"Eine auferzwungene Furcht, die mich verfolgt"
Fijáte 199 vom 1. Dezember 1999, Artikel 1, Seite 1
Original-PDF 199 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9 - 10 --- Nächstes Fijáte
"Eine auferzwungene Furcht, die mich verfolgt"
Eigentlich wollten wir an dieser Stelle ein Interview abdrucken, das Erich Hackl mit Humberto Ak'abal geführt hatte, über die Wahlen, seine Position als Dichter und seine Vision von Guatemala. Als wir um das Copyright anfragten, bot uns Erich Hackl etwas an, das "noch viel besser sei". Es ist ein Text, der während Ak'abals letzter Österreichreise entstanden ist, und den wir den "fíjate"-Leserinnen und -Lesern auf keinen Fall vorenthalten möchten. Der K'iche'-Dichter Huberto Ak'abal, Jahrgang 1952, lebt in seinem Geburtsort Momostenango. 1990 erschien sein erster Gedichtband, "El Animalero"; der Verleger weigerte sich, neben den spanischen Versionen die Originalgedichte in K'iche' abzudrucken. Mittlerweile liegen Ak'abals knappe Verse in einem Dutzend Bücher und in etlichen Übersetzungen vor. Ak'abal romantisiert die indigenen Gemeinschaften nicht, aber er schildert ihren Alltag mit grosser Zärtlichkeit. Er bekennt sich zu seiner Ethnie und zu seiner Sprache und es gelingt ihm, der indigenen Bevölkerung Guatemalas die geraubte Würde zurückzugeben. Der folgende Text wurde von Erich Hackl übersetzt und ist bis jetzt noch unveröffentlicht. Das Jahrtausend geht zu Ende, und mir kommt vor, ich kann es nicht bezeugen. Weil meine Eltern arm waren, hatte ich keine Kindheit. Und der Krieg in Guatemala hat mir die Jugend geraubt. Ein neues Jahrtausend wartet hinter dem Spiegel, vor dem ich stehe und in dem ich mich betrachte. Der Spiegel zeigt auch das, was in mir drinnen ist: Erinnerungen, Bruchstücke meines Lebens. Das ist keine Biografie, das sind nur Blitze, die über mir zucken, während ich diese Zeilen schreibe. Mit sechs Jahren begann ich Holz zu tragen, um meinem Vater zu helfen. Ich erinnere mich an den Durst, der mir die Kehle verbrannte. Drei oder vier Scheiter waren meine Last, und dieses Gewicht machte mir sehr früh die Armut deutlich, in der wir lebten. Die Schule besuchte ich nur ein paar Jahre lang. Mein Vater sagte, es sei wichtig, daß ich lerne, meinen Namen zu schreiben, für später, damit diejenigen, die uns Indios geringschätzen, sich nicht über mich lustig machen. 1960, als ich acht war, schaute ich mir ein paar Bücher an, die unser Lehrer im Klassenzimmer vergessen hatte. Unter ihnen war eines, dessen Deckel eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich ausübten. Vorne waren, auf vergilbtem Untergrund, zwei Kinder abgebildet, der Buchrücken war ziegelfarben, lehmfarben. Ich begann, in dem Buch zu blättern. Es enthielt viele Abbildungen. Ich las die ersten Seiten, sie gefielen mir so gut, daß ich das Buch, ohne lange nachzudenken, einfach stahl. So unternahm ich meine erste große Reise mit der Lebensbeschreibung des deutschen Komponisten Johann Sebastian Bach. Ich litt tausend Qualen bei meinem Bemühen, das Buch gut versteckt zu halten. Wenn es mein Vater gefunden hätte, wäre ich von ihm sicher bestraft worden. Auch der Lehrer wußte nicht, daß ich es war, der ihm das Buch gestohlen hatte. Mit zwölf Jahren ging ich von der Schule ab. Von da an gleicht alles, was ich an Bildung besitze, der Erfahrung, die ein Baum in seinem Leben erworben hat. Im Oktober 1964 packte ich zwei Hemden und zwei Hosen und verabschiedete mich von meiner Mutter. Ich fuhr in die Hauptstadt, zu einem Mann, den mein Vater gebeten hatte, mir Arbeit zu verschaffen. Ich verkaufte auf der Straße Süßigkeiten und Kaugummi. Wenige Tage nach meiner Ankunft entdeckte ich eine Buchhandlung, die La Cadena de Oro hieß, "Die Goldkette". Abend für Abend stand ich davor und starrte durch die Auslage, auf die Bücher. Da war eines, das meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Auf dem Umschlag war ein furchterregendes Gesicht abgebildet. Ein Gesicht, das im Begriff war zu zerbröckeln oder zu verfaulen, und ich fragte mich, wovon dieses Buch wohl handelte. Ich vermutete, daß es Geschichten von Irren, von Toten oder von Hexenmeistern bergen würde. Drei oder vier Monate vergingen, ehe ich es wagte, nach dem Preis zu fragen. Zwei Quetzales fünfzig, sagte der Buchhändler. Mit viel Mühe gelang es mir, das Geld zusammenzubringen, und endlich konnte ich das Buch kaufen. Oscar Wilde und "Das Bildnis des Dorian Gray" führten mich an den nächsten Tagen durch ihre Welt. In der "Goldkette" kaufte ich auch Bücher von Dostojewski und von Stefan Zweig. Die Lektüre dieser Bücher, nebst anderen, über die ich bei anderer Gelegenheit berichtet habe, nährten mein Unterbewußtsein. Vielleicht deshalb träumte mir eines Nachts, daß ich ein Buch geschrieben hatte. Nach dem Erwachen beschloß ich, den Traum in die Wirklichkeit umzusetzen. Ich schrieb Verse auf Blätter und nähte die Blätter mit der Hand zusammen. Das war mein "Buch". Ich trug es ständig mit mir herum, bis ich es irgendwo verlor oder vergaß. Damals lief ein Gerücht von Mund zu Mund. Draußen auf dem Land, hieß es, gebe es bulla, also Lärm, Radau. So sagten die Leute, wenn sie sich auf den Beginn des Krieges in Guatemala bezogen. Ich war nicht lange in der Stadt. 1965 kehrte ich in mein Dorf zurück. Dort fing ich an, gemeinsam mit meinem Vater Stoffe aus Schafwolle zu weben, die wir dann in der Hauptstadt verkauften. Sieben Jahre später starb mein Vater. Ich machte die Arbeit allein weiter, um meine Mutter und meine kleinen Geschwister zu erhalten. Die Unsitte der Zwangsrekrutierung breitete sich immer mehr aus. Ich wurde nicht zum Militärdienst eingezogen, weil ich an meinem rechten Bein behindert bin. Obwohl mein Hinken augenfällig war, mußte ich mich jeden Augenblick lang bei der Kommandantur melden, und jedes Mal war ich gezwungen, die Hose runterzulassen, um meine Behinderung nachzuweisen. Ich litt sehr unter dieser Demütigung, fühlte mich ohnmächtig angesichts der Willkür der Militärs. Wenn ich in die Stadt fuhr, am Abend vor der Abreise, war der Blick meiner Mutter wie ein Gebet, und manchmal deutete ich ihn wie ein letztes Abschiednehmen... Vor Tagesanbruch begleitete sie mich ein Stück weit, wobei sie mir mit einer Fackel aus Föhrenharz leuchtete. Ich trug ein Bündel auf dem Rücken, und wenn ich die Brücke überquerte, die aus zwei nebeneinandergelegten Baumstämmen bestand, blieb meine Mutter am Rand der Schlucht stehen und hielt den Atem an. Wenn ich die andere Seite erreicht hatte, schenkte sie mir ihre letzten Worte, dann stieg ich in den Bus. In Gedanken daran fährt mir ein Schauer über den Rücken. Ein falscher Schritt, und ich wäre in die Tiefe gestürzt. Nach oben |
Damals hatte der Krieg schon einen Großteil des Landes erfaßt. Die Strecke zwischen Momostenango und der Hauptstadt war schrecklich. Wie in einem Alptraum waren alle Fahrgäste einander unbekannt. Niemand redete während der Fahrt. Man wußte nicht, wer neben einem saß, und selbst wenn man es wußte, schwieg man aus Vorsicht. Schweigen bedeutete eine Minute länger zu leben. Neben der Straße spielten sich entsetzliche Szenen ab. Einmal sahen wir in einem Straßengraben zwanzig Leichen, nackt, mit tiefen Wunden, die von Machetehieben stammten. Ein andermal tauchte ein Hund aus einer Senke auf, in der Schnauze den Arm eines Menschen. Oft konnte ich nachts nicht schlafen. Tagsüber fühlte ich mich manchmal sicherer, wenn der Himmel bedeckt war, denn ich fürchtete mich vor dem eigenen Schatten. Dabei stimmt es nicht, daß mir Angst zuvor unbekannt war. Ich wußte um sie, im kulturellen Sinn. In unserer Kultur gibt es das Gespenst. Dieses Etwas, von dem wir wissen, daß es da ist, unsichtbar, mit einem lebt. Dessen Gegenwart uns einen Schauer über den Rücken jagt oder uns, mittels seiner energetischen Kräfte, Herzklopfen verursacht. Doch angesichts des realen Terrors, den wir erlebten, erbleichten unsere Gespenster. Der Krieg hinterließ Narben in den Gesichtern der Überlebenden in der Provinz. Ihr Lächeln wurde gemordet. Sie altern, weil sie den Dolch des Schmerzes im Herzen tragen. Die andern, viele, leben nur noch in unserer Erinnerung. Da war der Gedanke, weit weg zu gehen, aber wohin? Viele brachen auf, schafften es, über die Grenze in das Nachbarland zu entkommen, nach Mexiko. Wir anderen konnten das nicht, wir beschlossen, uns unter den Leuten zu verstecken. So kam es, daß ich in die Stadt zurückkehrte und Arbeiter wurde. Ich begann in Fabriken zu arbeiten. Die Behandlung dort unterscheidet sich kaum von der, die die Landarbeiter in den Latifundien an der Küste erfahren: Unrecht und Ausbeutung. Überall spürte man die Gegenwart von Terror und Haß. Der Krieg dauerte. Es war 1980. In all dieser Zeit waren die Bücher meine Freunde. Ich begriff, daß Lesen ein Akt der Demut ist. Wer ein Buch liest, ist nach der Lektüre verwandelt. Es war damals schwer zu leben. Mein Gesicht wurde rauh vom Salz der Tränen. Ich fing an, Gedichte zu schreiben, in denen ich das Bedürfnis spürte, in meine Kindheit zurückzufinden. Sie wiederzugewinnen, besser gesagt: ich versuche in jedem Text, diese Kindheit zu gewinnen, die mir versagt geblieben war. Ich versuche auch, jenes Dorf wiederzugewinnen, das ich vom einen Ende zum andern ablief, um Botendienste zu erledigen, oder aus reiner Lust am Gehen, unter der Sonne oder im Regen. Ich versuche auch, die Jahre meiner Jugend wiederzubekommen, die in der Arbeit verwelkt sind. Manchmal werde ich gefragt: Wie fühlt sich ein Mensch, der nicht Kind war? Hungrig, antworte ich. Deshalb liebe ich meine Erinnerungen. So ist die Armut, sie zwingt einen, sich schon als Kind erwachsen zu fühlen, und man versteht den Unterschied erst, wenn die Kräfte einen vor Sonnenuntergang verlassen. Ich schreibe in erster Person, denn ich bin niemand, um namens der anderen zu sprechen. Und ich bin tief bewegt, wenn meine eigenen Leute zu mir kommen, um mir zu sagen, daß sie sich in meinem bescheidenen Schaffen aufgehoben fühlen. Die Ablehnung und Diskriminierung, die ich von einigen Intellektuellen meines Landes erfahren habe, hat mich nicht entmutigt, ich habe sie als Ansporn genommen. Mir ist klar, daß meine Dichtung weder in der guatemaltekischen Literatur noch in der Welt eine Revolution darstellt. Aber ich bin auch kein Pilz, der von einem Tag auf den andern aus der Erde sprießt. Ich spreche und schreibe ohne Groll und ohne Bitterkeit. Was ich mache, mach ich mit dem Herzen. Auf Deutsch sind von Humberto Ak'abal zwei Gedichtbände erschienen: "Trommel aus Stein" (übersetzt von Erich Hakl, Unionsverlag 1998) "Blätter und Mond" (übersetzt von Juana und Tobias Burghardt, Edition 350 im Verlag der Kooperative Dürnau, ebenfalls 1998) |
Original-PDF 199 --- Voriges Fijáte --- Artikel Nr. 1 - 2 - 3 - 4 - 5 - 6 - 7 - 8 - 9 - 10 --- Nächstes Fijáte