Guatemala - Das Land der Morde
Fijáte 369 vom 04. Okt. 2006, Artikel 1, Seite 1
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Guatemala - Das Land der Morde
Während vier Tagen besuchte der UNO-Sonderberichtserstatter für aussergerichtliche, willkürliche und summarische Hinrichtungen, Philip Alston, im August Guatemala. Bei einer Pressekonferenz zum Abschluss seines Besuchs geht er mit den guatemaltekischen Behörden hart ins Gericht und kritisiert namentlich die korrupte Polizei, die nachlässige Staatsanwaltschaft und die daraus resultierende herrschende Straflosigkeit. Für ihn ist klar, dass die Behörden Teil des Problems sind und dass auch von Seiten der Polizei solche Methoden gewählt werden. Dass dies keine leeren Worte sind, beweist am letzten Tag seines Aufenthaltes die Verhaftung des Stellvertretenden Direktors der Kriminalpolizei, dem 15 Morde angelastet werden, die meisten davon hat er "im Amt" ausgeübt. Im Moment seiner Verhaftung fuhr er ein gestohlenes Auto. Wir veröffentlichen im Folgenden ein Interview mit Philip Alston, das am 27. August in der Tageszeitung elPeriódico erschien. Frage: Welchen Eindruck hat man im Ausland bezüglich der zahlreichen unaufgeklärten Morde in Guatemala? Philip Alston: Im Ausland sind sie kein Thema, die Leute wissen nichts darüber. Mich erstaunen und beeindrucken die hohe Anzahl von Hinrichtungen und die geringen Untersuchungen, die dazu gemacht werden, von Prozessen und Bestrafungen ganz zu schweigen. Ich werde das in meinem Bericht festhalten und ich sehe es als meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich die internationale Gemeinschaft und die guatemaltekische Regierung mehr um dieses Problem kümmern. Frage: Weshalb weiss man im Ausland nichts davon? Ph.A.: Ich spreche jetzt nicht im Namen der Vereinten Nationen, aber die ehrliche Antwort ist, dass Guatemala seine geopolitische Wichtigkeit verloren hat. Heute sind es andere Weltgegenden, die im Rampenlicht stehen, selbst das Interesse der USA an Zentralamerika hat nachgelassen. Frage: Tag für Tag werden in Guatemala auf offener Strasse Tote gefunden, die Spuren von Folter aufweisen. Kann man diese Morde als aussergerichtliche Hinrichtungen bezeichnen? Ph.A.: Als ich mich bei der Polizei und der Staatsanwaltschaft über die Anzahl der Verhafteten und die Art ihrer Delikte erkundigte, erhielt ich kaum Auskunft. Ich habe nicht den Eindruck, dass das Justizsystem Interesse daran hat, diese Probleme auf legalem Weg anzugehen. Die gewählten Techniken, mit denen diese Leute umgebracht wurden, tragen alle die Marke "aussergerichtliche Hinrichtung": Ein Schuss in den Nacken, die Körper werden weit entfernt von dem Ort gefunden, wo sie hingerichtet wurden... dies ist nicht die Methode von Banden oder von einfachen Kriminellen. Frage: Die Verwandten der Opfer haben nur eine grosse Frage: Weshalb so? Weshalb auf diese Weise? Ph.A.: Die Antwort darauf umfasst drei Elemente. Erstens die Straflosigkeit: die Täter wissen, dass sie machen können, was sie wollen, ohne die Konsequenzen dafür tragen zu müssen. Zweitens gibt es einen tiefsitzenden Hass gegen die Maras (kriminelle Jugendbanden), der offenbar jedes Mittel rechtfertigt. Drittens, und das scheint mir das Wichtigste, wollen die Mörder eine Botschaft durchgeben. Wird jemand einfach so umgebracht, denken die Leute: Aha, da wurde jemand umgebracht. Werden die Leute aber auf diese brutale Art und Weise umgebracht, lautet die Botschaft: "Wenn wir befinden, dass du zu einer Mara gehörst, kann dir genau das geschehen. Zuerst foltern wir dich auf die brutalste Weise und dann bringen wir dich auf die schlimmste Art um". Frage: Funktionieren diese Botschaften? Ph.A.: Sie lösen genau das Gegenteil aus. Da solche Verbrechen straflos bleiben, fühlen sich alle dazu berechtigt. Bei der Pressekonferenz habe ich gesagt, dass, wollte ich einen Mord begehen, ich dies in Guatemala tun würde. Die Chance, dass ich dafür bestraft werde, ist minimal. Die Sicherheitskräfte fühlen sich dazu bemächtigt, dieselben Methoden wie das organisierte Verbrechen anzuwenden. Damit schüchtern sie aber die Maras nicht ein, die sind an die Gewalt gewöhnt. Im Gegenteil, es stachelt sie an, Gewalt ist Teil ihres Lebens. Frage: Wie sind die Einstellungen der guatemaltekischen Behörden zu diesem Phänomen? Ph.A.: Das ist schwierig zu sagen. Ich hatte den Eindruck, dass einige dieses brutale Vorgehen befürworten. Alternative Möglichkeiten haben sich ausgeschöpft und nun glaubt man, diese Brutalität sei gerechtfertigt. Ich habe mich mit einigen wenigen Kongressabgeordneten, Mitgliedern der Menschenrechtskommission, getroffen, und mir schien, dass sich der Kongress nicht zuständig fühlt. Es werden keine wichtigen Gesetze bezüglich der Sicherheitsmaterie verabschiedet, ich hatte gar den Eindruck, dass gewisse politische Situationen von gewissen Leuten für ihren Wahlkampf ausgenutzt werden. Es gibt dazu einen unglaublichen Diskurs. Die Leute beklagen sich über die Unsicherheit, die Antwort darauf ist: Wir müssen mit Gewalt dagegen vorgehen. Es geht aber nicht darum, das Problem wirklich zu lösen, sondern das politische Drama auszunutzen, um eine andere Vorgehensweise zu propagieren: Die der "harten Hand". Frage: Es gibt einen Präsidentschaftskandidaten, der die geschlossene Faust als Parteisymbol hat. Was für Konsequenzen hat das Fehlen von politischen Lösungen für das Land? Ph.A.: Die Situation ist unvorstellbar übel. Es fehlt an der Fähigkeit, Untersuchungen durchzuführen und es mangelt am Interesse einer Zusammenarbeit. Ich habe mit der Polizei gesprochen und die sagten mir, die Staatsanwaltschaft (MP) sei zuständig. Ich habe mit dem MP gesprochen und die sagen, es sei Sache der Polizei. Ich sollte und möchte solches nicht sagen, aber es ist so: Das System funktioniert nicht. Es ist doch nicht möglich, dass es keine Zusammenarbeit zwischen dem MP und der Polizei gibt, sondern sie im Gegenteil manchmal sogar gegeneinander arbeiten. So behindern sie sich gegenseitig, bzw. liefern sich gegenseitig den Grund, nichts unternehmen zu müssen. Resultat davon ist die geringe Zahl von Anklagen und Verurteilungen. Die Auswirkungen auf die Bevölkerung sind fatal, denn niemand mehr hat Vertrauen in die Sicherheitskräfte. Nach oben |
Frage: Führt dieser Mangel an Vertrauen dazu, dass die Leute die "harte Hand" befürworten? Ph.A.: Ich sehe zwei Optionen. Erstens die harte Hand, zweitens ein funktionierender Rechtsstaat. Wenn aber ständig demonstriert wird, dass die zweite Option nicht funktioniert, werden damit die Anhänger der harten Hand gestärkt. Der Rechtsstaat funktioniert unter anderem deshalb nicht, weil es ihm an den entsprechenden Gesetzen und den notwendigen finanziellen Ressourcen mangelt. Frage: Wer ist für die Transformation dieses gescheiterten Systems zuständig? Ph.A.: Das ist nicht Sache von einer bestimmten Person oder Gruppe, es betrifft die ganze Gesellschaft. Eine wichtige Rolle kommt dem in Entstehen begriffenen neuen Unternehmenssektor zu. Dieser sollte eigentlich ein Interesse an einem funktionierenden Rechtsstaat haben. In Guatemala scheint es aber eher, dass der Privatsektor an einem geschwächten Staat interessiert ist. Frage: Welche konkreten Empfehlungen geben Sie dem guatemaltekischen Staat? Ph.A.: Es gibt etwa ein halbes Dutzend Gesetze, die dem Kongress zur Diskussion vorliegen, mit denen die Situation verbessert werden könnte. Es ist schon beeindruckend, dass offenbar niemand die Notwendigkeit sieht, diese Gesetze zu verabschieden. Das Budget ist ein weiterer Faktor: Man kann nicht erwarten, dass ein Justizsystem mit einem so kleinen Budget funktionieren kann. Frage: Ein Teil des Problems ist doch auch, dass sich die Elite sicher fühlt, weil sie ihre eigenen Miniarmeen haben und im Notfall das Land verlassen können. Ph.A.: Mehr oder weniger. Die Internationalen Justizmechanismen werden immer besser und es wird immer schwieriger werden, sich ins Ausland abzusetzen. Guatemala ist nicht mehr die Insel von einst. Man mag zwar den Eindruck haben, die Macht der guatemaltekischen Elite sei unantastbar, aber das ändert sich. Frage: Der Gesetzesartikel über die aussergerichtliche Hinrichtung wurde dahingehend modifiziert, dass er die Todesstrafe als Höchststrafe erlaubt. Dies hat aber keinerlei Wirkung gezeigt, im Gegenteil, die Anzahl aussergerichtlicher Hinrichtungen hat sich in den letzten Jahren verdoppelt. Ph.A.: Die Todesstrafe hat - vor allem in dieser Sache - keine abschreckende Wirkung. Überhaupt ist die Sache mit der Todesstrafe sehr unklar in Guatemala. Sie existiert, aber sie wird nicht angewendet, das Begnadigungsrecht des Präsidenten ist suspendiert. Diese unklare Situation muss vom Kongress unbedingt geklärt werden, denn sie beeinflusst auch das Straf- und Gefängniswesen. Frage: Wir hören zwar immer die Geschichten über staatliche Todesschwadronen und Sicherheitskräfte, die soziale Säuberungen betreiben. Und trotzdem fragen wir uns immer wieder, ob das wirklich stimmt. Ph.A.: Es braucht einen seriösen Journalismus, der den Dingen wirklich auf den Grund geht. Bisher werden all diese Geschichten über Todesschwadronen und soziale Säuberungen als Anekdoten verbreitet. Wirkliche Informationen bekommt man kaum und wer nachfragt, bekommt die Antwort: Dazu kann ich nichts sagen und keine Namen nennen. Frage: Wie kann man die Leute davon überzeugen, dass soziale Säuberung nicht die Lösung des Problems sein kann? Ph.A.: Indem man ihnen klarmacht, dass sie der oder die nächste auf der Liste sein können. Indem man mir die "carte blanche" zum Töten gibt, hält mich nichts mehr davor zurück, meinen Nachbarn umzubringen, weil mich das Bellen seines Hundes stört oder die Frau am Ende der Strasse, weil sie mein Kind geohrfeigt hat. Frage: Was kann man machen, um das Korruptionsproblem in der guatemaltekischen Polizei zu lösen: Sie transformieren, sie "säubern", oder sie gänzlich auflösen und von neuem beginnen? Ph.A.: Die Polizeien sind immer und auf der ganzen Welt sehr komplex und eine Herausforderung. Es gibt immer Formen von Korruption, aber es gibt durchaus Länder, die ebenso arm sind wie Guatemala und eine viel effizientere Polizei haben. Ich habe in der guatemaltekischen Polizei nichts Aussergewöhnliches aber auch nichts wirklich Ermutigendes gesehen. Ich war zu einem Gespräch im Innenministerium, der Polizeidirektor, Erwin Sperisen hat während einer Stunde lang kein Wort gesagt. |
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