Das Recht zu wissen
Fijáte 432 vom 08. April 2009, Artikel 7, Seite 6
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Das Recht zu wissen
Guatemala, 03. April. "Das Recht zu Wissen" ist der Titel des ersten Berichtes, den das Menschenrechtsprokurat (PDH) am 24. März der Öffentlichkeit vorlegte und in dem die bisher erreichten Ergebnisse der seit 2006 unternommenen Untersuchungen des Archivs der Nationalpolizei (PN) dargestellt werden. Dieses war zufällig im Juli 2005 zunächst in den Kellergewölben des Kommissariats in der hauptstädtischen Zone 6 und daraufhin in einigen weiteren Polizeidienststellen gefunden und schliess- lich in der Hauptstadt zusammengetragen worden. Es umfasst rund 80 Mio. oder auch acht laufende Kilometer Dokumente aus den Jahren 1882 bis 1997, dem Zeitpunkt, als die Nationalpolizei im Rahmen des Friedensprozesses aufgelöst und die Institution der Zivilen Nationalpolizei (PNC) gegründet wurde (siehe ¡Fijáte! 340). Längst war bekannt, dass die Nationalpolizei faktisch dem Militär untergeordnet war. In den nun veröffentlichten Akten werden nicht nur die Befehlshierarchien und Strukturen der Polizei ersichtlich, sondern es gibt, mehr als zu Beginn vermutet, umfangreiche Dokumentationen mit namentlicher Nennung der Durchführenden über den Umgang und Verbleib von damals politisch Verfolgten. - Etwa 7,8 Millionen Dokumente aus den Jahren 1975 bis 1985, der brutalste Zeit des internen bewaffneten Konflikts, sind mittlerweile digitalisiert worden und auf diesem Wege zugänglich. - So wurden tatsächlich rund 100 Unterlagen gefunden, die die Grundlage für die zwei Anfang März verhafteten mutmasslichen Täter bilden, die 25 Jahre und 15 Tage nach der Tat neben zwei anderen noch nicht gefassten Personen für das Verschwinden des damals 27jährigen Studenten und Gewerkschaftlers Édgar Fernando García am 18. Februar 1984 verantwortlich gemacht werden. Das Verbrechen an García, der mit der heutigen Abgeordneten der Partei Encuentro por Guatemala (EG) Nineth Montenegro verheiratet war, gehörte zu den paradigmatischen und international bekannten Fällen des staatlich angeordneten Verschwindenlassens in Guatemala. Für Montenegro war es der Anlass, mit anderen Familienangehörigen von Verschwundenen im Juni 1984 die Menschenrechtsorganisation Gruppe gegenseitige Hilfe (GAM) zu gründen. Die nun verhafteten ehemaligen Angehörigen der Nationalpolizei, Héctor Roderico Ramírez Ríos (52) und, einen Tag darauf, der heute 48jährige Abraham Lancerio Gómez Cálix warten nun auf ihren Prozess; angeklagt sind sie beide der Geiselnahme und Entführung, der illegalen Festnahme und des Autoritätsmissbrauchs. Bislang werden sie nicht des Verbrechens des erzwungenen Verschwindens und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit belangt. Widersprüchlich sind diesbezüglich die Aussagen des zuständigen Richters hinsichtlich der Tatsache, dass diese Verbrechen erst 1996 in den Strafkatalog gesetzlich aufgenommen, dieser aber nicht rückwirkend anwendbar sei. Gleichzeitig spricht laut seiner eigenen Darstellung für die Gültigkeit des Gesetzes in diesem Fall, dass die Familienangehörigen seit dem Verschwinden die Gerichtsinstanzen ersucht haben, in dem Fall zu ermitteln und die PDH im Fall García 1996 die Untersuchungen aufgenommen habe. Der Angeklagte Ramírez Ríos ist seit 28 Jahren im Polizeidienst und in den letzten Jahren bis zu seiner Verhaftung tätig gewesen als Kommissariatschef in Quetzaltenango. Über Gómez ist bislang nur bekannt, dass er nicht mehr bei der Polizei gewesen ist. Der Staatsanwaltschaft war auf eigenen Antrag hin bereits Anfang März vom Menschenrechtsprokurat die im Archiv der Nationalpolizei lokalisierte Dokumentation über das Verschwinden von StudierendenführerInnen in den Jahren 1978 bis 1980 unter der Regierung von Ex-Präsident Romeo Lucas García überreicht worden. Die Öffnung des Archivs für Opfer, Familienangehörige, ForscherInnen und JournalistInnen am 24. März begann mit einer Ehrung von 746 verschwundenen Frauen während des Konflikts durch das Setzen einer Pflanze im städtischen Rosengarten in der Nähe des Archivs von Präsidentengattin Sandra Torres. Am späteren Nachmittag übergab Menschenrechtsprokurator Sergio Morales Exemplare des Berichts an diverse hohe Funktionsträger, an erster Stelle Vizepräsident Rafael Espada. Anwesend bei der Präsentation von Auszügen aus dem Bericht waren rund 800 Personen, darunter VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen und Angehörige von Opfern, die vor den Anwesenden Zeugnis ablegten über den von ihnen erlebten Horror. Nach oben |
Bereits im Vorfeld der Veranstaltung sprach sich Ombudsmann Morales dafür aus, ein Büro der Staatsanwaltschaft in der Nähe des Archivs der Nationalpolizei zu eröffnen, damit diejenigen Personen, die in den historischen Dokumenten Hinweise auf Menschenrechtsverletzungen finden, diese gleich zur Anzeige bringen können. Auch berichtete er von Morddrohungen gegen sich und gegen den Anwalt der PDH, der sich mit dem Fall García beschäftigt und wenige Tage nach den Festnahmen vor seinem Haus von Unbekannten zusammengeschlagen worden war. Zudem seien, so Morales, im Umkreis des Archivs verdächtige Fahrzeuge beobachtete worden, die die im Archiv Arbeitenden fotografierten. Nur 11 Stunden nach der Präsentation des Berichts wird die Anwältin Gladys Monterroso Velásquez (53), Ehefrau von Sergio Morales und aktives Mitglied der Partei Encuentro por Guatemala (EG) entführt und gefoltert. Sie wurde am Mittwoch morgen von drei maskierten Unbekannten beim Verlassen eines Restaurants in ein Auto gezerrt und 13 Stunden in einem Haus in der randstädtischen Zone 18 festgehalten; ihr wurden Drogen verabreicht, sie wurde geschlagen, mit einer Pistole bedroht und auf ihrem Körper wurden brennende Zigaretten ausgedrückt. Schliesslich wurde sie drogenbetäubt am Rande eines Strassengrabens in einem Wohnviertel der Zone 18 freigelassen. Nach eigenen Berichten hielt ein Passant sie für eine Betrunkene und steckte ihr ein Geldstück zu, das sie dazu nutzte, von einem öffentlichen Telefon aus Hilfe zu rufen. Zahlreiche Solidaritätsbekundungen erreichten Monterroso in der Privatklinik, in der sie sich erholt, derweil Helen Mack von der Myrna-Mack-Stiftung ebenfalls die Tat verurteilt, jedoch davor warnt, Schlüsse hinsichtlich der Hintergründe der Entführung zu schliessen, bevor die Staatsanwaltschaft das Verbrechen nicht gründlich untersucht habe. Auch international wird die guatemaltekische Regierung dazu aufgefordert, die Ermittlung sorgfältig zu führen. Morales bat derweil die US-amerikanische Regierung, ein Team zusammenzustellen, um den Fall der Entführung seiner Frau und der MitarbeiterInnen der PDH aufzuklären, da er nicht ausschliesse, dass "einige Mächte von Seiten der Regierung" hinter den Taten stecken. Im Internet unter http://entremosleaguate.net ist eine Sendung, die "Episode 39 - Memoria Histórica", der Sendereihe "Entremosle a Guate" vom guatemaltekischen Journalisten Harris Whitbeck zu sehen, in dem der erste Teil einen Einblick in das PN-Archiv gewährt. Auch der deutsche Filmemacher Uli Stelzner (u.a. "Die Zivilisationsbringer", "Testamento", "Angriff auf den Traum") beschäftigt sich mit dem Archiv der Nationalpolizei und hat kürzlich die Dreharbeiten zu seinem in diesem spielenden Dokumentarfilm "Die Insel" beendet. Der Bericht des Menschenrechtsprokurats "Das Recht zu wissen" ist auf Spanisch im PDF-Format bei der ¡Fijáte!-Redaktion erhältlich. |
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