Eine neue Solidarität in einem neuen historischen Umfeld
Fijáte 215 vom 2. Aug. 2000, Artikel 1, Seite 1
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Eine neue Solidarität in einem neuen historischen Umfeld
Über 70 AktivistInnen und VertreterInnen von Nicht-Regierungsorganisationen, Komitees und Städtepartnerschaften aus der ganzen Schweiz fanden sich in Biel am zweiten Maiwochenende anlässlich eines nationalen Seminars zum Zwecke der Debatte über Gegenwart und Zukunft der Solidarität mit Zentralamerika zusammen. Der folgende Beitrag von Sergio Ferrari (Servicio de Prensa UNITE) erschien nach dem Treffen in Biel im Correos de Centroamerica 122/00 (Übersetzung José Oggier). Das Seminar, das erste seiner Art in den letzten Jahren, wurde von der Städtepartnerschaft Biel-San Marcos und vom Zentralamerika-Sekretariat (ZAS) einberufen. Es nahmen daran VertreterInnen verschiedener Komitees und Vereinigungen teil, die sich zugunsten der mittelamerikanischen Länder und Chiapas engagieren, so zum Beispiel die Central Sanitaire Suisse (CSS), die Freiwilligen-Plattform UNITÉ oder Aiuto Medico per Centroamerica (AMCA). Ebenso waren Führungsmitglieder der Städtepartnerschaften Bern-Achuapa und Delémont-La Trinidad zugegen sowie eine Delegation des Ökumenischen Büros in München. Als speziell Geladene nahmen aus Nicaragua Julio López, Leiter der Fundación Popol-Na und Promotor der Izquierda Sandinista (politische Strömung im Frente Sandinista), und aus El Salvador der Ökonom Salvador Arias, Leiter der Fundación para el Desarrollo Económico y Social de Centroamérica (FUNDESCA), teil. Arias ist zu gleich Mitglied der Politischen Kommission des Frente Farabundo Martí (FMLN), welcher anlässlich der letzten Parlaments- und Gemeindewahlen zur stärksten politischen Kraft El Salvadors avancierte. Ein anderer Planet: Einige BemerkungenDie Reflexion über Gegenwart und Zukunft der Solidarität im Allgemeinen und der Solidarität mit Zentralamerika im Besonderen setzt gewisse grundlegende Bemerkungen vor- aus, ausgehend von der Feststellung, dass sich die gegen- wärtige Konjunktur fundamental von jener der siebziger und achtziger Jahre unterscheidet, als jene Region eine explosive Zeit durchlebte, in welche die Geburtsstunde der sich heute in einer Krise befindende Solidaritätsbewegung fiel. Dieser neue historische Kontext ist gekennzeichnet durch das Ende der "Entwicklungsexperimente" und der Regime der Doktrin der nationalen Sicherheit in Lateinamerika, welche durch kontradiktorische "demokratisch-formale" Verhand- lungsprozesse nach den Diktaturen der siebziger Jahre oder bewaffneten Konflikte verdrängt wurden. Auf internationalem Terrain ist eine tiefe Krise der "Entwicklungszusammenarbeit" wahrnehmbar - ein Rückgang an Geldern und Ideen -, die fortschreitende Schwächung der "Humanitären Hilfe" und die Neuskizzierung der neuen, globalisierenden und hegemonialisierenden Konzeption, begründet auf einer neuen militärischen Logik, welche mit der Operation "Wüstensturm" ihren Anfang nahm und im Kosovo-Krieg ihre fertigen Konturen erhielt. In diesem Bezugsrahmen erscheint es als offensichtlich, dass das hegemoniale sozio-ökonomische Modell der Gegenwart für die Mehrheit der Bevölkerung sowohl im Süden als auch im Norden als unannehmbar gilt. Es ge- nügt in Erinnerung zu rufen, dass die drei reichsten Milli- ardäre der Welt über ein Vermögen verfügen, welches dem jährlichen Einkommen der 45 ärmsten Länder entspricht, dass die Mehrheit auf unserem Planeten heute schlechter lebt als noch vor 15 Jahren und dass sich weite Regionen inhumanen Überlebensbedingungen ausgesetzt sehen. So weist die Bevölkerung Sierra Leones eine Lebenserwartung von 26 Jahren auf, jene Malawis von 29, Zambias von 30 Jahren. Trotzdem löst die Globalisierung des Kapitals und des Marktes - auf dialektische Art - andere Formen weltweiter Vernetzung aus. So im Bereich der Kommunikation, gewisser Technologien und Informationswege, welche die Möglichkeiten der alternativen Vorschläge und weltumspannenden Netze vervielfachen. Diese Dynamik wird durch eine neue Realität genährt: Der schwierigste Moment der Krise anderen Denkens und der Solidarität des Endes des Kalten Krieges ist überwunden, die durch den Fall der Berliner Mauer geprägt war, und - auf Ebene der Solidarität - in verstärktem Ausmass durch die sandinistische Wahlniederlage 1990, welche den Bruch mit der Utopie einer anderen Macht vorneweg nahm. Dieser neue "Gemütszustand", ausgelöst nach der indigen-zapatistischen Explosion zu Beginn des Jahres 1994, hat die Doktrin vom "Ende der Geschichte" Schach gesetzt und stimuliert eine neue alternative Fähigkeit zu denken und zu träumen. Im Norden wie im Süden haben sich in den letzten Jahren neue organisatorische Ausdrucksformen und soziale AkteurInnen herausgebildet. In Lateinamerika nimmt beispielsweise die indigene Bewegung bedeutenden Raum ein, von Chiapas bis ins argentinische und chilenische Patagonien, von Tagen des Aufstandes im Januar in Ecuador bis zu jenen im April in Bolivien. Die Stärke der Landlosenbewegung MST und weiterer nationaler Organisationen in Brasilien (wie zum Beispiel der Zentrale der Volksbewegungen) schält sich als neuer wichtiger Bezugspunkt hinsichtlich der Organisation heraus, einschliesslich für die Bewegungen im Norden. Nicht vergessen werden darf der Ausbruch von Mobilisierungen nahezu allgemeinen Charakters an verschiedenen Punkten des lateinamerikanischen Kontinentes: die Mobilisierungen der argentinischen DozentInnen, der Arbei- terInnen im Gesundheitswesen in zahlreichen Ländern der Region und die unterschiedlichsten Manifestationen gegen die Privatisierungen, welche selbst - historisch betrachtet - schlummernde Länder wie Costa Rica erfasst. Im Norden ist parallel dazu eine ei- gentliche Explosion neuer Bewegungen auszumachen wie ATTAC, die Weltaktion der Völker, das Forum Anti Davos, die Erklärung von Bangkok und die tausend Organisationen gegen die Aussenverschuldung, worunter viele, die im Rahmen von Jubilee 2000 ihre Wurzeln haben, aber heute ihre ursprüngliche ideologische Begrenzung überwunden haben. Gleiches gilt für die sich zusammen- findende Anti-WTO-Bewegung, die ihre erste Schlacht gegen das MAI-Abkommen 1998 und 1999 führte und sich während der überraschenden Mobilisierung in Seattle im Dezember vergangenen Jahres zu einem neuen Phänomen des Protestes gewandelt hat. Die Partizipation neuer Gruppen Jugendlicher an zahlreichen dieser Manifestationen und Strukturen ist eine neue Erscheinung spezieller Bedeutung. In diesem Kontext - um damit die Feststellungen, welche den Rahmen für die Analyse der zukünftigen Möglichkeiten und Perspektiven bilden, abzuschliessen - stechen zwei grundlegende Elemente für das Verständnis der aktu- ellen Situation der Solidaritätsbewegung heraus: Einerseits die Auswirkungen der internen Krise der ehemaligen zentralamerikanischen Avantgarde, welche der Informationsarbeit, der breiten Sensibilisierung (des europäischen Zielpubli- kums) und der Solidarität über Tausende von Kilometern nicht förderlich sind. Nach oben |
Andererseits die fortschreitende Schwächung der Solidaritätsbewegung mit Zentralamerika - sei es auf schweizerischer oder europäischer Ebene -, was im Verlust an Mobilisierungskraft und den organisatorischen Einbussen abzu- lesen ist. So sind in den vergangenen Jahren Hunderte von Solidaritätskomitees verschwunden und es mangelt an neuer "Sauerstoffzufuhr". - Der Preis einer Krise mit viel konzeptioneller Untätigkeit und noch mehr selbstmörderi- schem bequemem Verharren bei "traditionellen Formen" der Solidarität, ohne eine Grundsatzdebatte über die unab- dingbare Neuschaffung und -definition der neuen, zukünftigen Solidarität. Die momentane Explosion der Post-Mitch-Solidarität (Ende 1998 und 1999) zeichnete sich mehr durch eine quantitative (Hilfeleistungen) als eine qualitative Note (Überdenken der Essenz) aus. Die geschrumpfte Solidaritätsbewegung blieb auf die Ebene der Förderung und Ausführung humanitärer Entwicklungs- und Wiederaufbauprojekten beschränkt. Der ursprüngliche Versuch dieser Bewegung, die gesamte Zusam-menarbeit von Staat und traditionellen NGOs in Richtung kritischerer Positionen zu lenken, brachte keinen bedeutenden Ertrag. Eher blieb die Bewegung an der Ausführung von Initiativen kleben, die zwar gut gemeint, aber der traditionellen Zusammenarbeit völlig angepasst und mit ihr vergleichbar waren. Eine Zukunft voller Herausforderungen: HypothesenDie Neuschaffung oder Neuformulierung eines Vorschlags der Solidarität mit Zentralamerika konfrontiert die schweizerische Bewegung mit einer grundlegenden Überlegung hinsichtlich des Konzeptes, dem Sinn, der PartnerInnen und VermittlerInnen sowie der Erfahrungen. Wiederholungen oder Schlendrian aus Untätigkeit können in dieser Etappe zum schlimmsten Feind der unabdingbaren kreativen Neuerfindung werden. Daraus abgeleitet folgen einige Hypothesen, welche als Annahmen betreffend einiger möglicher und zukünftiger Aspekte dienen sollen. Angesichts der Explosion der neuen AkteurInnen sowie BürgerInnen- und Volksbewegungen, sowohl im Norden wie im Süden, muss sich jegliche Art zukünftiger Solidarität mit diesen neuen leibhaften Manifestationen in Verbindung setzen, sich mit ihnen liieren. Die traditionelle Solidarität ist ermattet und leidet unter einer ernsthaften Krise hinsichtlich Konzepten, angepasster Organisationsformen und Vernetzung. Ein Nicht-Aufgreifen in diesem Sinne droht einer Art "operativer Schizophrenie" vieler Militanter der Solidarität Vorschub zu leisten, welche geteilte Rollen in anderen Bewegungen einnehmen, aber ohne eigenes Konzept und dementsprechend mit geschwächtem Einfluss auf ihre Aktion. Viele Militante und Gruppen haben die Solidarität mit Zentralamerika bereits verlassen, um sich anderen Engagements zuzuwenden, welche sie für adäquater, aktueller oder breiter halten, ohne auf die notwendige Neuformulierung der Solidaritätsbewegung von innen heraus zu setzen. Diese Zeichen deuten darauf hin, dass sich die Bewegung einer grundlegenden Herausforderung gegenüber sieht: Entweder erfährt die Ausrichtung der Solidarität mit Zentralamerika eine Neukonzeptualisierung oder es besteht die Gefahr eines langsamen Todes durch Trockenlegung. Mit Blick auf den globalen Kontext und die Vernetzung, innerhalb derer sich die neuen Formen der BürgerInnenbewegung des Nordens entwickeln, muss festgehalten werden, dass sich die Länder- und Regionensolidarität in dieser Dynamik nicht widerspiegelt. Bedeutender als der nationale oder regionale Rahmen sind in dieser Phase zwei zentrale Aspekte: Der Typ der PartnerInnen oder VermittlerInnen, mit denen die neue Solidarität, die Konzepte und Themen formuliert werden. Angesichts der "konsequenten Delegitimierung" des neoliberalen und Globalisierungskonzeptes als zentrale Aufgabe der Gegenwart, stellt die Vereinbarung über Themen mit wichtigen VermittlerInnen eine Rückversicherung für die treffende Schwerpunktsetzung und langfristig einer solidarischen Option dar. In diesem Sinne ist es von entscheidender Bedeutung, den eigentlichen Sinn der neuen Solidarität zu definieren. Einerseits als horizontale Übung, welche jegliche Art von Übertragung oder Paternalismus (weder von Zentralamerika/Süden nach Norden, noch vom Norden nach Zentralamerika/Süden) abwendet. Andererseits soll die Solidarität als integrierende und globale Aktivität verstanden werden, die sowohl den AkteurInnen des Nordens wie des Südens einen Nutzen bringt. Auf einem globalisierten Planeten führt der zentrale Sinn jeglicher Solidarität richtigerweise über die Globalisierung einer neuen Beziehung der weltweiten Kräfte, indem sich die AkteurInnen und VermittlerInnen des Nordens und Südens auf rationale Weise durch ihr jeweiliges Engagement ergänzen. Aus dieser Sicht birgt der Rückzug in eine vorwiegend (oder ausschliess-lich) lokal ausgerichtete Solidarität, wie sie von den Städtepartnerschaften in den vergangenen Jahrzehnten im besten Stile praktiziert wurde, gewisse Risiken in sich, sofern die grundlegenden Konzepte, welche den Sinn einer neuen Solidarität definieren und präzisieren, nicht auf diese Ebene überführt werden. Jede Leere an strategischen Inhalten wird eine Vereinigung, eine Gruppe, ein Komitee, eine Städtepartnerschaft zu einer unumkehrbaren konzeptuellen Verkümmerung verurteilen, was mit dem Risiko verbunden ist, den Fortbestand der Folklore, menschlicher Nähe, Freundschaft, Philanthropie oder einfach der Trägheit zu verdanken. Klärung der Herausforderung: SzenarienEs gibt tausend Möglichkeiten. Die zwei Hauptszenarien für die nächsten fünf Jahre basieren auf der Variante, ein bisschen mehr dessen zu machen, was bisher gemacht wurde - einschliesslich kosmetischer Reformen -, oder eine neue konzeptuelle und operative Form festzulegen, die unterschiedliche Definitio- nen beinhalten kann. Die Notwendigkeit des Wachs- tums, der Ausbreitung solidarischer Beziehungen mit den dynamischsten und kohärentesten AkteurInnen der sozialen Bewegung Lateinamerikas kann als Vorschlag für eine Debatte dienen. Wenngleich das Risiko besteht, sich zu verzetteln und Realitäten zu integrieren, welche der Solidaritätsbewegung mit Zentralamerika weniger vertraut sind, so ist die Notwendigkeit der Globalisierung unserer eigenen Wahrnehmung der historischen Phase, die jener Kontinent durchlebt, ebenso gewiss. Weshalb sollen La Trinidad, Achuapa oder der FSLN auf mehr Solidarität zählen können als die Siedlungen der Landlosenbewegung MST in Pará (Brasilien) oder die Nationale Konföderation der Indigenen in Ecuador, welche die Protestbewegung im Andenland anführt? Ebenso wichtig ist das Ziel, die Präsenz der Solidaritätsbewegung - mit dem enormen Erfahrungsschatz, der einen echten "Mehrwert" darstellt -, in jenen Netzen zu stärken, die sich im Norden vermehrt und in den letzten Jahren die wichtigsten oppositionellen Antworten hervorgebracht haben. Sich nicht innerhalb dieser Dynamik zu befinden, schwächt nicht nur die zentralamerikanische Solidarität, sondern konfrontiert sie mit einem konzeptuellen Widersinn. Wenngleich nicht völlig neu, so ist es wichtig, in Ergänzung dazu, Gedanken darüber anzustellen, wie der Ansatz einer neuen Solidarität in "natürliche" soziale Räume einzubringen ist. Handle es sich dabei um KonsumentInnenorganisationen, die sich für einen gerechteren Handel einsetzen, gewisse NGOs, Bäuerinnen- und Bauernorganisationen, Gewerkschaften oder auch Initiativen, die sich durch eine Regelmässigkeit auszeichnen, wie die 1. Mai-Komitees oder Vorbereitungsgruppen internationaler Ereignisse wie zum Beispiel des Alternativen Sozialgipfels. Es sind dies Szenarien, die nicht beabsichtigen, die kreativen und unlimitierten Fähigkeiten des Volkes und der BürgerInnen auszuschöpfen. Aber sie zeigen wahrscheinliche zukünftige Akti- onslinien der Solidarität auf, die, unter dem Dilemma von Leben oder Tod, darauf wartet, dringend neukonzeptualisiert zu werden. |
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