Die gegenwärtige Situation der sozialen Sicherung
Fijáte 197 vom 3. November 1999, Artikel 1, Seite 1
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Die gegenwärtige Situation der sozialen Sicherung
Etwa fünfzig Prozent der guatemaltekischen Bevölkerung erhält keine Gesundheitsversorgung und nur 16 Prozent der Gesamtbevölkerung ist in der Sozialversicherung. In den ländlichen Gegenden ist der Staat teilweise überhaupt nicht präsent. Ein Zustand, der nach Veränderung schreit. Wie kann unter diesen Umständen ein Solidarprinzip definiert werden? Zwei aktuelle Bezugspunkte zeigen den Stand der Diskussion: Einerseits befindet sich ein Gesetz für die Reform der Sozialversicherung, dem Instituto Guatemalteco de Seguridad Social (IGSS) in Vorbereitung. Andererseits hat das Gesundheitsministerium für nicht Versicherte ein kommunales Basisgesundheitssystem (Sistema Integral de Asistencia de Salud) eingeführt, welches aber reformbedürftig erscheint. Die Reformdiskussion der sozialen Sicherung bewegt sich in der Öffentlichkeit um den Streitpunkt "Privatisierung: ja oder nein". Die Ausweitung der sozialen Sicherung auf den informellen Sektor und später auf ländliche Bevölkerung ist dabei ins Hintertreffen geraten. Der folgende Artikel von Albrecht Schwarzkopf ist in der Nr. 3/99 der Zeitschrift "presente" der Christl. Initiative Romero CIR (Münster) erschienen. Die gegenwärtige Situation der sozialen SicherungMaria Paz Cainzos ist Krankenschwester und Mitglied in der von der CIR unterstützten Frauengruppe Asociación de Mujeres Ixquik in der Nordprovinz El Petén. "Wir sind sehr dafür, dass die Sozialversicherung IGSS auch in unserem Departement eingeführt wird, damit das Gesundheitssystem hier eine breitere Basis erhält und die Versorgungsstufen schwerpunktmässig nicht nur auf kommunaler Ebene bleiben. Mit den Frauengruppen, mit denen wir in 100 Gemeinden der Region zusammenarbeiten sind wir sehr an dem Basisgesundheitssystem SIAS interessiert, aber wir befürchten, dass dahinter eine Privatisierungsabsicht besteht und dass einige Aspekte der SIAS noch genauer durchdacht werden müssen." In der Aussage von Maria Paz kommt zum Ausdruck, dass das Reformpotential hinsichtlich der sozialen Sicherung deutlich grösser ist, als die aktuelle Diskussion glauben macht. In Guatemala wird die Diskussion der Sozialversicherung IGSS aufgrund der Interessenlage in der Hauptstadt sehr eingegrenzt geführt, ohne die Chancen für einen nachhaltigeren Aufbruch zu ergreifen, so wie dies in den Friedensverträgen vorgesehen ist. Vor allem wecken die Finanzvolumina des IGSS Begehrlichkeiten. Es wird argumentiert, dass die Finanzen der sozialen Sicherung nur dann in Zukunft sicher sind, wenn das IGSS gesundet wird. Verschwiegen wird dabei, dass der Staat als gesetzlich verpflichteter Beitragszahler aufgrund von nicht geleisteten Beiträgen riesige Schulden gegenüber dem IGSS angesammelt hat. Darüber hinaus hat der Staat in der Vergangenheit immer wieder Anleihen beim IGSS aufgenommen, diese allerdings ohne ausreichenden Inflationsausgleich unterverzinst berechnet. Der Staat ist auf Kosten der Sozialversicherung so an billige Kredite gekommen. Von dieser Seite her der Privatisierung des IGSS das Wort zu reden ist grundlos. Richtig wäre in der Tat, dass der Spielraum für Wiederanlagemöglichkeiten für das IGSS ausgeweitet würde, damit die in Zukunft zunehmenden Anwartschaften eine bessere finanzielle Absicherung haben. Soziale Sicherung und GesundheitsbereichDer Arzt Dr. Juan Carlos Verdugo von dem CIR-Partner ASECSA (Asociacion de Servicios Comunitarios de Salud) erklärt, dass bei den Gesundheitsdienstleistungen das IGSS 16 Prozent der Gesamtbevölkerung, das Gesundheitsministerium (MSPAS) 24 Prozent und NGO's und Privatanbieter 14 Prozent abdecken. Über 45 Prozent der Bevölkerung bleiben aussen vor. Juan Verdugo ist wichtig, dass auch qualititive Elemente in die Betrachtung einbezogen werden: "Wenn man die hohe Unzufriedenheit über die Dienstleistungen des IGSS und des MSPAS betrachtet, dann kann es nur eine Minderheit sein, die mit Überzeugung für eine soziale Sicherung nach Solidaritätsprinzipien eintreten kann. Es ist nicht nur eine reine Imagefrage, sondern es kann auch mit Fakten belegt werden, dass es zu hohe Wartezeiten in den Krankenhäusern gibt, dass die Verweildauer zu hoch ist, dass es eine nur geringe Bettenbelegung (60 Prozent) gibt, dass das Gesundheitsministerium stark zentralisiert ist. Es gibt kaum eine Koordination zwischen den Gesundheitsangeboten der Sozialversicherung und den Gesundheitsämtern. Je weiter man in ländliche Gebiete kommt, desto geringer werden die Möglichkeiten, Krankheiten zu kurieren. Fehlende institutionelle Reformen begünstigen Privatisierungsbestrebungen, zumindest liefern sie interessierten Kreisen Argumente." Nach oben |
Die Forderung nach einer Qualitätsverbesserung ist nicht aus der Luft gegriffen. In der guatemaltekischen Südküstenregion Escuintla sind die Gesundheitsleistungen auf 47 Prozent der Erwerbsbevölkerung ausgeweitet worden. Insbesondere sind Teams für die Basisebene der Gemeindedegesundheit (Erste Hilfe, PromotorInnen, Hebammen) und darauf aufbauend weitere Versorgungsniveaus des Gesundheitsbereichs gebildet worden. Nicht nur, dass die Basisversorgung sich verbessert hat, sondern es gab sogar eine bessere Kostensituation: Aufgrund der Verbesserung und Qualifizierung der Basisversorgung sind die Kosten pro Patient gesenkt worden und ebenso die am häufigsten auftretenden Sterblichkeitsursachen (Durchfallerkrankungen, Krankheiten der Atemwege, die Cholera sowie die Mutter-Kind-Sterblichkeit). Gemeinde- und BasisversorgungBesondere Erwähnung in der Beispielregion Escuintla verdienen die lokalen Gesundheitssysteme (Sistema Integral de Asistencia de Salud, SIAS). Die SIAS sind an der Südküste aus unterschiedlichen Gründen erfolgreich gewesen: (i) sie funktionieren nicht autonom, sondern sind einer Supervision und Fortbildung des Gesundheitsamtes unterstellt und (ii) sie sind eingebettet in ein hierarchisches Gesundheitssystem des IGSS und des MSPAS, so dass die gravierenderen Fälle an die nächsthöhere Versorgungsinstanz (z.B. ins Krankenhaus) überwiesen werden. Escuintla ist ein positives Beispiel, das zeigt, dass mit bestehenden Mitteln eine spürbare Verbesserung der Gesundheitsversorgung bei Ausweitung des Kreises sowohl der Versicherten als auch der NutzniesserInnen der gesundheitlichen Dienstleistungen erreicht werden kann. Dieses Modell zeigt, dass es möglich ist, Teile des informellen Sektors mit in die soziale Sicherung aufzunehmen, allerdings nicht mit einem Beitrag von 17 Prozent der Löhne, sondern beginnend mit einem bescheidenen Beitrag von 2,5 Prozent, wie dies ein Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Guatemala durchrechnet. Escuintla demonstriert das vorhandene Veränderungspotential im Gesundheitswesen, insbesondere, wenn die Basisgesundheitsdienstleistungen, die beim IGSS in Escuintla nur 10 Prozent aller Kosten des regionalen Haushalts ausmachen, in ein System verschiedener Ebenen der Versorgung eingebettet sind. Die zwei PoleEscuintla hat eine wesentlich dichtere soziale und wirschaftliche Infrastruktur als der Petén. Somit hat sich Maria Paz mit anderen Problemen herumzuschlagen. Die Diskussion um die Reform der sozialen Sicherung ist gegenwärtig auf die künftige rechtliche Natur des IGSS verengt. Es wäre von Vorteil, wenn eine Ausweitung der Sozialversicherung auch auf niedrige Einkommensschichten zustande käme, so wie es in Escuintla geschehen ist. Dies würde gesellschaftlich auch den Solidaritätsgedanken stärken. Dies ist nur ein Ansatzpunkt. Der andere Angelpunkt ist, die lokalen Basisgesundheitssysteme SIAS auszudehnen, sie mit Personal, Finanzen und Medikamenten auszustatten und einer leistungsfähigen Supervision zu unterstellen. Zunehmend häufig funktionieren die SIAS in Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen. Auch durch die SIAS wird das Bewusstsein für Vorsorge, soziale Sicherung und Solidarität gestärkt. Vielleicht kann es sogar in einer fernen Zukunft ein Zusammenwachsen von IGSS und SIAS geben. |
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