Opfer sind keine passiven Objekte
Fijáte 271 vom 23. Okt. 2002, Artikel 1, Seite 1
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Opfer sind keine passiven Objekte
Einen Tag nach der Urteilssprechung im Fall Mirna Mack (dreissig Jahre Gefängnis für einen der drei Angeklagten, Freispruch für die beiden andern) ist Mirna's Tochter, Lucrecia Hernández Mack, nach Europa gereist, wo sie in Salzburg zu einem Medizinkongress eingeladen war. Während eines Kurzbesuchs von Lucrecia in der Schweiz, hatte die ¡Fijáte!- Redaktion Gelegenheit, mit ihr über das Urteil und ihre persönlichen Gefühle dem Urteil gegenüber zu sprechen. Lucrecia Hernández Mack ist 28 Jahre alt und hat in Guatemala Medizin und Gesundheitswesen studiert. Da sie im Moment keinen Job in ihrem Beruf hat, arbeitet sie häufig für die Mirna-Mack-Stiftung, in deren Vorstand sie auch ist. Wie fühlst du dich hier in Europa, von wo aus du das Urteil und die guatemaltekische Realität aus einer gewissen Distanz betrachten kannst? Lucrecia Mack: Die Leute in Guatemala sind froh, dass ich hier bin, um mich vor möglichen Drohung fernzuhalten, die es gegeben hat nach der Urteilssprechung. Z.B. gegenüber Familienangehörigen des Zeugen "Buky" und gegenüber Clara Arenas, der Direktorin von AVANSCO, die auch als Zeugin aufgetreten war. Ich selber bin einerseits froh, hier zu sein und das ganze etwas verdauen zu können. Aber es ist auch schwierig, von Guatemala weg zu sein, denn dort laufen die Vorbereitungen für die Appellation gegen den Freispruch von zwei Angeklagten. Wir haben Zeit bis zum 16. Oktober, um unsere Appellation zu formulieren. Wir werden uns dabei nicht auf die Form stützen, wie der Prozess geführt wurde, weil dieser sehr gut war. Wir werden uns auf das Materielle, den Inhalt stützen, denn was beim Prozess nicht in Betracht gezogen wurde, ist die Befehlshierarchie, in der die drei zueinander standen. Am Telefon hat man mir erzählt, dass die Diskussion über das Urteil in Guatemala völlig polarisiert geführt wird: KommunistInnen, diesmal repräsentiert durch MenschenrechtsaktivistInnen gegen das Militär. Das ist ihre Strategie: Was sie nicht auf dem Schlachtfeld gewonnen haben, wollen sie jetzt vor Gericht gewinnen. Sie haben sogar eine eigene Website und darauf wiederholen sie den Diskurs des kalten Krieges. Wen meinst du mit "sie"? L. Mack: Ich spreche von den drei Angeklagten und ihren Familienangehörigen. Hinter ihnen stehen dem Militär nahestehende Personen, z.B. die Organisation der pensionierten Militärs (AVEMILGUA), aber auch gewisse JournalistInnen und AnwältInnen, die mit ihnen sympathisieren. Was bedeutet für dich das Urteil, wie schätzt du es ein im Kontext der aktuellen politischen Situation? L. Mack: Die Tatsache allein, dass es zu einem Urteilsspruch kam, ist ein Schritt vorwärts. Es dauerte immerhin acht Jahre, um diesen Moment zu erreichen. Wichtig ist - unabhängig vom Urteil - die Argumentation, auf die es sich stützt. Es wurde anerkannt, dass ein politisches Motiv hinter dem Mord stand, dass der oberste Generalstab (EMP) nicht nur für die Sicherheit des Präsidenten zuständig war, sondern auch Geheimdienstfunktionen ausübte, d.h. es wurde anerkannt, dass der Mord Teil einer Geheimdienstaktion war. Weiter wurde die Wichtigkeit der akademischen Arbeit meiner Mutter anerkannt, was für uns von spezieller Bedeutung ist, denn es gibt uns Gelegenheit, auch die menschliche Seite meiner Mutter hervorzuheben. Wichtig ist auch, welche Dokumente als Beweismittel anerkannt wurden: Der Bericht der Wahrheitskommission der katholischen Kirche (Guatemala - nunca más), der Bericht der offiziellen Wahrheitskommission (Memoria del Silencio), die freigegebenen Dokumente des CIA, die Publikation meiner Mutter aus dem Jahr 1990 und das Communiqué der ersten Generalversammlung der Widerstandsdörfer der Sierra. Diese Dokumente und das Video, das Buky mit dem Angeklagten Juan Valencia Osoria aufgenommen hatte, genügten den beiden Richterinnen, um ihr Urteil zu fällen. Aber: Valencia Osoria ist der Mittlere innerhalb der Rangordnung der Drei. Und so hierarchisch wie die Strukturen im Militär und Geheimdienst sind, hätten die andern beiden auch verurteilt werden müssen. Gibt es denn noch zusätzliche Beweise, auf die ihr euch bei der Appellation berufen könnt? L. Mack: Nein. Das Problem ist, dass es extrem schwierig ist, jemandem die intellektuelle Verantwortung nachzuweisen. Es gibt keine wissenschaftliche Beweismittel wie Fingerabdrücke, DNA-Proben, mit Sicherheit werden wir kein Papier finden, auf dem steht, "Ich, XY, gebe Z den Befehl, Mirna umzubringen". Trotzdem glaube ich, dass wir genug schlagkräftige Beweise haben um zu zeigen, dass der EMP auch in Geheimdienstaktivitäten involviert war und dass es offensichtlich ist, dass der für die Tat verurteilte Beteta über Informationen und Ressourcen verfügte, die er nur von den dreien erhalten haben kann. Auf diese Tatsachen muss sich das Urteil stützen. Die Anwälte des verurteilten Valencia Osorio werden ebenfalls Einspruch erheben. Wie geht es nun weiter? Wird es weitere acht Jahre dauern...? L. Mack: Das wissen wir nicht. Im Fall Gerardi hat es 16 Monate gedauert, bis der Prozess wieder aufgenommen wurde. Wir haben jetzt Zeit bis am 16., um die Appellation einzureichen und danach werden sie uns ein Datum für den Appellationsprozess geben. Ich habe den Verdacht, dass es immer wieder sogenannte Vorzeigefälle gibt - der Fall Gerardi beweist das wunderbar - um der Öffentlichkeit zu beweisen, dass "schon etwas gemacht wird". Aber die wirklich Verantwortlichen kommen dabei nicht vor Gericht und die Straflosigkeit besteht weiter. Bist du mit dem Urteil zufrieden oder kommen dir nicht auch die Zweifel auf, dass sie euch quasi ein minimales Zugeständnis gemacht haben, in der Hoffnung, ihr würdet nun endlich Ruhe geben. L. Mack: Ja, manchmal sieht es tatsächlich aus wie ein Schritt vorwärts und einer zurück. Aber doch, ich bin schon zufrieden mit diesem Urteil, vor allem, was die Prozessführung betrifft. Wir haben es geschafft, uns als Ebenbürtige am selben Tisch gegenüber zu sitzen. Wir hatten die Möglichkeit, unsere Argumente vorzubringen und die Wahrheit zu erzählen. Meine Tante hat in ihrem Schlussargument gesagt: "In diesem Moment analysieren wir unsere Geschichte". Und sie hat auch gesagt: "Unabhängig vom Resultat haben wir gewonnen". Denn immerhin haben wir erreicht, dass die Justiz sich mit diesem Fall auseinandersetzen musste, und dass die Rolle des Militärs öffentlich in Frage gestellt wurde. Soweit zu den positiven Aspekten. Aber klar wünschen wir uns eine Verurteilung aller drei und insofern sind wir mit dem Urteil nur teilweise zufrieden. Deshalb auch die Appellation. Natürlich haben wir auch Angst, nach den Entwicklungen, die sich im Fall Gerardi ergeben haben ist uns klar, dass wir alle unsere Kräfte in diese Appellation stecken müssen. Es könnte also passieren, dass, wie im Fall Gerardi, der ganze Prozess neu aufgerollt werden muss - vielleicht mit einem schlechteren Ausgang für euch? Nach oben |
L. Mack: Das ist eine Möglichkeit, die wir nicht ausschliessen dürfen. Im Fall Gerardi ist zu hoffen, dass die Anklageseite, das Erzbistum und die Staatsanwaltschaft, gestärkt in diese zweite Prozessrunde geht. Noch etwas: Wenn es sich um die Aufklärung eines politische motivierten Verbrechen handelt, beschränken sich die Argumente nicht auf die juristische Ebene. Die politischen Meinungen und Argumente der beiden Seiten spielen immer auch eine Rolle, was alles noch komplexer macht. Und wenn dann weder die juristischen noch die politischen Einwände überzeugen, wird zu den persönlichen Attacken gegriffen. Meiner Tante z.B. wurde vorgeworfen, Beteta Drogen ins Gefängnis geschickt zu haben, ihn bestochen zu haben. Im Fall Gerardi wurden die Leute des Erzbistum und der Staatsanwalt von einem der Verurteilten aufs Schlimmste diffamiert. Wird der Fall Mack zu einem Präzedenzfall, d.h. wird es in anderen ähnlichen Klagen einfacher zu einer Verurteilung kommen? L. Mack: Dies ist insofern ein Präzedenzfall, als es überhaupt zu einem Urteil gekommen ist. Andere Fälle stecken fest, weil eine Serie von Rekursen eingereicht wurde, die eine Weiterführung fast verunmöglichen. Ich hoffe wirklich, dass die Leute sich animiert fühlen, Menschenrechtsprozesse zu führen, das Justizsystem herauszufordern. Aber dazu braucht es die personellen, technischen und finanziellen Mittel. Meine Tante hat ihr ganzes Leben diesem Prozess verschrieben. Wir haben durchgehalten, mit viel internationaler Hilfe und Solidarität, aber es gibt viele Familien, die das nicht haben und denen deshalb der Mut fehlt, Prozesse zu führen. Wünschenswert wäre es, wenn die Staatsanwaltschaft von sich aus Prozesse führen könnte, ohne dass es eine Klägerseite gibt, wenigstens je einen Präzedenzfall für die verschiedenen Formen von Menschenrechtsverletzungen. Dies würde den Raum und die Möglichkeit schaffen für eine Analyse unserer Geschichte. Genügt eine juristische Wiedergutmachung? Versöhnt dich dieses Urteil mit den Tätern? L.Mack: Jede Person hat ein anderes Verständnis von Versöhnung. Ich kann also nur aus meiner Perspektive sprechen und ich habe ein religiöses Konzept von Versöhnung: Anerkennen der Schuld, Bereuen und um Verzeihung bitten. Auf dieser Basis kann jemand verzeihen - oder vielleicht auch nicht... Einen Prozess zu lancieren ist Teil der Suche nach Wahrheit, die dem Menschen inhärent ist. Ausserdem soll eine demokratische Gesellschaft, die Mechanismen definiert hat, um Verbrechen dieser Art nicht zu tolerieren und zu bestrafen, auf die Probe gestellt werden. Sie ist dafür verantwortlich, dass ihr Justizsystem funktioniert. Mir als Opfer hilft die Verurteilung, das Gewicht des Verlustes zu tragen. Dass ich den für die Ermordung meiner Mutter verantwortlichen Personen in einem Gerichtssaal gegenübergesessen bin, hat mir ein Stück meiner Würde zurückgegeben. Für mich persönlich war dies also ein wichtiger Prozess, schwierig, aber es hat sich gelohnt. Und ich hoffe, dass all das, was jetzt folgt, mich weiter erleichtert. Es stört mich, dass allein die Opfer die Verantwortung für die Versöhnung übernehmen müssen. Dass es von uns abhängt, ob es zu einer Versöhnung kommt oder nicht, ob das soziale Geflecht Guatemalas wieder aufgebaut werden kann. Dies müsste die Verantwortung aller sein, inklusive der Täter. Das Wort Opfer gefällt mir übrigens gar nicht, denn es hinterlässt den Eindruck, wir seien passive Objekte. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Opfer und deren Familienangehörigen sind meist sehr aktiv und mit Würde handelnde Menschen. Kannst Du einen Kommentar oder eine Analyse zu den jüngsten Entwicklungen im Fall Gerardi machen? L. Mack: Lieber nicht, denn ich war ja in den letzten Tagen nicht in Guatemala. Ich bedauere es sehr, dass das Urteil aufgehoben wurde. Es ist genau so, wie wir gesagt haben: Einen Schritt vorwärts und einen zurück und ich hoffe, es sind nicht zwei Schritte zurück! Es gibt aber auch Stimmen, die sagen, es sei gut, dass der Prozess nochmals aufgerollt werden muss, denn auch im Fall Gerardi seien nicht die wirklich Verantwortlichen verurteilt worden. Staatsanwalt Celvin Galindo hat in einem Interview gesagt, dass die drei Verurteilten einfach zu Sündenböcken gemacht wurden, aber dass hinter dem Verbrechen ganz andere Leute stecken. L. Mack: Viel von dem was gesagt wird, sind Gerüchte, Produkte der politisierten Prozessführung und entbehren einer juristischen Basis. Galindo hat unheimliche Angst, er sagt nichts, weder bestätigt er noch widerspricht er dem, was die Angeklagten sagen, er gibt die Namen der Verantwortlichen nicht preis. Im Fall Gerardi wurde klar bewiesen, dass die verurteilten Personen etwas mit der Ermordung des Bischofs zu tun haben. Das schliesst aber nicht aus, dass noch andere Personen in die Sache involviert sind. Genau so wie im Fall Mack: So wie der EMP mit dem Geheimdienst zusammenarbeitete, können wir nicht ausschliessen, dass noch andere Personen von der Ermordung meiner Mutter gewusst haben. Dass die einen schuldig sind, bedeutet nicht automatisch, dass alle andern unschuldig sind. Und wenn Galindo sagt, dass es andere Schuldige gibt, müssen diese gesucht werden. Das wiederum macht aber die Verurteilten nicht unschuldig. Wie beurteilst du die allgemeine Menschenrechtssituation in Guatemala? L. Mack: Seit die aktuelle Regierung an der Macht ist, verschlimmert sich die Menschenrechtssituation täglich. Auf sozialer Ebene haben wir mehr Armut und weniger soziale Investitionen, auf politischer Ebene haben wir mehr Korruption, was die Gewalt betrifft, haben wir ein gestärktes organisiertes Verbrechen, mehr Kriminalität, mehr häusliche Gewalt etc. Gegen die Menschenrechtsorganisationen ist eine zunehmende Repression spürbar: Überfälle auf Büros von Menschenrechtsorganisationen und Parteien, die Verfolgung und Ermordung von Personen. Früher hiess es: Gesehener Guerillero - toter Guerillero, heute heisst es: Gesehener Aktivist - toter Aktivist. Es findet eine Rückkehr in die Vergangenheit statt, ein Bespiel dafür ist auch dass die Zivilpatrouillen wieder in Erscheinung treten. Diese Menschenrechtsverletzungen sind ohne Patronat der Regierung gar nicht möglich. Die Regierung ist dafür verantwortlich was geschieht und unternimmt nichts dagegen. Wenn jemand eine Verfolgung anzeigt, heisst es, okay, geben wir ihm oder ihr Polizeischutz. Aber eine Untersuchung wird nicht eingeleitet. Meist wird es während des Wahlkampfes schlimmer und uns steht ein Wahljahr bevor. Wir müssen schauen, was für Sicherheitsmassnahmen wir zu unserem eigenen Schutz treffen können. Die Weiterführung des Falles Mack ist aber nicht vom Ausgang der Wahlen abhängig? L. Mack: Nein. Die Wahlen betreffen ja die Legislative und die Exekutive. Die Judikative ist theoretisch unabhängig, aber es gibt immer wieder Fälle von Druckausübung, von Drohungen und Repression gegenüber den RichterInnen. Und es gibt immer wieder RichterInnen, die sich diesem Druck beugen. Vielen Dank für das Gespräch! |
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