Kampf der Armut!
Fijáte 262 vom 19. Juni 2002, Artikel 1, Seite 1
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Kampf der Armut!
Bereits 2000 startete das präsidiale Sekretariat für Wirtschaftsplanung SEGEPLAN in Zusammenarbeit mit einigen akademischen Institutionen den Prozess zur Erarbeitung einer kurzfristigen Strategie zur Reduktion der Armut in Guatemala für den Zeitraum 2002 - 2005. Dieser Strategie liegen die Resultate einer Analysephase zu Grunde, in der die Ursachen und Konsequenzen der Armut im Land untersucht worden waren. Das Projekt ist im Rahmen der Abkommen des Milleniumsgipfels zu verorten, der im Jahr 2000 von den Vereinten Nationen organisiert wurde. Hier wurde die Absicht erklärt, bis zum Jahre 2015 die Armut in der Welt um 50 % zu reduzieren. Die guatemaltekische Regierung schloss sich an und legt nun, nachdem, wie vorgesehen, diverse Sektoren der Gesellschaft die ursprüngliche Fassung von September 2001 diskutiert und ihre Verbesserungsvorschläge gemacht haben, die dritte Version ihrer Strategie vor. Diese wird in einem Hauptartikel des Informationsblattes PULSO des Untersuchungszentrums FUNDEMOS erörtert. Die SituationIn einem Land, in dem das Thema Armut immer ein Tabu darstellte und das Ansprechen immer die Gefahr in sich barg, Opfer politischer Gewalt zu werden, bedeutet die Tatsache, dass angefangen wird, sich in öffentlichen Diskussionen damit auseinander zu setzen, ohne Zweifel einen wichtigen Fortschritt. Zum ersten Mal wird offiziell eingestanden, dass mehr als die Hälfte der EinwohnerInnen Guatemalas mit weniger als US$ 2 - das sind 16 Quetzales - täglich auskommen muss und mehr als 25% der Bevölkerung sogar weniger als US$ 1 täglich zur Verfügung steht. Diese Daten werden mit Hilfe von mindestens drei Messinstrumenten ermittelt: den familiären Einnahmen, den Lebensbedingungen und der internationalen Armutssituation. In gewisser Weise sind diese Richtwerte vertrauenswürdig, gleichzeitig zwingen sie jedoch zu Besorgnis und Nachdenken. Die sechs Jahre der formalen Friedensverhandlungen, an denen vier verschiedene Regierungen beteiligt waren, machten deutlich, dass einer der wichtigsten Faktoren, die den internen bewaffneten Konflikt provozierten, die Existenz einer weit verbreiteten Armut und Misere innerhalb der guatemaltekischen Bevölkerung war. Nicht nur deswegen darf dieses Thema auf keinen Fall auf die leichte Schulter genommen werden, es gibt sogar wichtige Indizien dafür, dass sich nach der Friedensunterzeichnung die Lebensbedingungen in Guatemala eher noch verschlechtert haben. Man muss auf mittlere und lange Sicht die Fähigkeit für die Vision behalten, dass die Einführung des Themas Armut in die nationale Debatte eine grosse Rolle spielt, auch wenn es ursprünglich von aussen an sie herangetragen worden war. Dass die Existenz der Armut im Land anerkannt wird, ihre Gründe erörtert werden und angefangen wird, Wege zur Lösung zu suchen, stellt eine Chance für das Land dar. Auf der anderen Seite treten gerechtfertigte Befürchtungen hinsichtlich dessen auf, ob der von der guatemaltekischen Regierung eingeschlagene Weg mit der Strategie zur Reduktion der Armut (ERP) der angemessenste sei. Das Konzept des Notfalls, das in der Formulierung der Strategie dominiert, scheint sich auf eine Interpretation zu stützen, nach der die Armut keine strukturellen Ursachen in der Art, wie die Gesellschaft organisiert ist, hätte, sondern dass sie eine Verzerrung in der Anwendung neoliberaler Politik mit grosser Verbreitung in der zeitgenössischen Welt darstelle. Die StrategieDie erwähnte Strategie schlägt als die drei Hauptachsen wirtschaftliches Wachstum, die Investition in Humankapital in Form von Erziehung und die Verbesserung der Gesundheitsversorgung, sowie die Investition in physisches Kapital, mit dem v.a. der Ausbau der ländlichen Infrastruktur gemeint ist, vor. Die übergreifenden Themen, die in diesen drei Bereichen impliziert sind, sind u.a. die Multi- und Interkulturalität und Geschlechtergleichheit. Um die Armut zu mindern, so der Regierungsvorschlag, müssen jene Staatsausgaben neu zugewiesen, neuorientiert und erhöht werden, die dem sozialen Sektor und der Basisinfrastruktur zukommen. Zudem soll die Effizienz und Gerechtigkeit der öffentlichen (Dienst-)Leistungen verbessert werden. Da der Grossteil der von Armut betroffenen Bevölkerung auf dem Land lebt, kommt, laut RegierungsfunktionärInnen, den dortigen Gemeindeverwaltungen entscheidende Bedeutung zur Erreichung der gestellten Ziele zu. Diesen, in der vom SEGEPLAN erarbeiteten "Armutslandkarte" als die am stärksten isolierten und ausgeschlossenen Gruppen, soll auch bei der Finanzverteilung Priorität zukommen. Im Hinblick auf die erstgenannte Achse der Strategie, dem wirtschaftlichen Wachstum, bestätigte eine der Folgerungen der vorhergegangenen Analysephase, dass das bisherige ökonomische Wachstum in Guatemala in den letzten Jahren kaum höher liegt als das Bevölkerungswachstum, was sich spürbar auf den geringen Zuwachs von Arbeitsplätzen ausgewirkt hat. Um diese Pflicht nun zu erfüllen, schlägt die Regierung vor, vorrangig in Infrastruktur zu investieren, um die Produktionskosten im Land zu reduzieren. Ausserdem soll ein begünstigendes Klima für private Investitionen gefördert werden, seien sie nun aus dem In- oder Ausland. In diesem Rahmen sollen Bedingungen geschaffen werden, die u.a. die Sicherheit und Stabilität der Spielregeln auf dem wirtschaftlichen sowie juristischen Feld garantieren. Dennoch stellen sich diverse Fragen gerade an diesen Punkt der Strategie, der besonders deutliche Grenzen in seiner Definition und Tragweite hat: Wie wird es möglich sein, erwähntes Wachstum im Rahmen eines grundsätzlich bereits erschöpften, überholten Wirtschaftsmodells zu erreichen? Wie soll die Konfrontation mit der Armut angegangen werden, ohne Alternativen für eine produktive Umstrukturierung in Gang zu setzen? Wie soll der Kampf gegen die Armut wirksam sein, wenn man sich inmitten einer nationalen sowie internationalen strukturellen Ordnung befindet, die genau ihre ursprüngliche Quelle ist? Die Geschichte zeigt, wie betrügerisch der Ansatz ist, nach dem wirtschaftliches Wachstum Reichtum für die ganze Bevölkerung nach sich ziehe. Man kann Statistiken von ganzen Dekaden überprüfen und wird feststellen, dass in Momenten des größten Wirtschaftswachstums keinerlei Reduktion von Armut zu verzeichnen war. Gerade die starke Konzentration von Einkommen und Besitz im Land versetzt Guatemala, neben Brasilien, auf den ersten Platz der Ungleichheit in Lateinamerika, dem Kontinent mit der grössten Kluft zwischen arm und reich. Dass wirtschaftliches Wachstum Entwicklung zudem nicht impliziert, dürfte bekannt sein. Dennoch setzt sich die guatemaltekische Regierung dafür ein, dass dieses Wachstum mit ausgerichteten Massnahmen vervollständigt werde, um eine höhere Gleichheit in der Einkommensverteilung zu erzielen. Nach oben |
Die zweite Strategieachse zentriert sich auf die Investition in Humankapital. Dabei soll besonders die Vor- und Grundschulausbildung bedacht werden. Ausserdem schenkt sie besonderes Augenmerk der gesundheitlichen Prävention auf unterster Ebene. Dies bezieht sich u.a. auf die Feststellung, dass der Grossteil von Kindstoden durch einfachste Krankheitsbehandlung verhindert werden könnte. Da laut der Analyse vom SEGEPLAN die Mehrheit der AnalphabetInnen Frauen und Indígenas sind, wird in der Strategie vorgeschlagen, Priorität auf diese Gesellschaftsgruppen zu setzen. Die dritte Achse, die Investition in physisches Kapital, nimmt Rekurs auf die Tatsache, dass der Grossteil der Armen, die v.a. auf dem Land verortet sind, für ihr Überleben von der Landwirtschaft und dem ländlichen Wegenetzwerk abhängig ist, welches in Guatemala deutlich defizitär ist. Deswegen, aber auch in Anbetracht der Tatsache, dass gerade die Wege lebenswichtig für die Erleichterung jeglichen Marktes sind und den Zugang zu öffentlichen (Dienst-)Leistungen vereinfachen, plant die Regierung in diesem Bereich, u.a. der Investition in ländliche Wege den Vorrang zu geben. Keine der beiden Investitionsstrategien erlaubt dabei eine Reduktion und erst recht keine Eliminierung der Armut. "Die Gemeindeverwaltungen spielen bei der Implementierung der Strategie eine wichtige Rolle", so Arturo Montenegro, Direktor des präsidialen Sekretariats (SEGEPLAN). "Die Gemeindeverwaltungen müssen Prioritäten in dem Sinne setzen, dass sie dieser verstärkte Wichtigkeit in ihrem Haushalt zukommen lassen. Wenn wir eine Gemeindeinstitution haben, die sich um dieses Thema Sorgen macht und die Bedürfnisse ihres Bezirks kennt, muss sie das Thema angehen." Dennoch beschweren sich diverse BürgermeisterInnen, dass sie bislang noch gar nicht berücksichtigt worden sind und die Statistiken, mit denen die Regierung umgeht, gar nicht der Realität ihrer Gemeinden entsprechen. Die KostenAnders als die anderer Länder, soll die guatemaltekische Strategie nicht über den Erlass von Schulden von internationaler Seite aus finanziert werden. Die Kosten der Strategie werden auf etwa Q 2.400 Mio. pro Jahr geschätzt (ca. US$ 300 Mio.), was 1,3 % des Bruttoinlandproduktes entspricht. Anstelle des Rückgriffs auf andere Fonds soll die Finanzierung also lediglich aus den bereits realisierten Finanzreformen und den möglichen Umdisponierungen von Staatsgeldern bzw. dem verbesserten Ausnutzen von Steuergeldern gewährleistet werden. Dafür ist ein wirtschaftliches Wachstum von mehr als 4% notwendig, was wiederum eine disziplinierte Währungspolitik impliziert, die die Inflation unter 5% hält sowie eine Wirtschaftspolitik, die ein Defizit um 1% des BIP garantiert. Dazu müssten eine Neuordnung des Finanzsystems und eine Politik der wirtschaftlichen Öffnung kommen, so das SEGEPLAN. Angesichts der Realität zu urteilen, verwandeln die politischen und institutionellen Rahmenbedingungen diese Absichten in einen heiklen Weg bergauf, während dessen ist kein Anschein von Intention zu spüren, ernsthaft die Ausgaben für das Militär zu verringern und diesen ihren vorrangigen Platz bei den Sozialausgaben zu gewähren. Stattdessen existiert ein riesiges fiskalisches Defizit und von Seiten des guatemaltekischen Staates ein chronischer Mangel an Ressourcen. Mit diesen Überlegungen soll jedoch in keiner Weise versucht werden, den Kampf gegen die Armut an sich grundsätzlich zu disqualifizieren. Wichtig ist im Moment vor allem, dass der Raum für Diskussion und Bearbeitung dieses Themas offen ist, dass die institutionellen Mechanismen und der bürgerliche Rahmen gegeben sind, und dass die Möglichkeit besteht, dass die Suche von Lösungen für dieses Thema über die aktuelle Regierungsperiode hinausgeht, um auf Dauer Bedeutung zu erlangen. Der Ausgangspunkt ist die Anerkennung der dramatischen Situation, in der in Guatemala debattiert wird, und dass eine Verlängerung dieser Wirklichkeit das Land zum Scheitern verurteilt. Die notwendige Sichtweise ist derzeit so zu verstehen, dass die Möglichkeit, das Thema anzugehen, eröffnet ist, unabhängig davon, ob diese mit den aktuellen Lösungsansätzen übereinstimmen. Genauso wie in Bezug auf die Themen Frieden und Demokratie, besteht hier die Anstrengung darin, diese Ansätze mit einem anderen Inhalt zu füllen. Für die URNG ist die Strategie zwar Ansatz zur Bekämpfung der Armut, sie greife jedoch nicht die Wurzeln des Problems an: die Ungleichverteilung des Reichtums. Die Strategie sei ein späte und unvollständige Antwort des Staates, die nicht über die notwendige Unterstützung verfügt, um hilfreich und kurzfristig einsetzbar zu sein. |
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