Die neue Regierung: «Trojanisches Pferd» oder «Der Alte und das Meer»?
Fijáte 399 vom 5. Dezember 2007, Artikel 1, Seite 1
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Die neue Regierung: «Trojanisches Pferd» oder «Der Alte und das Meer»?
Um in einem Land wie Guatemala an die Macht zu gelangen, braucht eine politische Partei die Unterstützung korrupter AkteurInnen, die einerseits die Wahlkampagne finanziell unterstützen und andererseits die eigene unrechtmässige Bereicherung zum Ziel haben. Gleichwohl kann gerade wegen der Präsenz dieser korrupten AkteurInnen keine Partei, ist sie einmal an der Macht, wirkungsvoll regieren. Wenn eine neu antretende Regierung diese Realität ignoriert und keinen erfolgreichen Umgang damit findet, riskiert sie, wie in der Erzählung von Ernest Hemingway "Der Alte und das Meer" zu enden: Eine der grössten in einem Land existierenden Chancen zu fischen, nur um nach vier Jahren im Hafen (bzw. am Ende der Regierungszeit) anzukommen, mit nichts mehr als den übrig gebliebenen Knochen dessen, was einmal ein ambitioniertes politisches Projekt war. Der folgende Text ist die Zusammenfassung eines Artikels aus der Nummer 1730 von Inforpress Centroamericana, erschienen am 16. November 2007. Die Rolle der KorruptionSeit sieben Jahren bietet Inforpress Centroamericana einen Informations- und Weiterbildungsservice für BürgermeisterInnen an. Bis heute haben 170 munizipale Regierungen - die Hälfte der Gemeinden des Landes - dieses Angebot genutzt und schicken BeamtInnen, FunktionärInnen und Angestellte zu den Analyse- und Internet-Workshops. Diese Angebote bieten auch Raum für einen offenen Austausch und ungewohnte Diskussionen auf munizipaler Ebene. Diese Erfahrungen und der Austausch mit politischen AkteurInnen, RegierungsfunktionärInnen und AnalystInnen haben dazu geführt, Korruption als das zentrale Problem für die Demokratie in Guatemala zu betrachten. Die Korruption kann eine Chance sein oder eine Bedrohung, je nach den jeweiligen Motiven einer Person. In der Folge soll versucht werden, die Auswirkungen und Funktion der Korruption darzulegen sowie die Wichtigkeit aufzuzeigen, eine radikale Politik gegenüber diesem Thema zu entwickeln. Die Wirtschaft Guatemalas ist charakterisiert durch eine extreme Konzentration von Reichtum bei einigen wenigen. Gleichzeitig existiert mit einer "Repräsentativen Demokratie" eine Regierungsform, in der theoretisch jedeR Stimmende über die gleiche Entscheidungsmacht verfügt. Das korrupte Verhalten politischer AkteurInnen stellt das Abschwenken von ihren politischen (Wahl-)Versprechen in Richtung persönlicher Interessen und Bereicherung dar. Anstatt die Interessen der Bevölkerung zu vertreten, unterbinden sie jegliche Manifestation sozialer und politischer Forderungen der organisierten WählerInnen. Aus der formalen Perspektive ist die Korruption ein Systemfehler. Aus der hegemonialen Perspektive hat diese Fehlleistung hingegen eine strategische Funktion. Ähnliche "funktionale Fehlfunktionen" existieren in den ökonomischen Sektoren in Form von Hehlerei oder im sozialen Sektor in der Form von gutbezahlten Angestellten in der Entwicklungszusammenarbeit, die in vielen Fällen demokratische Beziehungen zwischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und der von ihnen begünstigten Basis unterhöhlen. Die Korruption verändert nicht nur den Kreislauf von Verantwortung und Verbindlichkeiten von Seiten der Regierenden und ihrer FunktionärInnen, sondern sie kontrolliert auch das Eingangstor zur Regierung. In kleinen Gemeinden in Escuintla zum Beispiel gibt einE KandidatIn für eine Wahlkampagne rund 500'000 Quetzales (ca. 60'000 US-$) aus. In einer Kampagne für eineN AbgeordneteN in Chimaltenango kann eine erfolgreiche Kampagne über eine Million Quetzales verschlingen. Die Eigenfinanzierung dieser Kampagnen wird in der Mehrheit der Fälle durch eine Logik der «Vorinvestition» und Sicherstellung des Rückflusses bestimmt. In den meisten grossen Parteien müssen die Kandidierenden einen Teil zu den nationalen Kampagnen beisteuern und die Kosten ihrer eigenen Kampagne decken. Dieser Finanzierungsmodus erklärt den riesigen Frust und manchmal die Gewalt beim Verlieren lokaler Wahlen. Dies wird weniger als politische Niederlage, sondern vielmehr als einen Verlust «vorinvestierter» Mittel wahrgenommen. In diesem Kontext stärkt die Korruption die Beziehung Staat-Unternehmen, und zwar auf Kosten der Beziehung Staat-Gemeinden. Von den drei sozialen Bereichen, welche die westliche Gesellschaft bilden - Staat, Markt und Gemeinwesen -, stärken sich die beiden ersten gegenseitig, während das Gemeinwesen mehr und mehr zerfällt. Historisch und vor allem in Ländern, in denen eine Diskrepanz zwischen sozialer Emanzipation und sozialer Regulation bestand, konnten die Staaten ihre Politik zwischen den sozialen Interessen der Bevölkerung und den Interessen der unternehmerischen Sektoren ausbalancieren. Trotzdem haben sich die Staaten in den letzten dreissig Jahren auf Kosten der sozialen Agenden immer mehr den unternehmerischen Interessen verpflichtet. In Ländern wie Guatemala bedeutet dies das Ende der Spannung zwischen der sozialen Emanzipation und der sozialen Regulation zu Gunsten der Handelsinteressen. Das Thema Korruption hat sich korrumpiertEs macht stutzig, dass das Thema Korruption während der Übergangsdekade von Militär- zu zivilen Regierungen nicht sonderlich zentral war. Tatsache ist, dass die Korruption, die während den 1980er-Jahren existierte, den Übergang von den Militärs zu den Zivilen u.a. erst ermöglichte, indem sie ein gemeinsames Interesse bildete, das die beiden vereinte. So sind z.B. die heutigen "klandestinen Strukturen" ein Erbe aus dieser Zeit. Die ausländischen Regierungen setzen das Thema nur dann prioritär auf ihre Traktandenlisten, wenn die Korruption zu einer Rechtfertigung für die Privatisierung wird. Dann werden Themen wie Regierbarkeit und unlauterer Wettbewerb für die Regierungen und einige Exponenten des Privatsektors von Interesse. Der doppelte Diskurs ist in den Kommunikationsmedien und bei den RegierungsfunktionärInnen am weitesten verbreitete. Das Sprechen oder Schreiben über Korruption dient dazu, die Demokratie zu regulieren: Wenn die Korruption überbordet oder politische Feinde der jeweiligen Regierung involviert, schenken ihr die Medien auf selektive Art und Weise ihre Aufmerksamkeit. Jene unternehmerischen Gruppen, denen die Medien gehören, verfügen dadurch über einen Mechanismus, die öffentliche Meinung mittels selektiver Korruptionsbeschuldigung zu beeinflussen. Diese ausgewählten Angriffe bestimmen schliesslich über die Glaubwürdigkeit des öffentlichen Sektors. Nach oben |
Die moderate Perspektive wird von der offiziellen Entwicklungszusammenarbeit der Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und der Weltbank vertreten, denen politische Stabilität und eine wirkungsvolle öffentliche Administration am Herzen liegen, um Märkte zu entwickeln und politische Krisen in ihren Einflusszonen zu verhindern. Die Vereinigten Staaten haben bei den guatemaltekischen NGOs mit Schulungen und Finanzierungen Boden gutgemacht. Das Fehlen einer genauen Analyse von Seiten der NGOs hat deren Annäherung an Sektoren begünstigt, die historisch von der staatlichen Korruption profitiert haben. Das Ergebnis ist, dass diejenigen sozialen Kräfte, die eine kontrollierende Funktion einnehmen könnten, eingebunden und de-mobilisiert werden. Das trojanische PferdDer Kampf um die Definition von Konzepten wird immer heftiger. Begriffe wie Korruption, Demokratie, Menschenrechte werden so unterschiedlich definiert, dass sie Opposition zwischen AkteurInnen hervorrufen. Doch die Tatsache, dass die verschiedenen Diskurse von gemeinsamen Finanzierungsquellen gespiesen werden, trägt oft zur politischen Vermischung unterschiedlicher Agenden bei. In diesen Fällen verwandeln der Pragmatismus, die Mittelmässigkeit und der Opportunismus diese «Antivirus-Programme» in Träger neuer Viren, die den Diskursen zu Grunde liegen. Für einige AnalystInnen liegt die Lösung in der Wiederbelebung der Dichotomie Freund-Feind. Denn solange es keine Feinde gibt, gibt es auch keine Notwendigkeit für Freunde. «Die tiefsten Wurzeln der Krise des Wohlfahrtsstaates liegen weniger in einer manipulierten Finanzkrise als in der ideologischen Einprägung des Verschwindens der Freunde und ihrer Ersetzung durch ein Meer fremder, im besten Fall indifferenter, im schlechtesten Fall gefährlicher Körper.» (Bonaventura de Souza Santos) Der günstigste Moment für eine Regierung, die Korruption bekämpfen will, sind die ersten Monate ihrer Administration. Dies ist eine risikoreiche Zeit, und es herrscht eine Tendenz, radikale Entscheidungen zu vermeiden. Nichtsdestotrotz muss die Herausforderung darin bestehen, die Beziehungen Staat-Unternehmen durch Beziehungen Staat-Gemeinwesen zu ersetzen. Es wird einen gefährlichen Moment geben, in der die korrupten Alliierten sich der Regeländerung bewusst werden und es erfordert die Bereitschaft der Regierung, das Risiko einer allgemeinen Krise einzugehen. Diese Strategie stellt eine Art trojanisches Pferd dar, weil sie das «Geschenk» des Wahlsieges in ein Werkzeug zur Bekämpfung der Korruption verwandelt. Zweifellos beinhalten die erforderlichen Veränderungen auch ein Umdenken und -handeln der beteiligten Personen. Es muss von der Idee ausgegangen werden, dass der Mensch über eine grosse Fähigkeit zum Selbstbetrug verfügt. Diese Fähigkeit ist besonders ausgereift, wenn wir in Hierarchien stecken und uns selber nur als ein Glied in einer Kette wahrnehmen. Dazu eine Person, die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig ist: «Manchmal identifiziere ich mich mit den AkteurInnen weiter oben in der Kette, manchmal mit den Personen weiter unten. Ich kann die Personen weiter ‹unten› kritisieren, wenn ich mit meinen Vorgesetzten über Vorgehensweisen und Erledigungen spreche, und ich kann die Leute weiter ‹oben› kritisieren, wenn ich mit meiner Basis über Nord-Süd Beziehungen spreche.») Inforpress hat diese Strategie des trojanischen Pferdes in den Workshops für COCODES und COMUDES (Komitees für Entwicklung auf Gemeinde- und Bezirksebene) unter der Schirmherrschaft der munizipalen BürgermeisterInnen thematisiert. In den Treffen werden den Führungspersonen der Gemeinden Informationen und Analysen präsentiert, und im Workshop wird aufgezeigt, wie wichtig die BürgerInnenbeteiligung für das Funktionieren einer Munizipalität ist. In einigen Fällen stehen die BürgermeisterInnen unter Druck und in korrupten Verhältnissen zu Kongressabgeordneten, sozialen Fonds und anderen Instanzen der Zentralregierung. Wenn sie nicht entschieden handeln, um diese Abhängigkeiten loszuwerden, wird jede Administration zu jenem Modell zurückkehren, das mit den sechs Regierungen der letzten 22 Jahre, ohne Ausnahme, existierte. Dieses Modell hat eine Parallele in der Erzählung "Der Alte und das Meer" des Schriftstellers Ernest Hemingway. Jedes Mal bei den Wahlen schafft es eine andere Partei, einen Fisch zu fangen, der so gross ist, dass er in ihrem Boot keinen Platz hat. Wenn sie vier Jahre später am Hafen ankommt, ist ihre Beute wegen der Gefrässigkeit der Haie, die unbestraft ums Boot herum schwimmen, auf Knochen zusammengeschrumpft. Im Fall der Politik in Guatemala sitzen viele Haie sogar mit im Boot. Zusammengefasst: Die Korruption ist ein notwendiges und zentrales Thema für jede Regierung, die mit dem Teufelskreis vom Alten und dem Meer brechen will. Wenn sich der Kampf gegen die Korruption nicht in eine soziale Bewegung verwandelt, die von der Regierung mitgetragen wird, geht der Zerfallsprozess unverzüglich weiter. Wenn der Kampf moderat ist anstatt kontra-hegemonial und sozial zu sein, wird sein Resultat oberflächlich und stabilisierend sein, ohne die Beziehungen und Strukturen, die eine Regierung an die Macht gebracht haben, zu verändern. Es gibt keine Erfolgsgarantien, wenn man beschliesst, diese Probleme anzupacken, aber es gibt sehr wohl eine Misserfolgsgarantie, wenn es nicht gemacht wird. |
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