guatemala.de > Guatemalagruppe Nürnberg e. V. > Fijate
Fijáte
 

Opfer sind keine passiven Objekte

Fijáte 271 vom 23. Okt. 2002, Artikel 1, Seite 1

PDF Original-PDF 271 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9 --- Nächstes Fijáte

Opfer sind keine passiven Objekte

L. Mack: Das ist eine Möglichkeit, die wir nicht ausschliessen dürfen. Im Fall Gerardi ist zu hoffen, dass die Anklageseite, das Erzbistum und die Staatsanwaltschaft, gestärkt in diese zweite Prozessrunde geht. Noch etwas: Wenn es sich um die Aufklärung eines politische motivierten Verbrechen handelt, beschränken sich die Argumente nicht auf die juristische Ebene. Die politischen Meinungen und Argumente der beiden Seiten spielen immer auch eine Rolle, was alles noch komplexer macht. Und wenn dann weder die juristischen noch die politischen Einwände überzeugen, wird zu den persönlichen Attacken gegriffen. Meiner Tante z.B. wurde vorgeworfen, Beteta VGDrogenNF ins Gefängnis geschickt zu haben, ihn bestochen zu haben. Im Fall Gerardi wurden die Leute des Erzbistum und der Staatsanwalt von einem der Verurteilten aufs Schlimmste diffamiert.

Wird der Fall Mack zu einem Präzedenzfall, d.h. wird es in anderen ähnlichen Klagen einfacher zu einer Verurteilung kommen?

L. Mack: Dies ist insofern ein Präzedenzfall, als es überhaupt zu einem Urteil gekommen ist. Andere Fälle stecken fest, weil eine Serie von Rekursen eingereicht wurde, die eine Weiterführung fast verunmöglichen. Ich hoffe wirklich, dass die Leute sich animiert fühlen, Menschenrechtsprozesse zu führen, das Justizsystem herauszufordern. Aber dazu braucht es die personellen, technischen und finanziellen Mittel. Meine Tante hat ihr ganzes Leben diesem Prozess verschrieben. Wir haben durchgehalten, mit viel internationaler Hilfe und Solidarität, aber es gibt viele Familien, die das nicht haben und denen deshalb der Mut fehlt, Prozesse zu führen. Wünschenswert wäre es, wenn die Staatsanwaltschaft von sich aus Prozesse führen könnte, ohne dass es eine Klägerseite gibt, wenigstens je einen Präzedenzfall für die verschiedenen Formen von VGMenschenrechtsverletzungenNF. Dies würde den Raum und die Möglichkeit schaffen für eine Analyse unserer Geschichte.

Genügt eine juristische Wiedergutmachung? Versöhnt dich dieses Urteil mit den Tätern?

L.Mack: Jede Person hat ein anderes Verständnis von Versöhnung. Ich kann also nur aus meiner Perspektive sprechen und ich habe ein religiöses Konzept von Versöhnung: Anerkennen der Schuld, Bereuen und um Verzeihung bitten. Auf dieser Basis kann jemand verzeihen - oder vielleicht auch nicht...

Einen Prozess zu lancieren ist Teil der Suche nach Wahrheit, die dem Menschen inhärent ist. Ausserdem soll eine demokratische Gesellschaft, die Mechanismen definiert hat, um Verbrechen dieser Art nicht zu tolerieren und zu bestrafen, auf die Probe gestellt werden. Sie ist dafür verantwortlich, dass ihr Justizsystem funktioniert.

Mir als Opfer hilft die Verurteilung, das Gewicht des Verlustes zu tragen. Dass ich den für die Ermordung meiner Mutter verantwortlichen Personen in einem Gerichtssaal gegenübergesessen bin, hat mir ein Stück meiner Würde zurückgegeben. Für mich persönlich war dies also ein wichtiger Prozess, schwierig, aber es hat sich gelohnt. Und ich hoffe, dass all das, was jetzt folgt, mich weiter erleichtert.

Es stört mich, dass allein die Opfer die Verantwortung für die Versöhnung übernehmen müssen. Dass es von uns abhängt, ob es zu einer Versöhnung kommt oder nicht, ob das soziale Geflecht Guatemalas wieder aufgebaut werden kann. Dies müsste die Verantwortung aller sein, inklusive der Täter. Das Wort Opfer gefällt mir übrigens gar nicht, denn es hinterlässt den Eindruck, wir seien passive Objekte. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Opfer und deren Familienangehörigen sind meist sehr aktiv und mit Würde handelnde Menschen.

Kannst Du einen Kommentar oder eine Analyse zu den jüngsten Entwicklungen im Fall Gerardi machen?

L. Mack: Lieber nicht, denn ich war ja in den letzten Tagen nicht in Guatemala. Ich bedauere es sehr, dass das Urteil aufgehoben wurde. Es ist genau so, wie wir gesagt haben: Einen Schritt vorwärts und einen zurück und ich hoffe, es sind nicht zwei Schritte zurück!

Es gibt aber auch Stimmen, die sagen, es sei gut, dass der Prozess nochmals aufgerollt werden muss, denn auch im Fall Gerardi seien nicht die wirklich Verantwortlichen verurteilt worden. Staatsanwalt Celvin Galindo hat in einem Interview gesagt, dass die drei Verurteilten einfach zu Sündenböcken gemacht wurden, aber dass hinter dem Verbrechen ganz andere Leute stecken.

L. Mack: Viel von dem was gesagt wird, sind Gerüchte, Produkte der politisierten Prozessführung und entbehren einer juristischen Basis. Galindo hat unheimliche Angst, er sagt nichts, weder bestätigt er noch widerspricht er dem, was die Angeklagten sagen, er gibt die Namen der Verantwortlichen nicht preis.

Im Fall Gerardi wurde klar bewiesen, dass die verurteilten Personen etwas mit der Ermordung des Bischofs zu tun haben. Das schliesst aber nicht aus, dass noch andere Personen in die Sache involviert sind. Genau so wie im Fall Mack: So wie der EMP mit dem Geheimdienst zusammenarbeitete, können wir nicht ausschliessen, dass noch andere Personen von der Ermordung meiner Mutter gewusst haben. Dass die einen schuldig sind, bedeutet nicht automatisch, dass alle andern unschuldig sind. Und wenn Galindo sagt, dass es andere Schuldige gibt, müssen diese gesucht werden. Das wiederum macht aber die Verurteilten nicht unschuldig.

Wie beurteilst du die allgemeine Menschenrechtssituation in Guatemala?

L. Mack: Seit die aktuelle Regierung an der Macht ist, verschlimmert sich die Menschenrechtssituation täglich. Auf sozialer Ebene haben wir mehr VGArmutNF und weniger soziale Investitionen, auf politischer Ebene haben wir mehr VGKorruptionNF, was die Gewalt betrifft, haben wir ein gestärktes VGorganisiertes VerbrechenNF, mehr Kriminalität, mehr häusliche Gewalt etc.

Gegen die Menschenrechtsorganisationen ist eine zunehmende Repression spürbar: Überfälle auf Büros von Menschenrechtsorganisationen und Parteien, die Verfolgung und Ermordung von Personen. Früher hiess es: Gesehener Guerillero - toter Guerillero, heute heisst es: Gesehener Aktivist - toter Aktivist. Es findet eine Rückkehr in die Vergangenheit statt, ein Bespiel dafür ist auch dass die VGZivilpatrouillenNF wieder in Erscheinung treten.

Diese Menschenrechtsverletzungen sind ohne Patronat der Regierung gar nicht möglich. Die Regierung ist dafür verantwortlich was geschieht und unternimmt nichts dagegen. Wenn jemand eine Verfolgung anzeigt, heisst es, okay, geben wir ihm oder ihr Polizeischutz. Aber eine Untersuchung wird nicht eingeleitet.

Meist wird es während des Wahlkampfes schlimmer und uns steht ein Wahljahr bevor. Wir müssen schauen, was für Sicherheitsmassnahmen wir zu unserem eigenen Schutz treffen können.

Die Weiterführung des Falles Mack ist aber nicht vom Ausgang der Wahlen abhängig?

L. Mack: Nein. Die Wahlen betreffen ja die Legislative und die Exekutive. Die Judikative ist theoretisch unabhängig, aber es gibt immer wieder Fälle von Druckausübung, von Drohungen und Repression gegenüber den RichterInnen. Und es gibt immer wieder RichterInnen, die sich diesem Druck beugen.

Vielen Dank für das Gespräch!


PDF Original-PDF 271 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9 --- Nächstes Fijáte