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Guatemala, 10 Jahre danach... Den Leuten die Kontrolle über ihr Leben zurückgeben, Teil 1

Fijáte 372 vom 15. Nov. 2006, Artikel 1, Seite 1

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Guatemala, 10 Jahre danach... Den Leuten die Kontrolle über ihr Leben zurückgeben, Teil 1

Frage: Von wie vielen Leuten sprechen wir?

M.A.G.: Im Moment begleiten wir 504 Fälle. Also 504 Fälle, wo es Zeugenaussagen und Anklagende gibt. Aber oft ist es pro Fall mehr als eine Person, sind es die Eltern oder die Geschwister.

Wir verstehen die Organisation nicht bloss als ein soziopolitisches Werkzeug, sondern auch als eine Ressource für die psychosoziale Gesundheit der Betroffenen. Das Zusammenkommen der Leute, der Austausch unter ihnen war fabelhaft. Die Leute haben auch persönlich eindrückliche Prozesse durchlaufen, zum Teil sind sie nicht mehr wiederzuerkennen im Vergleich dazu, wie wir sie damals angetroffen haben.

Frage: Was bietet ihr den Leuten? Es ist ja oft so, dass diese Programme gekoppelt sind, Bewusstseins- oder Organisationsarbeit und im Gegenzug finanzielle Unterstützung. Denn das tägliche Überleben ist für die Leute auch ein ganz reales - und oft vordringliches - Problem.

M.A.G.: Das war tatsächlich sehr schwierig. Die Logik, nach der in Guatemala viele Projekte funktionieren, ist genau diese. Die Leute haben sich an ihren "Opferstatus" gewöhnt, daran haben auch die Entwicklungsorganisationen mit ihren assistentialistischen Projekten einen Teil der Verantwortung.

Wir waren von Beginn an sehr klar in dieser Hinsicht. Die Leute wissen genau, dass es im Programm kein Geld für niemanden hat. Ich erinnere mich an eine Frau in Chisec, die mich fragte, ob wir ihr finanziell helfen würden. Ich sagte "Nein, Doña Maria. Aber - geht es um Ihren Sohn oder um meinen?". "Um meinen", sagte sie. "Und Sie wollen ihn finden?", fragte ich. "Aber natürlich will ich ihn finden", sagte sie. "Wir können Sie im Rahmen des Möglichen unterstützen, aber vielleicht müssen auch Sie etwas investieren, Ihre Mahlzeiten selber bezahlen, wenn sie zu einem Treffen kommen oder auf ein Amt gehen müssen." Ich sage dir, diese Frau ist heute sehr aktiv im Programm. Es brauchte viel Überzeugungsarbeit unsererseits und es war eine VGKatastropheNF, als dann das Wiedergutmachungsprogramm kam und es plötzlich hiess, es gäbe 24'000 Quetzales pro Toter/Totem. Doch für unsere Leute ist unterdessen klar, Wiedergutmachung heisst für sie Wahrheit und heisst, ihre Verschwundenen zu finden.

Frage: Viele behaupten, es brauche drei Dinge als Voraussetzung für Versöhnung: Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. In Guatemala sind sämtliche juristischen Bestrebungen, Gerechtigkeit zu erlangen, blockiert. Kann es unter diesen Umständen überhaupt zu einer Versöhnung kommen?

M.A.G.: Selbstverständlich. Als wir unser Programm entwickelten und Definitionen und Prinzipien aufstellten, gingen wir davon aus, dass es sich in erster Linie um ein menschliches Problem handelt. Zweifellos, seine Ursachen sind politisch und brauchen politische Lösungen. Aber wir dürfen die Menschen und ihre Geschichten dahinter nicht vergessen.

Im Zusammenhang mit den verschwundenen Kindern gab es zwei Mythen: Erstens, es gäbe gar keine verschwundenen Kinder, die noch leben, die Politik der "verbrannten Erde" habe sie alle umgebracht, und zweitens, die Hinterbliebenen hätten Angst, in dieser Sache etwas zu unternehmen. Beide Annahmen haben sich im Verlauf der Arbeit als falsch herausstellte. Klar haben die Leute Angst, aber es kommt darauf an, wie du das Thema an sie heranträgst. Die Leute in unserem Programm wollen in erster Linie wissen, was mit ihren Kindern geschehen ist. Es geht ihnen nicht so sehr darum, irgendwen dafür zu bestrafen.

Wenn sie dann aber ihre Kinder gefunden oder eben nicht gefunden haben aber die Umstände kennen, unter denen ihre Kinder gestorben sind, dann beginnt möglicherweise ein anderer Prozess. Doch darf man nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und gleich zu Beginn von VGExhumierungenNF und juristischen Prozessen sprechen. Da blocken sie ab. Die Angst, der Terror ist internalisiert. Doch das Thema der verschwundenen Kinder - entweder es befreit dich, du stirbst ohne es je gewusst zu haben, oder es hilft dir, die Ängste zu überwinden.

Die Frage, die wir den Leuten stellen ist: Wenn du ein Kind hattest, das dir vor 20 Jahren weggenommen wurde und du hättest heute die Möglichkeit herauszufinden, was mit ihm geschehen ist, würdest du die Sache anpacken oder nicht? Normalerweise sagen die Leute ja, wer würde das nicht wollen? Bisher hat niemand gesagt, dass er oder sie es nicht wissen wollte.

Ich denke, unser Programm konnte sich entwickeln und konnte überleben, weil wir keinen konfrontativen Diskurs führen. Natürlich sehen wir den politischen Aspekt des Problems, ganz klar, aber wir wollen die Leute nicht manipulieren, sie nicht zu etwas zwingen, zu dem sie vielleicht noch gar nicht bereit sind. Und das müssen wir respektieren. Ich bin sicher, dass der Tag kommen wird, wo 1000 oder 2000 Familien sich politisch für ihre Verschwundenen einsetzen werden, aber das ist ein Prozess, dessen Tempo sie bestimmen müssen. Die politische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit unserer Arbeit ist uns sehr wichtig, doch wo bleibt diese, wenn wir die Prozesse forcieren?

Frage: Ohne generalisieren oder kulturalisieren zu wollen, aber haben Indígenas andere Methoden als Ladinos/-as, um die Vergangenheit zu bewältigen? Ich komme auf diese Frage angesichts der Tatsache, dass es im Fall der Ladinos/-as oft einzelne, selektive Morde waren und im Fall der Indígenas ganze Gemeinden, ganze Gemeinschaften massakriert wurden.

M.A.G.: Das Phänomen von kollektiven Traumata ist in den Maya-Gemeinden historisch. Für viele Ladinos/-as war der Krieg DIE grosse Tragödie, während es für die bäuerlichen Mayas eine weitere unter vielen Tragödien war. Durch die Kultur oder die Religion haben die Leute über die Jahre Formen des Widerstandes entwickelt. Dies hat bereits mit der Conquista begonnen.

Ich habe mich einmal mit einem alten Mann im VGIxcánNF über den Krieg unterhalten. Und ich fragte ihn, wie sie das überhaupt aushalten konnten. "Wir machten dies und das, aber weisst du mein Sohn, für uns war das der kleine Krieg", sagte er mir. "Wie, der kleine Krieg, welches ist denn der grosse Krieg?" "Der grosse Krieg war die Epoche der Kolonialisierung." Wenn du die Geschichte der Kolonialisierung anschaust, ist sie voller Tragödien, die die Mayas erlebt haben.

Frage: Du meinst also so etwas wie eine kollektive historische Erinnerung?

M.A.G.: Ja, all das was wir als "factor resiliente" bezeichnen, der dir erlaubt, Widrigkeiten zu begegnen und sie auszuhalten. Die Mayas lernten dies, weil sie immer wieder traumatische Prozesse durchleben mussten.

Die VGCPRNF (Widerstandsdörfer in den guatemaltekischen Bergen/Urwäldern) sind ein Beispiel dafür. Die CPR waren keine neue Erfindung. Während der Kolonialisierung sind ganze Dorfgemeinschaften im VGQuichéNF, in VGHuehuetenangoNF oder in VGBaja VerapazNF in die Berge geflüchtet, um die von den Spaniern verlangten Tribute nicht erbringen zu müssen. Sie hatten dort ihre Dörfer, die sie Pajuides nannten und die Spanier haben sie verfolgt, ihnen regelmässig ihre Häuser und Felder abgebrannt, sie gezwungen, zurückzukommen, worauf sie dann wieder geflüchtet sind. Die CPR sind in dem Sinne Teil einer Erinnerung an den Widerstand während der Kolonialisierung.

Frage: Hilft diese kollektive Erinnerung den Indígenas, mit ihrer individuellen Geschichte umzugehen?

M.A.G.: Ja und Nein. Denn wir müssen auch berücksichtigen, dass sich gewisse Umstände verändert haben. Der Prozess des Widerstands, ausgehend von der Kultur oder der Organisierungsform der Maya, hat Risse bekommen. Wir dürfen auf keinen Fall die Maya idealisieren. All diese Geschichten von DER Kosmovision DER Maya sind Blödsinn! Es gibt Maya die 150%-ige orthodoxe Evangelisten sind, die nichts mir der Maya-Kosmovision am Hut haben. Wir müssen die Angelegenheit etwas differenzierter betrachten. Dazu gehören ökonomische Phänomene wie die VGGlobalisierungNF, die in den Maya-Gemeinden diese bestimmte Vision von Widerstand zerstört haben. Mit dem Erstarken der Maya-Bewegung in den letzten Jahren hat nochmals eine wichtige Verschiebung stattgefunden: Diejenige vom Widerstand zum Aufbruch (Konstruktion).

Bisher war die Logik und Identität der Mayabewegung der permanente Widerstand, doch jetzt nach dem Krieg, mit den Friedensabkommen, der weltweiten Entwicklung und der Tatsache, dass der guatemaltekische Staat gemerkt hat, dass er die Maya nicht mehr einfach so ausschliessen kann, zeigt sich ein Bild von einer sich im Aufbruch befindenden Maya-Bevölkerung.

Jetzt geht es darum, diese jahrhundertealte Logik des Widerstandes zu überwinden, ein schwieriger Prozess, der nicht ohne Widersprüche und Konflikte ablaufen wird. Von der Subjektivität her gesehen, und ohne es idealisieren oder romantisieren zu wollen, sind das natürlich enorm positive Prozesse.

(Zweiter Teil des Interviews im nächsten ¡Fijáte!)


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