemeinden zurückgegeben werden können. Die Publikation eines Buches sollte nur den Ausgangspunkt des Prozesses darstellen. Aufgrund des weitverbreiteten VGAnalphabetismusNF in den ländlichen Gemeinden und der mündlichen Tradition der indigenen Bevölkerung müssen andere Kommunikationsformen und Medien gesucht werden, um die Weitergabe der Erinnerung an die Gemeinden zu gewährleisten. Zurzeit wird u.a. über den Einbezug von VGRadioprogrammenNF, die Erarbeitung von pädagogischen Materialien für die Schulen, den Bau von historischen Denkmälern zur Erinnerung der Opfer und über ein Museum nachgedacht. Der ganze Prozess wird sicherlich noch einige Zeit in Anspruch nehmen… Im kommenden Oktober soll auf jeden Fall das neugebaute Pfarrhaus eingeweiht werden. In dessen Räumlichkeiten soll u.a. auch ein Bildungszentrum mit Bibliothek für Jugendliche der Region eingerichtet werden, das den Namen von Bischof Gerardi tragen wird.

Todos por el Reencuentro - Suche nach den verschwundenen Kindern

Das Verschwindenlassen von Menschen gehörte in Guatemala seit den 60er-Jahren zur Praxis der psychologischen Kriegsführung. Im Verlauf des Krieges verschwanden rund 45'000 Personen, viele von ihnen VGKinderNF, die während Überfällen oder Massakern von ihren Eltern getrennt wurden.

In den meisten Fällen wissen die Familienangehörigen bis heute nicht, wie und wo ihre Verwandten umgebracht wurden oder ob sie noch irgendwo am Leben sind. Auf diese Weise ein Kind zu verlieren, löst bei vielen Eltern Schuldgefühle und Isolation aus, sie verlieren die Kontrolle über ihr (Familien-)Leben. Eine Form, diese Kontrolle wieder zurückzugewinnen, ist in diesem konkreten Fall der Zusammenschluss einzelner Familienangehöriger in einer Organisation von Familienangehörigen, deren Kinder verschwunden sind: dem Ende Juni formal gegründeten Verein Todos por el Reencuentro. Der Aufbau dieser Organisation dauerte ca. 8 Jahre und wurde von der Guatemaltekischen Liga für psychosoziale Hygiene begleitet (siehe ¡Fijáte! 372 und 373).

Die Gründung des Vereins, dem Familien aus über 190 Gemeinden und aus acht ethnischen Gruppen inklusive Ladinos und Ladinas angehören, ist ein klarer Beweis dafür, dass auch zehn Jahre nach der Unterzeichnung der Friedensabkommen die Themen und Verletzungen des Krieges noch präsent sind - in diesem Fall die Verantwortung des Staates, den Familienangehörigen, die ihre Kinder im Krieg verloren haben, eine Antwort zu geben.

Die Gründung der Organisation ist aber auch ein Ausdruck des wiedergefundenen Selbstvertrauens einer Bevölkerung, die unter der Repression gelitten hat und der über Jahre ihre BürgerInnenrechte verwehrt wurde. Heute kämpfen sie dafür, die Wahrheit über das Schicksal ihrer Kinder zu erfahren und sie, im besten Fall, wieder zu finden. Die Liga hat im Verlauf der letzten Jahre 590 Familien bei ihrer Suche begleitet, in 125 Fällen konnten die unterdessen erwachsenen Kinder lokalisiert werden.

In der Gründungserklärung des Vereins werden zwei Punkte genannt, die für die Wiedererlangung der Würde der Betroffenen bedeutend sind:

"Die Stärkung unseres Rechts, über unser Problem überhaupt zu sprechen. Das Schweigen, das man versucht über die Vergangenheit zu legen, das Argument des "Schwamm drüber und Neubeginn" verweigert uns das Recht, unseren Schmerz, unsere Ängste und unsere Hoffnungen überhaupt auszudrücken. Der Kampf gegen das Schweigen und das Vergessen ist unser Beitrag an den Aufbau des Friedens in Guatemala."

"Der zweite Faktor ist die soziale Anerkennung unseres Schmerzes. Manchmal scheint es, dass wir in einer Gesellschaft leben, die ihre eigene Geschichte verleugnet. Die soziale Anerkennung unseres Problems ist vital, um zu verhindern, dass die tragische Vergangenheit sich wiederholen kann. Ein wirklicher Frieden kann nicht ohne den Einbezug unserer historischen Erinnerung aufgebaut werden."

Die neu gegründete Organisation formuliert aber auch klare Forderungen an diverse Akteure:

1. Wir fordern von der Regierung eine reale Unterstützung, indem sie uns Zugang zu den Informationen verschafft, die über das Schicksal unserer Kinder Auskunft geben, indem sie uns finanzielle Mittel zur Verfügung stellt, um unsere Arbeit zu realisieren und indem sie uns die politische Rückendeckung gibt und ihr Verantwortung anerkennt, einer der Hauptakteure dieses Dramas gewesen zu sein.

2. Wir fordern von allen politischen Parteien, die sich auf nationaler und lokaler Ebene am Wahlkampf beteiligen, Position zum Thema der im Krieg verschwundenen Kinder zu beziehen. Keine Partei hat bisher das Thema in ihren Diskursen und Wahlversprechen aufgenommen. Es scheint, dass für sie die Vergangenheit und unser Schmerz nicht existieren.

3. Wir fordern von den Medien (Radio, Presse, VGFernsehenNF), dass sie über ihre Kanäle Informationen über unsere Kampagnen und Aktionen verbreiten. Das Thema der verschwundenen Menschen darf nicht als eine konjunkturelle Nachricht behandelt werden, sondern soll über die und in den Medien eine soziale Präsenz und Anerkennung erfahren.

Der Prozess zur Aufarbeitung der historischen Vergangenheit in Guatemala ist noch lange nicht abgeschlossen. Das REMHI-Projekt in Nebaj und die Gründung der Organisation Todos por el Reencuentro sind nur kleine Beiträge in dem ganzen Prozess. Das Thema der historischen Erinnerung muss noch weiter vertieft werden, damit die Wunden im Land heilen können und sich die Geschichte der Gewalt und der Zerstörung des Bürgerkrieges nicht mehr wiederholen wird.


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