Wahlfilz
Fijáte 195 vom 6. Okt. 1999, Artikel 1, Seite 1
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Wahlfilz
Viereinhalb Wochen fehlen bis zu den Wahlen. In "Notizen aus dem Wahlkampf" haben wir bisher versucht, ein Stimmungsbild aus der Wahlkampagne zu vermitteln. Es fällt jedoch auf, dass im Moment fast jede Meldung, die wir im "fíjate" veröffentlichen, indirekt mit dem Wahlkampf zu tun hat, d.h., dass den PolitikerInnen jedes Thema recht ist, um daran ihre Kampagne aufzuhängen. Die folgende Analyse von Edgar Gutiérrez, in der Zeitung "El Periódico" erschienen, ist der Versuch, die Verflechtung von Wahlkampf und täglichem politischen Geschehen aufzeigen. Die Wahlkampagne folgt ihrem unaufhaltsamen Weg Richtung Polarisierung der verschiedenen Parteien. Die Parole lautet: "Den Gegner vernichten, egal mit welchen Mitteln. Hauptsache, er gewinnt nicht." Der tatsächliche Verlierer ist jedoch das gesamte politische System, welches seine letzten Reserven von Regierbarkeit aufbraucht. Verschiedene Faktoren verschwören sich gegen die politische Stabilität: Einerseits das Fehlen politischer Führungskräfte, anderseits die Unfähigkeit, eine strukturierte Wahldebatte zu führen. Die Republikanische Front Guatemalas (FRG) z.B., weigert sich, über ihre Mitverantwortung bei den Terrorakten vergangener Regierungen zu sprechen. Die Partei des Nationalen Fortschritts (PAN) ihrerseits vermeidet die Diskussion über das Fiasko ihrer Wirtschaftspolitik. Verschiedene Sektoren haben jedoch begonnen, die Krise zu thematisieren und ihre Forderungen zu präsentieren. Als erste protestierten die Angestellten des Transportwesens und der Landwirtschaft. Der internationale Währungsfonds (IWF) seinerseits entblösst die ökonomischen Schwächen und spricht ohne Umschweife von den Konsequenzen, welche für die Bevölkerung ja bereits zu spüren sind. Das Selbszerstörungspotential der politischen Klasse scheint keine Grenzen zu haben. Selten in einer Wahlkampagne konnte man so deutlich wie diesmal die Spaltung zwischen Ethik und Politik ausmachen. Die Folge davon ist das Abschrecken der WählerInnen, überhaupt an die Urne zu gehen. Es ist unerhört (unabhängig von der Tatsache, dass wir uns in einer Wahlkampagne befinden), dass ein Politiker (Alfonso Portillo, FRG) der Ermordung zweier Personen verdächtigt wird, ohne dass dies seine moralische Autoriät beeinträchtigt oder er vom politischen Geschehen überhaupt, ausgeschlossen wird. Die Übertragung von moralischen "Antiwerten" in einer Gesellschaft, die von Straflosigkeit regiert wird, sowie die quasi Privatisierung der Justiz, legitimieren weitere Gewalttaten und Respektlosigkeiten. Verschiedene BefragerInnen des Meinungsforschungsinstitutes Borge & Asociados haben im Landesinnern Personen interviewt, die Alfonso Portillo im Zusammenhang mit dem Mordfall Chilpancingo verteidigen. Das alte Gefühl von Chauvinismus und Anti-Mexikanismus wurde durch diese Geschichte wiederbelebt. Trotz der Bemühungen der Medien und der Regierungspartei, die Geschichte wieder aufzurollen, gibt es bis heute noch keinen vollständigen Bericht mit Zeug- Innenaussagen und wissenschaftlichen Beweisen, der nachweist, was effektiv an diesem 23. August 1982 in Chilpancingo geschehen ist. Das Dilemma für die WählerInnen ist gross. Sie haben das Vertrauen in die Wirtschaftsführung der PAN verloren, deren Auswirkungen für die ganze Bevölkerung zu spüren ist. Daneben verstärkt sich das Image der FRG als Partei mit dunkler Vergangenheit und wird von den Medien aufgenommen und verbreitet, womit diese das ihre zur Polarisierung beitragen. Neben diesen zwei Parteien, welche die alte und die neue Rechte vertreten, versucht Francisco Bianchi, der Kandidat der Accion Reconciliadora Democrática (ARDE), seine Popularität zu erhöhen und sich die Stimmer der evangelischen Kirchen zu sichern. Die gespaltene Linke mit der Allianz Neue Nation (ANN) und der Demokratischen Front Neues Guatemala (FDNG) scheint ihr eigenes Rennen zu bestreiten. Dabei geht es nicht um die Regierungsmacht, sondern um die gegenseitige Zerstörung. Im Landesinnern ist eine steigende Sympathie der sozialen Bewegung, vor allem der Mayaorganisationen, für den FDNG auszumachen. Falls sich nicht aus den Parteien, die sich als dritte Kraft bezeichnen, noch eine Alternative ergibt, deutet alles darauf hin, dass die Wahl im "kleinen Kreis" stattfinden wird: Die jeweiligen Parteien können mit den Stimmen ihrer disziplinierten Mitglieder rechnen sowie mit der Unterstützung derjenigen, die schon zu Beginn der Kampagne ihre Entscheidung gefällt haben. Passiert das, und wiederholt sich das Muster von 1995 (kein absolutes Mehr im ersten Durchgang), werden die gesicherten, militanten Stimmen der FRG in einer zweiten Wahlrunde entscheidend sein. Ist erst einmal die jetztige Polarisierung erreicht, ist das fragile Zusammenleben auf lokaler Ebene in Gefahr. Die ehemaligen Zivilpatrouillen und Militärkommissäre würden durch einen eventuellen Sieg der FRG ermutigt. Das heisst, wir würden zurückgeworfen in die alten Konfrontationen während des Krieges. Dies würde den Friedensprozess noch mehr gefährden und gäbe der Straffreiheit Nahrung. Nach oben |
Die provozierende Aggression der Ex- PAC von Xococ in Zusammenhang mit dem Prozess wegen des Massakers von Río Negro sowie die Fälle von Lynchjustiz in Quiché, Huehuetenango, Petén und Alta Verapaz verbreiten ein Klima der Nichtregierbarkeit, welche durch die verschiedenen Parteien gefördert wird, indem sie solche Ereignisse anheizen. Zur politischen Zersplitterung kommt die in Vergessenheit geratene Demokratie: Vor einigen Tagen haben sich die Wahlkarawanen der FRG und der PAN auf der Avenida Petapa (einer der Hauptverkehrsadern der Hauptstadt) gekreuzt. Schon von weitem haben sie sich gegenseitig beschimpft, die Chauffeure hielten die Fahrzeuge an, die SympathisantInnen der jeweiligen Parteien stiegen aus und die Sache endete in einer Schlägerei. In kürzester Zeit versammelte sich eine Menge Zuschauer- Innen und der einheitliche Kommentar lautete: "Schaut, genau deshalb wählen wir weder die einen noch die andern." Die regelrechte Wahlschlacht, zu der die Kampagne verkommen ist, trägt zur bereits weitverbreiteten Nichtrespektierung der Verfassung bei. Das Verhalten des Staatsanwaltes Fernando Mendizabal ist ein Beispiel dafür: Noch bevor die Ausgrabungen begonnen haben, vertrat er die Meinung, die in den Installationen der Militärpolizei (PMA) gefundenen Knochen stammten von Hundeskeletten. Wenige Wochen später, immer noch ohne eine einzige Ausgrabung gemacht zu haben, änderte er seine Meinung und sagte, es handle sich um die Überreste von fünftausend Personen, die im Jahre 1982 umgebracht wurden. Auch der Fall des Weihbischofs Juan Gerardi sowie der "Fall Mincho", werden zu wahlpolitischen Zwecken missbraucht. Am Fall Gerardi werde versucht, im Ausland das Bild eines erfolgreich verlaufenden Friedensprozesses darzustellen, ist der Septemberausgabe der mexikanischen Zeitung Letras Libres zu entnehmen. Derweil haben die ÖkonomistInnen begonnen, sich gegen die unübersehbare wirtschaftliche Krise auszusprechen und vor Konflikten mit einzelnen Berufssektoren gewarnt. Die Angestellten des Transportwesens waren die ersten, die sich darüber beklagten, dass sie in Dollars bezahlen müssten und in Quetzales bezahlt würden. Der Präsident der Handelskammer, sich selber zum Sprecher des Landwirtschaftsektors machend, hat sich über die finanziellen Engpässe und eine mögliche Steuererhöhung beklagt und fordert die Reduzierung der öffentlichen Ausgaben. Der Internationale Währungsfond (IWF) als zusätzlicher Spieler auf die politische Bühne getreten. Das interne Memorandum, das letzte Woche von der Zeitung "El Periodico" publiziert wurde, und das bisher als geheim gehandelt wurde, kommt in Wirklichkeit mit einigen Monaten Verspätung an die Öffentlichkeit. Eine notwendige Debatte über diese Analyse, und zwar bevor eine politischen Polarisierung stattgefunden hat, hätte erlaubt, die Verteilung der sozialen und politischen Kosten der vom IWF empfohlenen Massnahmen transparent zu machen: Erhöhung der Zinsen, drastische Reduzierung der öffentlichen Ausgaben und Devaluation, zu einer Zeit, in der die dualistische Ökonomie völlig unproportional ist: Rund 96% der Bevölkerung ist ausserhalb der Reichweite des Dollars. Heute ist es unmöglich, diese Diskussion und viele andere, die dringend anstehen, unabhängig von Wahlpolitischen Interessen zu diskutieren. |
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