Mit Gewalt zum Dialog
Fijáte 410 vom 21. Mai 2008, Artikel 3, Seite 4
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Mit Gewalt zum Dialog
Guatemala, 16. Mai. Angesichts der steigenden Preise der Lebenshaltungskosten aufgrund der unaufhaltsamen Entwicklung des internationalen Erdölpreises, gibt es auch in Guatemala seit Anfang des Monats die ersten sozialen Proteste und Forderungen nach staatlichem Eingreifen. Mario Polanco von der Gruppe gegenseitiger Hilfe (GAM) unterstreicht, dass die wirtschaftliche Krise die GuatemaltekInnen nicht nur finanziell träfe, sondern die soziale Instabilität verschärfe, vornehmlich in Sachen innerer Sicherheit. Der Menschenrechtsaktivist Miguel Ángel Albizures wies indes darauf hin, dass es weder Lohnerhöhungen noch eine staatliche Preiskontrolle gebe. Er warnte, die Proteste aufgrund der spürbaren Unzufriedenheit seien spontane Aktionen, die durchaus gefährlich werden könnten. Während in Guatemala die Inflationsrate lateinamerikaweit am geringsten ist, konstatierte die Weltbank in diesen Tagen den konkreten Preisanstieg der Grundnahrungsmittel: Der Mais kostet 27% mehr, der Weizen 49% und Reis verzeichnet einen um 52% höheren Preis. Auch im öffentlichen Personentransport sind die GuatemaltekInnen nicht gefeit vor drastischen Kostenerhöhungen sowohl auf innerstädtischen als auch landesweiten Strecken. In diese Stimmung hinein machten letzte Woche die Fahrer des Schwerlastverkehrs ihrem Unmut Luft über die seit Jahren bestehende, immer wieder heiss diskutierte und auch vom hauptstädtischen Bürgermeister Álvaro Arzú bestätigte Bestimmung, den Schwerlastern die Zufahrt in und durch die Stadt zwischen 5:30 Uhr und 9:00 Uhr morgens sowie zwischen 16:30 Uhr und 20:30 Uhr, also in den Stosszeiten, zu untersagen. Die Fahrer und Transportunternehmen sehen sich dadurch jedoch in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und halten die ihnen zugestandenen Fahrzeiten für unzumutbar. Vor allem nachts seien sie durch die Dunkelheit besonders schutzlos der Kriminalität ausgeliefert. Per LKW in diversen Grössen werden tatsächlich alle Produkte in Guatemala transportiert, von und zu den Häfen, Produktionsstätten, den HändlerInnen in den Städten und auf dem Land und auch von Küste zu Küste. Dabei führen die meisten Wege unumgänglich durch die Hauptstadt. Am 5. Mai zogen dann 13.000 LKW-Fahrer ihre Zündschlüssel ab und blieben stehen, zum Teil auf den Werkshöfen, zum Teil an den grossen Strassen. Sie forderten die Aufhebung der Fahrbeschränkung und suchten den Dialog mit Álvaro Arzú. Doch dieser verweigert sich und beruft sich auf einen dafür ausstehenden Termin, den das Innenministerium vorschlagen müsse, nachdem dieses sich im letzten Jahr einmischte und Arzú eine Verfassungsklage wegen Kompetenzüberschreitung des Staates gegenüber seiner Stadtverwaltungssouveränität einreichte. Und für sich entscheiden konnte. Durch den LKW-Streik kam es gleich Anfang der Woche nicht nur zu Engpässen in der Lebensmittelversorgung sondern in erster Linie zu Panik in der Bevölkerung vor Benzinverknappung, was sich in langen Schlangen vor den Tankstellen manifestierte - denn auch das Benzin wird mit Tanklastern von den Häfen zu den Vertreibern gebracht. Der Privatsektor meldete bald Milliardenverluste, Exportprodukte wie frische Früchte kamen nicht in den Häfen an und können auch nicht verspätet verschifft werden, da der Laderaum in den Schiffen bereits verplant ist. Am Abend des dritten Streiktages rief Präsident Álvaro Colóm schliesslich für mindestens 15 Tage den Präventionszustand aus, die unterste Stufe von fünf staatlich verordneten Notstandsbestimmungen. Neben dem dadurch eingeschränkten Demonstrations- und Waffenführungsverbot beinhaltet dieses die Intervention von öffentlichen Dienstleistungen, die von Privatunternehmen geleistet werden - in diesem Fall zumindest der Versorgungstransport mit Benzin - sowie die Einschränkung des Streikrechts im öffentlichen Dienst. Als erste Aktion folgte daraus die Entsendung der kombinierten Truppen, um die LKW-Fahrer aufzufordern, ihre Streikposten zu verlassen. Zum Teil gingen die Sicherheitskräfte offenbar mit extremer Gewalt vor. So berichtet ein Fahrer, die Scheiben seines LKW seien eingeschlagen und er und sein Kompagnon brutal auf die Strasse geworfen worden. Bei seinem Versuch zu fliehen, stürzte sein Kollege einen Abgrund hinunter und konnte nur noch tot geborgen werden. Nach oben |
Zwar löste Colom durch die ergriffene Massnahme die landesweite Paralyse auf, die Art seines Durchgreifens wird dennoch unterschiedlich bewertet. Der Privatsektor und auch Roxana Baldetti von der Patriotischen Partei begrüssten das Vorgehen, wieder Ordnung ins Land zu bringen. Das Menschenrechtsprokurat (PDH) jedoch kritisierte den Ausnahme-Rückgriff jedoch als antidemokratisch und forderte alle Beteiligten zum Dialog auf. Vizepräsident Rafael Espada erklärte sich durchaus einverstanden, einen Rundtisch zusammenzurufen. Im Gegensatz zu seinem diesbezüglich fast stets bereiten Vorgänger Eduardo Stein lehnte er jedoch die Vermittlerrolle von Vornherein ab. Während eine erste Begegnung zwischen VertreterInnen der Fahrer, der Unternehmer, der Regierung und des schlichtenden Menschenrechtsprokurats bereits stattgefunden hat, beharrt Arzú auf seinem Standpunkt und ist nicht zum Gespräch gewillt. Óscar Clemente Marroquín, Direktor der Tageszeitung La Hora, zog in seinem Leitartikel unter anderem diesen Fall als neuen Beweis dafür heran, dass die zuständigen Autoritäten gar nicht auf zivilrechtlich ordentlich eingereichte Ansuchen und Beschwerden eingingen und den BürgerInnen fast gar nichts anderes übrig bleibe, als weit ausgreifende Protestmassnahmen anzuwenden, um damit die Aufmerksamkeit der Obrigkeit zu gewinnen. In Fraijanes hatten dieser Tage die BewohnerInnen wiederholt lautstark protestiert und diverse Strassensperren aufgebaut, da das lokal zuständige Busunternehmen den Fahrpreis um einen Quetzal angehoben hatte. Erst nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit den kombinierten Sicherheitskräften wurde zum Dialog aufgerufen, mit dem Resultat, dass das Unternehmen die Preiserhöhung wieder aufhob. Und schon tut sich für Vizepräsident Espada eine neue Baustelle auf, denn jetzt fordern die Unternehmen des Personentransports von Grund auf neue Regeln. Immer wieder sind die staatlichen Subventionen des Öffentlichen Personennah- und Fernverkehrs Diskussionsgegenstand. Gegen die Gewähr der Dienstleistung zu einem bezahlbaren Preis wird dabei oft die Qualität des Services ins Feld geführt, sowohl die Fahrzeuge als auch den Fahrstil und die Passagierbehandlung betreffend. Wegen des Benzinpreisanstiegs wollen die Busunternehmen jetzt komplett auf die Subventionen verzichten, die ohnehin angeblich kaum zur Kostendeckung ausreichen; von der Regierung wurde eine Erhöhung auch bereits ausgeschlossen. Stattdessen schlagen die Unzufriedenen vor, den Fahrpreis zu erhöhen: Für eine Strecke in der Stadt wollen sie statt bislang 1 Quetzal 4,25 Quetzales von jedem Fahrgast kassieren. Espada erreichte immerhin, dass die Fordernden ihr Ultimatum vom 30. Mai erst einmal auf unbestimmt verschieben. Und dabei ist das Thema Sicherheit in den Bussen noch gar nicht berührt. In der Wohnzone 15 müssen die BewohnerInnen erneut seit vier Tage auf jeglichen ÖPNV verzichten, da die Fahrer der Strecke 51 angesichts des Mordes an einem ihrer Kollegen mehr Polizeipräsenz und Unterstützung fordern. Zeitweilig wird diese von kombinierten Sicherheitskräften und auch verdeckten AgentInnen geleistet, meist aber nach einiger Zeit doch wieder abgezogen. |
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