Hurrikan Stan - ein Jahr später
Fijáte 369 vom 04. Okt. 2006, Artikel 2, Seite 3
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Hurrikan Stan - ein Jahr später
Guatemala, 30. Sept. "Präsident Berger weihte 33 Wohnhäuser in der Siedlung San Juan el Paraíso, Puerto San José, Departement Escuintla, für Familien ein, die vom Hurrikan Stan betroffen wurden. Die Häuser wurden von dem Guatemaltekischen Wohnungsbaufond (FOGUAVI) errichtet und sind Teil des Bauprogamms von 250 Wohneinheiten, das die gleiche Anzahl von Familien begünstigen wird." Dies ist eine aktuelle Meldung, wohl bemerkt ein Jahr, nachdem der Tropensturm Stan Anfang Oktober 2005 grosse Teile der Pazifik-Küste und des westlichen Hochlandes Guatemalas zerstört hatte. (siehe ¡Fijáte! 345) Eine weitere logische Aussage der Meldung ist, dass allein an diesem Ort noch 217 Häuser fehlen und somit 217 Familien weiterhin in Notunterkünften leben, im ganzen Land sind es mindestens 7´120 Familien. Bis heute hat es zu keinem Zeitpunkt eine genaue Übersicht über alle Verletzten, Verschwundenen, Toten, Gesamtschäden, was die Infrastruktur, aber auch die Verluste in der Landwirtschaft und ähnliches angeht, gegeben. Ebenso wenig ist bekannt und wahrscheinlich weder den Verantwortlichen noch den vermeintlich Begünstigten klar, welche Fortschritte in Sachen Wiederaufbau tatsächlich inzwischen erreicht wurden und wo genau es noch fehlt. An manchen Orten sei wohl besser formuliert "wo es wieder fehlt", hat doch der diesjährige Regen vor allem im Departement Escuintla bereits neue Erdrutsche mit sich gebracht und die Autoritäten zum grossen Teil dieses Mal rechtzeitig dazu veranlasst, hunderte von Familien, so diese denn wollten, zu evakuieren und wieder einmal in temporären Notunterkünften unterzubringen. Doch dominieren die Teilinformationen: "in dieser oder jener Region waren soundsoviel Familien betroffen" - ohne zu benennen, wie viele Personen, Frauen, Männer, Mädchen, Jungen, Kinder, Alte dadurch Haus und Hof, ein Dach über dem Kopf, Vieh, Handwerkszeug, Küchenutensilien, Nahrungsvorräte und Saatgut, Papiere, Schulmaterial, Spielzeug oder geliebte Erinnerungsstücke verloren haben. Von Angehörigen ganz zu schweigen. Die Angabe, dass soundsoviel Prozent der Infrastruktur zerstört war, lässt offen, ob es sich um asphaltierte Strassen, Schotterpisten, Schulen, Krankenstationen, Brunnen, Wasserleitungen oder Gemeindezentren handelte. Entsprechend vage und willkürlich gestaltet sich die Ausführung von lauthals versprochenen Projekten und Vorhaben, oft an den wirklichen Interessen der meist nicht befragten Bevölkerung vorbei, müssen doch bürokratische Vorgaben auf einmal haargenau befolgt und nicht zu vergessen, gewisse Prioritäten gesetzt werden. Dass diese parteipolitischen oder auch bloss familiär-freundschaftlich-geschäftlichen Charakter durchscheinen lassen könnten, ist wohl manches Mal nicht zu verhindern. So verwundert kaum das Resümee von Marcel Arévalo, Mitarbeiter der Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (FLACSO) in der Zeitschrift "Diálogo": Bei der Untersuchung der Ursprünge des Risikos und der Möglichkeiten angesichts von Katastrophen in Guatemala steche trotz der neuen Visionen, diesen zu begegnen, hervor, dass weiterhin die Schere zwischen den eingegangenen Verpflichtungen und deren Erfüllungen die Tragödie der Bevölkerungen prägt, die wiederum längst neuen Widrigkeiten ausgesetzt sind. Und an dem Resultat des Berichts des Menschenrechtsprokurats (PDH) im Mai, die Durchführung von Wiederaufbauausgaben würde ungleich verlaufen und es sei ein Mangel an institutioneller Koordinierung zu beobachten, hat sich auch vier Monate später nichts verändert. All diese Makel sind, nebenbei bemerkt, bereits in der akuten Nothilfephase beanstandet worden. Und selbst in Panabaj, der Gemeinde von Santiago Atitlán, Sololá, das vor einem Jahr komplett unter einer Schlammlawine begraben wurde und eine Zeitlang als Vorzeigewiederaufbaudorf galt, warten die Überlebenden immer noch auf eine neue feste Bleibe. Hier wurden 601 Familien betroffen, es ist die Rede von 300 Verschwundenen - wobei die Exhumierungen immer noch ausstehen - 23 Kinder sind durch Stan zu Waisen geworden und es gibt "reichlich Verluste in der Landwirtschaft". In der so genannten Südzone von Santiago sieht man etwa 100 Häuser aus Hohlblockstein, verlassen. Ganz in der Nähe befinden sich die provisorischen Baracken, in denen die Betroffenen zeitweilig untergebracht sind. "Typ Plastikzelt mit einem einzigen Schmuck: dem Namen der Spendenorganisation", so eine Zeitungsmeldung. Eine Kirche hatte ein Grundstück gespendet, auf dem jetzt halbfertige Häuser stehen. Die Gemeindeverwaltung begann die Bauarbeiten, vergass indes, eine Risikoanalyse zu erstellen. Diese wurde von den BürgerInnen eingefordert und hatte zum Ergebnis, dass das Areal Katastrophengefährdet und somit unbewohnbar ist. Die Kommission, der die Suche nach einem geeigneten Grundstück obliegt, hat es schwer: Seit die Entscheidung fiel, dass nun in der Zone Nord von Santiago gebaut werden solle, kostet ein Stück Land anstelle von einst 4´000 Quetzales locker 40´000. Zumindest die Koordinatorin der Wiederaufbaukommission zeigt sich zuverlässig und erwartet, das Problem "bald" gelöst zu haben. Die Gemeindeverwaltung von Santiago verfügt immerhin inzwischen über einen "Notfallplan" für die nächsten Regenfälle: Allen Schulen wurden zwei Ausgangsrouten zugewiesen, es wurden Molen gebaut, um die Gemeinden evakuieren zu können, die im Zweifelsfall über Land bestimmt nicht erreichbar sind, und "man verfügt über die ganze Struktur, damit nicht noch einmal eine solche Tragödie wie im letzten Jahr passiert". Nach oben |
Auch andernorts ist der Wiederaufbau buchstäblich auf der Strecke geblieben. So wurde die Trasse, die Quetzaltenango im westlichen Hochland mit dem Küstendepartement Retalhuleu verbindet, vom Stan beschädigt, so dass eine alternative Route in Funktion genommen wurde. Doch durch den verstärkten Verkehr und die Lastwagen, ist auch diese Strecke inzwischen dringend reparaturbedürftig. Angesichts dessen schlägt Präsident Berger vor, Loch für Loch zu flicken, denn für mehr gäbe es kein Geld. Aber er werde sich mit Verkehrsminister Eduardo Castillo zusammensetzen, um zu sehen, ob es irgendwo Fonds gäbe, die zu nutzen wären. Castillo wiederum kündigte an, den Präsidenten um Geldzuweisungen für den Bau einer neuen Strasse zu konsultieren - die Kommunikation im Kabinett sowie das Engagement der Zuständigen, sich um das Wohl der Bevölkerung zu kümmern, beeindruckt einmal mehr als Farce. Die lokale Transportvereinigung von Colomba kündigte in Bezug auf die präsidentialen und ministerialen Aussagen an, progressive Streiks in Betracht zu ziehen, um Druck auszuüben. Es könne nicht sein, dass aufgrund der Hurrikanschäden eine Ersatzstrasse in Betrieb genommen werde und die Regierung diese dann vergesse, so Marco Tulio Segura von der Vereinigung. Dabei haben die lokalen Bürgermeister des Departements bereits Erinnerungsschreiben an die entsprechenden Regierungsstellen geschickt, noch bevor die Strasse komplett kaputt war. Ähnlich in Vergessenheit geraten scheint die internationale Brücke Rodolfo Robles in Tecún Umán, San Marcos, die Guatemala über den Fluss Suchiate mit Mexiko verbindet. Diese war vom Stan mitgerissen worden und ansatzweise repariert. Dennoch ist darauf kein Fahrzeugverkehr erlaubt. Angeblich blockieren die Wohnhäuser von 30 Familien am Rand der Brücke die Bauarbeiten, denn sie verhinderten den Zugang für die notwendigen schweren Maschinen. Doch erst kürzlich hatten die Regierungen beider Länder das Thema aufgegriffen und die Umsiedlung der Familien für erforderlich erklärt. Nicht auszuschliessen ist, dass sich beide Regierungen Widerstand der Betroffenen und somit eine Verlängerung ihres "Nichtstunkönnen" erhofften. Diese erklärten sich auf Anfrage jedoch gleich einverstanden umzuziehen. An den Autoritäten liegt es nun, ein geeignetes Gelände für sie zu finden. Bereits jetzt berichtet der Vizepräsident der Handelskammer, dass die verkehrsuntüchtige Brücke Verluste in Höhe von 36 Mio. Quetzales für mehr als 7´000 HändlerInnen mit sich gebracht habe. Von den im Schnitt 3´500 Quetzales an Einnahmen hätte jede/r registrierte Geschäftstreibende lediglich 20% erhalten. Konsequenz dessen ist eine gestiegene Arbeitslosigkeit an der Grenze, zudem hätten viele der Zollbüros ihr Personal reduziert. Die Initiative Acción Ciudadana (AC), die sich das Monitoring der regierungsstaatlichen Arbeit zur Aufgabe gemacht hat, erinnerte die für den Wiederaufbau zuständigen Stellen erneut daran, ihrer eingegangenen Verpflichtung nachzukommen und der Öffentlichkeit mehr und vor allem regelmässige Informationen zur Verfügung zu stellen, um die Transparenz in der Ausführung der Projekte zu gewährleisten. Unterdessen haben sich jedoch die Prioritäten der Regierung und der an den sich nähernden Präsidentschaftswahlen interessierten PolitikerInnen deutlich verschoben. Berichtet wird bloss auf Aufforderung und wenn überhaupt nur über "schon" fertig gestellte Projekte. Viele Gemeinden, die auf irgendeiner Liste von dringenden Vorhaben standen, sind allein gelassen - die Regierung scheint das Konzept der propagierten Dezentralisierung gerne einseitig auszulegen, nämlich in Form der Delegierung von ihr obliegenden und übernommenen Aufgaben, in den meisten der Fälle aber ohne die dazugehörige Überweisung von finanziellen Mitteln und dem technischem Know-how. Und das Vorhaben, das offenbar weniger dem inhärenten Interesse der Regierung entsprang, sondern als ein weiteres Zugeständnis an internationale Gelder abgebucht werden kann, nämlich, die Wiederherstellung des sozialen Gefüges, ist zum grossen Teil zivilgesellschaftlichen Initiativen überlassen, deren Arbeit entweder auf Freiwilligenbasis beruht oder als Projekt der internationalen Zusammenarbeit finanziert wird. |
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