Das Thema Sicherheit
Fijáte 308 vom 21. April 2004, Artikel 1, Seite 1
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Das Thema Sicherheit
Die ersten einhundert Tage der Regierung von Oscar Berger gehen ins Land. Sowohl die Regierung als auch die Zivilgesellschaft sind sehr darauf bedacht, einerseits die eigenen Erfolge, andererseits die Erfüllung der Wahlversprechen kundzutun bzw. zu evaluieren. Ein wesentliches Thema, das historisch sowie aktualpolitisch eine grosse Rolle spielt, ist das der Inneren Sicherheit. Zu diesem gehören neben dem stets vieldiskutierten Militär bzw. Verteidigungsressort auch der Umgang mit (Alltags-)Kriminalität, den Jugendbanden, Drogen, Migration und weitere Aspekte. Aufgrund der beständigen Brisanz ist vorliegender ¡Fijáte! spezifisch diesem Themenkomplex gewidmet und spiegelt Ausschnitte der derzeitigen Diskussion in Guatemala wider. Einführend dazu ein Artikel von Arnoldo Villagrán, der am 29. März 2004 unter dem Titel "Stichworte zur Militärdoktrin" in Incidencia Democrática erschienen ist. Angesichts der Notwendigkeit eines Fortschritts in Sachen Demokratisierung der guatemaltekischen Gesellschaft ist es angebracht, einen Moment inne zu halten, um uns mit der vollständigen Umstrukturierung der Armee auseinander zu setzen, wie sie in den Friedensverträgen festgehalten ist. Wir müssen davon ausgehen, dass Guatemala die Etappe der politischen Transformation noch nicht abgeschlossen hat. Der Übergang wurde stets blockiert und wir wissen noch gar nicht, welches Modell von Armee wir eigentlich gerne hätten. Der Staat hat bislang das Monopol über den Gebrauch von Macht und Gewalt inne gehabt, repräsentiert durch seine Streitkräfte. Deswegen müssen wir diesen Aspekt als zentralen in der Debatte bedenken und festlegen, in welcher Art und Weise diese Macht genutzt werden soll, damit sie eine Funktion innerhalb eines demokratischen Gesellschaftsmodells übernimmt und gleichzeitig als Hegemonialmacht weniger auf ihre Zwangsmechanismen zurückgreift. Dies lässt sich jedoch nur erreichen, wenn von einer Staatspolitik ausgegangen wird, die einerseits die Sicherheitsfunktion erfüllen kann und andererseits fähig ist, sich auf die nationalen Interessen als Grundlage zu stützen, um weitreichende Strategien und Politikansätze der Verteidigung und Sicherheit innerhalb eines Nationenprojekts zu entwickeln. Die neue Militärdoktrin wird ein Ergebnis dieser ganzen Debatte sein, aber nicht das einzige, bedenkt man, dass es bislang weder Richtlinien noch politische Ansätze gibt, die als Grundlage für deren Formulierung dienen. Es können keine Aktionspläne für eine Politik erarbeitet werden, solange die Strategien nicht bekannt sind, aus denen sie hervorgehen sollen. Das bedeutet also, dass erst einmal eine Sicherheitspolitik formuliert werden muss, die all das umfasst, was der guatemaltekische Staat zu realisieren gedenkt, um jenen traditionellen und aufkeimenden Bedrohungen entgegenzuwirken, die in der derzeitigen Situation bestehen. Es braucht also als erstes die Erarbeitung einer Sicherheitsagenda, die die Existenz dieser Bedrohungen mit einbezieht, was wiederum eine Voraussetzung ist, um Guatemala in den Prozess der regionalen Integration einzuführen. Diese umfasst sowohl das wirtschaftliche und politische Feld Zentralamerikas als auch die Schaffung eines Gleichgewichts hinsichtlich der Beziehungen mit dem Ausland und der internen Entwicklung. Weitere Punkte, die zu entwickeln anstehen, sind Politikentwürfe zur Verteidigung und Sicherheit. Aus der ersten sollte die Militärpolitik, aus der zweiten die Militärdoktrin hervorgehen. All diese Schritte laufen weder automatisch noch mechanisch ab, sind jedoch unabdingbar, um zu erkennen, welche nationalen, politischen und moralischen Werte die Armee in ihrem Handeln innerhalb eines demokratischen Systems zu leiten haben. Ausgeschlossen ist, dass allein die Militärangehörigen ihre Doktrin entwerfen. Dies würde das Risiko in sich bergen, die relative Autonomie, die sie immer noch geniessen, zu verlängern. Diese Autonomie ist eine Folge der "Verschiebungen", die durch die Aufstandsbekämpfungsmassnahmen ausgelöst wurden und die aus dem Militär eine der stabilsten und hartnäckigsten Institutionen machte. Ausserdem bewahrt sich die Armee immer noch ihren Korpsgeist sowie eine nicht geringe Entscheidungsmacht über staatliche Ressourcen. Eine wichtige Anforderung für die Formulierung einer Militärdoktrin ist unterdessen der Einbezug der Zivilgesellschaft, die sich bislang recht zurückhaltend daran beteiligt hat. Ihre Organisationen waren in den Debatten kaum präsent und zeigten wenig überzeugende Vorschlagsfähigkeiten. Es muss bedacht werden, dass neue Militärapparate geschaffen werden und niemand weiss, in welche Richtung der entsprechenden Umstrukturierungsprozess führt. Wir wollen nicht hoffen, dass wir mittel- und langfristig zu autoritären Modellen zurückkehren, die denen aus vorherigen Epochen ähneln. Deswegen dürfen wir nicht erlauben, dass die Streitkräfte genau diese Rückkehr vorbereiten. Die Bedingungen dafür könnten sich in den Bündnissen zwischen politischen, unternehmerischen und militärischen Spitzen ergeben. Aus diesem Grund ist es hinsichtlich der Formulierung einer neuen Militärdoktrin notwendig, dass Armee und Gesellschaft gemeinsam die theoretischen, moralischen und politischen Aspekte dafür definieren, welche Richtung das Militär einschlagen soll. Dies wird der Armee neue Werte, und Prinzipien verleihen, die von der Konstruktion der Demokratischen Gesellschaft, der Respektierung der Verfassung, des Rechtsstaats und der Menschenrechte inspiriert und an der Verteidigung der nationalen Souveränität und Unabhängigkeit, der territorialen Unverletzlichkeit und dem Geist der Friedensverträge orientiert sind. Was durchaus vom Militär zu erarbeiten ist, ist die operative Seite der Doktrin, also das "Wie" der Disposition, Mobilisierung und Führung der Truppen, Einheiten und Mittel in Kriegs- und Friedenszeiten. Dies wird in jedem Fall, abhängig von der vorhandenen militärischen Technologie, von den Militärs selbst bestimmt werden müssen. Nach oben |
Es ist unabdingbar, dass die bestehende Sichtweise und Konzeption, die von der geltenden Nationalen Sicherheitsdoktrin ausgeht, welche heute noch als theoretische Referenz für die Armee fungiert und auf Grundlage derer die Aufstandsbekämpfung im Rahmen des kalten Krieges vollzogen wurde, überwunden wird. Diese Doktrin hatte schon seit Beendigung des Ost-West-Konflikts keinerlei Existenzberechtigung mehr. Auf jeden Fall ist es längst an der Zeit, die Ansätze, Konzepte und Parameter der Demokratischen Sicherheit in die Wege zu leiten. In gleicher Weise ist es notwendig, mit der Konfrontation zwischen den Staatskomponenten zu brechen, die durch die Nationale Sicherheitsdoktrin ermöglicht wurde: Politisches Regime versus Gesellschaft. Es bedarf der Überwindung einer Vision der Menschenrechte, die als eine exotische, von aussen durch die internationale Gemeinschaft auferlegt, betrachtet wird, was letztendlich als Rechtfertigung dafür galt, diese universalen Rechte systematisch zu verletzen. Es gilt zu verstehen, dass die Menschenrechte eine Bedingung für die Entwicklung der Demokratie und dieser inhärent sind. Zudem muss eine klare und definitive Trennung der Funktionen von Verteidigung, Sicherheit und innerer Ordnung geschaffen werden. Immerhin besteht inzwischen das klare Bewusstsein, dass die Funktionen der Verteidigung andere als die polizeilichen sind und dass die Armee seine Aufgaben im Zusammenhang mit der Demokratie neu zu definieren hat. Solange allerdings die aktuellen Funktionen bestehen bleiben, wird vielmehr die Absicht verfolgt, eine Nationalgarde zu stärken anstatt neue, moderne und professionelle Streitkräfte. Es braucht also eine Umstrukturierung, Modernisierung und Professionalisierung der Armee. Das bedeutet nicht unbedingt, Spitzentechnologie einzusetzen. Es bedeutet in erster Linie, ihre Mentalität, Werte, Prinzipien, Sichtweisen zu verändern und ein Heer mit einer demokratischen Berufung zu schaffen, das im Dienste seines eigenen Volkes steht und den konkreten historischen Bedingungen unserer Nation entspricht, also multiethnisch, multilingual und plurikulturell zusammengesetzt ist. Es muss eine Reform des Gesetzes zur Öffentlichen Ordnung vorgeschlagen werden. Inzwischen obsolet geworden, war es eins der in einer gewissen Epoche genutzten Instrumente, das jedoch durch die Realität selbst überholt wurde. Dennoch gesteht es weiterhin der Armee zu, die Kontrolle der Gesellschaft in Krisenoder Ausnahmesituationen zu übernehmen, ohne aber die Stärkung der zivilen Institutionen zu erlauben. Das Argument, dass zivile Institutionen nicht funktionieren oder nicht existieren, hatte unter vielen Regimes Bestand, während derer absolut nichts dafür getan wurde, diese zu fördern bzw. überhaupt einzurichten. Dabei stellt gerade die institutionelle Stärkung eine wichtige Bedingung für die Konsolidierung der Demokratie dar. Derweil unterlag diese stets der Resistenz der Herrschenden aufgrund der Befürchtung, die in den Militärdiktaturen oder der vorgeblichen Demokratie gewonnene Macht zu verlieren. Die Armee sollte endlich anfangen, die historische Rolle zu akzeptieren, die sie im bewaffneten Kampf gespielt hat. Diese wurde systematisch negiert und durch das Infragestellen des Berichts der Wahrheitskommission und des Projekts zur Wiedererlangung des historischen Gedächtnisses REMHI nahmen die Wi- dersprüche und die Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft zu. Die Rolle der Armee zu negieren leugnet aber die Wahrheit nicht. Die Armee steht im Abseits während andere Akteure den Autoritarismus von der Staatsverwaltung her vorantrieben und die Armee dafür bezahlen liessen. Gleichzeitig ist diese von Regierungen wie der der Republikanischen Front Guatemalas (FRG) als Brücke für finanzielle Überweisungen benutzt worden, ohne vom Gewinn bedacht zu werden. Genauso im Trüben befindet sich die Zukunft vieler ehemaliger Offiziere, die nun nicht die Vergünstigungen erhalten werden, die die Lohnzusatzleistungen darstellen, welche sie im Laufe ihrer Karriere im Militärischen Vorsorgeinstitut IPM angesammelt hatten, die jedoch von der Mafia, die die vorhergehende Administration anführte, unterschlagen worden sind. Unter diesen Umständen befinden sich die Gesellschaft, der Staat und die Streitkräfte derzeit vor einer historisch einmaligen Situation, um die Rolle der letzteren neu zu bestimmen und gleichzeitig auch die Beziehungen zwischen den Komponenten und Institutionen des Staates neu zu definieren. |
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