180-Grad-Drehung des Verfassungsgerichts
Fijáte 387 vom 13. Juni 2007, Artikel 1, Seite 1
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180-Grad-Drehung des Verfassungsgerichts
Am vergangenen 15. Mai erklärte das guatemaltekische Verfassungsgericht (CC) die am 18. Juni 2005 in der Gemeinde Sipakapa, San Marcos, durchgeführte Volksbefragung (Consulta Popular) über die Anwesenheit der in der Gemeinde operierenden Goldmine Marlin als verfassungswidrig. Dies, nachdem das gleiche Gericht, jedoch in anderer Besetzung, im April 2006 die Gültigkeit der Abstimmung sowohl in Sipakapa wie auch in Río Hondo, Zacapa, wo es um den Bau eines Wasserkraftwerkes ging, bestätigte (siehe ¡Fijáte! 358). Was steckt hinter diesem Stimmungswandel? Der folgende Text basiert auf zwei Artikeln von elPeriódico und Inforpress Centroamericana und wir hängen ihm noch die Übersetzung einer Kolumne von Magalí Rey Rosa an, die in der Prensa Libre erschienen ist. Eine der Polemiken rund um die Rechtsgültigkeit von Volksbefragungen besteht darin, dass es Widersprüche gibt bei der Auslegung von Gemeindegesetzen bzw. der guatemaltekischen Verfassung. Gemäss der Verfassungsanwältin Anabella Morfín haben Volksbefragungen nur dann Gültigkeit, wenn es sich um Aspekte handelt, die spezifisch die betroffene Gemeinde etwas angehen. Während nun die BewohnerInnen der Gemeinden Sipakapa und Río Hondo darauf bestehen, dass von der Existenz der Goldmine bzw. des Wasserkraftwerks vor allem und in erster Linie ihre Gemeinden und deren BewohnerInnen betroffen sind, wird diese Art von Projekte von den VerfassungsrichterInnen als "von nationalem Interesse" klassifiziert. Gemäss Verfassung gibt es zwei Sorten von Volksbefragungen: Die "verbindlichen", die Gesetzescharakter haben und die "hinweisenden", die quasi ein Stimmungsbarometer sind und dazu dienen, die Einstellung der Bevölkerung in Bezug auf eine bestimmte Frage zu ergründen. Zu den verbindlichen gehören laut Mario Fuentes Destarac, dem Präsidenten des Zentrums für die Verteidigung der Verfassung (CEDECON), all jene Volksbefragungen, die eine Verfassungsänderung nach sich ziehen wie beispielsweise die schon lange diskutierte und nie durchgeführte Volksabstimmung über eine definitive Lösung des Belize-Grenz-Konflikts. Alle anderen Volksbefragungen seien blosse Meinungsumfragen, meint Destarac, obwohl es im Dekret 12-2002 der Gemeindeverordnung heisst, dass sie einen bindenden Charakter haben. Hier widersprechen sich also die Verfassung und die Gemeindeverordnung eindeutig, bzw. sind in einer Weise unklar, dass unterschiedliche Les- und Interpretationsarten möglich sind. Eine weitere Schwäche der Volksbefragungen wie sie in Sipakapa und Río Hondo und unterdessen auch in anderen Gemeinden in Huehuetenango und im Ixcán durchgeführt wurden ist, dass sie nicht vom Obersten Wahlgericht (TSE) vorbereitet und supervisiert werden. So gibt es zum Beispiel keine autorisierten Wahllisten, um festzustellen, wer in einer Gemeinde angemeldet und entsprechend wahlberechtigt ist. Eine solche Regelung müsste laut Destarac bei einer nächsten Revision des Wahl- und Parteiengesetzes unbedingt berücksichtigt werden. Nach oben |
Vorläufig ist es der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin, dem oder der die Autorität über eine Volksbefragung obliegt, was in dem Moment schwierig werden kann, wenn er oder sie persönliche Interessen für einen positiven bzw. negativen Ausgang der Befragung hat. Trotzdem haben die Consultas Populares eine wichtige Funktion bei der Legitimierung und Stärkung der Demokratie. Sie sind eine Möglichkeit, damit die BürgerInnen sich an Entscheidungen über öffentliche Angelegenheiten beteiligen können. Die steigende Zahl von Volksbefragungen, die in den letzten Jahren zu verzeichnen waren, beweisen, dass das Interesse der Bevölkerung an lokalen und kommunalen Angelegenheiten wächst. Damit aber die Leute nicht das Vertrauen in die sowieso fragilen demokratischen Strukturen in Guatemala verlieren, braucht es dringend eine Regelung über Art und Verbindlichkeit der verschiedenen Consultas. Sergio Leonel Celis Navas, Abgeordneter der Partei Nationale Einheit der Hoffnung (UNE) und Präsident der Kommission für Gemeindeangelegenheiten des Kongresses, erklärt die Zunahme der Volksbefragungen mit der Steigung des akademischen Niveaus der Bevölkerung und damit einhergehend mit einer stärkeren Kontrolle der Bevölkerung über die Entscheidungen der Behörden. (Kommentar der Redaktion: Eine fast zynische Haltung, bedenkt man, dass in ländlichen Regionen wie Sipakapa durch die Bildungspolitik der Regierung die Analphabetinnenrate nach wie vor sehr tief ist. Mit akademischer Bildung hat also der Bewusstseinsprozess, den diese Leute durchlaufen und der sie zu politisch aktiven BürgerInnen macht, wenig zu tun.) Man könnte fast meinen, es handle sich hier bloss um ein rechtliches Vakuum, das mit den entsprechenden Gesetzesrevisionen gefüllt werden kann. Dem ist aber (nicht nur) so, es geht auch um politische Interessen, diesen ambivalenten Rechtszustand beizubehalten und je nach Bedürfnis juristisch auszulegen. In jeder Beziehung muss die Volksbefragung von Sipakapa als ein Präzedenzfall betrachtet werden. Nach einer am 12. Mai diesen Jahres in San Antonio Huista, Huehuetenango, durchgeführten Consulta, bei der sich die dortige Bevölkerung ebenfalls klar gegen die Präsenz einer Mine in ihrem Territorium aussprach, zog sich das Unternehmen, das bereits die von der guatemaltekischen Regierung ausgestellte Lizenz in der Tasche hatte, wieder zurück. Der Widerruf des Entscheids des Verfassungsgerichts vom April 2006 kam jetzt zustande aufgrund eines Einspruches, den die AnwältInnen des Minenunternehmen Montana Exploradora S.A. präsentierten. Eingereicht wurde dieser Rekurs im Namen von Montana durch Rosa María Montenegro de Garoz, Teilhaberin der Anwaltskanzlei Asensio Barrios, Andrade & Asociados. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass verschiedene RichterInnen des Verfassungsgerichts selber nebenher noch in Anwaltskanzleien arbeiten, welche die rechtlichen Interessen von transnationalen Unternehmen in Guatemala vertreten. Ein "positiver" Entscheid, also eine Rechtsgültigkeitserklärung der Volksbefragung durch die VerfassungsrichterInnen würde somit auch den Interessen ihrer eigenen Klienten widersprechen. Den aktuellen IntegrantInnen des Verfassungsgerichts werden zudem familiäre, freundschaftliche und geschäftliche Verbind- und Verbandelungen zu hohen Politikern und Unternehmerkreisen nachgesagt. Wir wiederholen uns nicht gerne, aber wir möchten an dieser Stelle einen Ausschnitt aus dem Artikel des oben erwähnten ¡Fijáte! 358 zitieren: "Am 18. April (2006) übernahmen die neu gewählten RichterInnen (des Verfassungsgerichts) ihre Ämter. Ihre VorgängerInnen traten zurück, nachdem sie zwar die Entscheide in den Fällen Río Hondo und Sipakapa gefällt haben (die Consulta ist rechtsgültig!) aber ohne alle notwendigen Dokumente zu unterzeichnen. Im Fall von Río Hondo soll es ein unterschriebenes Urteil aber keine rechtsgültige Verkündung desselben geben. Im Fall von Sipakapa ist es noch schlimmer, da gibt es ein zwar gefälltes, aber nicht von allen Richtern unterzeichnetes Urteil. Die - schwindende - Hoffnung der Bevölkerung der betroffenen Orte besteht nun darin, dass die NachfolgerInnen der abgetretenen RichterInnen das Urteil nicht noch einmal revidieren, sondern so schnell wie möglich ihre Unterschriften darunter setzten." Nun hat sich also die - wachsende - Befürchtung der Bevölkerung bestätigt. |
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