Guatemala, 10 Jahre danach... Den Leuten die Kontrolle über ihr Leben zurückgeben, Teil 1
Fijáte 372 vom 15. Nov. 2006, Artikel 1, Seite 1
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Guatemala, 10 Jahre danach... Den Leuten die Kontrolle über ihr Leben zurückgeben, Teil 1
Eine der Strategien der Aufstandsbekämpfung während des guatemaltekischen bewaffneten Konflikts war die systematische Zerstörung sozialer Beziehungen und Netze. Misstrauen allem und jedem gegenüber, Verlust des Selbstwertgefühls und gebrochene Persönlichkeitsstrukturen waren eine Folge davon. Heute geht es im Rahmen der Vergangenheitsaufarbeitung darum, diese Strukturen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene wieder aufzubauen. "Die Friedensabkommen sehen diesbezüglich keine Massnahmen vor", meint Marco Antonio Garavito. Garavito ist Leiter der Liga Guatemalteca de Higiene Mental. Die Liga wurde 1952, noch unter der Regierung von Jacobo Arbenz gegründet und verfolgt seit jeher einen präventiven Ansatz in der psychosozialen Arbeit. Heute setzt sich die Liga u.a. für die Suche nach im Krieg verschwundenen Kindern ein und arbeitet mit Jugendlichen in marginalisierten Quartieren sowie in den Gefängnissen. Sie produziert Radio- und Fernsehsendungen, um die guatemaltekische Gesellschaft auf das Gewaltthema zu sensibilisieren. Wir veröffentlichen das Interview mit Marco Antonio Garavito in zwei Teilen. Frage: Ende Dezember 1996 wurden die Friedensabkommen unterzeichnet und der langjährige bewaffnete Konflikt in Guatemala für beendet erklärt. Wie steht es heute, zehn Jahre später, um die psychosoziale Gesundheit Guatemalas? M.A.G.: Zuerst müssen wir definieren, was wir unter psychosozialer Gesundheit verstehen, bevor wir über ihren Zustand sprechen. Psychosoziale Gesundheit ist ein Konzept, das durch die sozialen Beziehungen konstruiert bzw. zerstört wird. Die Wirbelsäule der psychosozialen Gesundheit sind die zwischenmenschlichen Beziehungen. Und davon abhängig, wie diese zwischenmenschlichen Beziehungen gestaltet und gelebt werden, in der Familie, in der Schule, bei der Arbeit oder in sozialen oder nationalen Kontexten, steht es um den Zustand der psychosozialen Gesundheit einer Gesellschaft. Der Krieg, als soziopolitisches Phänomen, hat diese Beziehungen aufs Schrecklichste durcheinander gebracht. Eine der grossen Herausforderungen, denen die guatemaltekische Nachkriegsgesellschaft nun gegenübersteht, ist die Reartikulierung der sozialen Beziehungen. Man trägt nichts zu seiner psychosozialen Gesundheit bei, wenn man sich im Zimmer einschliesst, sondern es ist in den zwischenmenschlichen Beziehungen, wo man seine Träume, seine Hoffnungen, sein Glück, sein Vertrauen oder Misstrauen, seinen Glauben, seine Hoffnung, seinen Fatalismus artikuliert. Frage: Haben sich in diesen zehn Jahren die zwischenmenschlichen Beziehungen verändert? M.A.G.: Man kann durchaus von gewissen Fortschritten sprechen - aber auch von Enttäuschungen. Der Krieg hat vieles zerstört, meistens versucht man dies in Zahlen auszudrücken, aber die Zerstörung der Subjektivität ist einerseits schwierig in Zahlen zu fassen und andererseits - was noch viel schlimmer ist - interessiert dies niemanden. Dabei ist die Zerstörung der Subjektivität der schlimmste Schaden, den der Krieg angerichtet hat. Dazu gehört auch die Zerstörung des Konzepts der BürgerInnenschaft, die Leute glauben an nichts und niemanden mehr, sie nehmen nicht teil, sie sind misstrauisch. Frage: Und dies noch heute? M.A.G.: Heute noch. Doch ist dies ein Phänomen, das älter ist als der Krieg, es hat mit der Geschichte Guatemalas zu tun. Dieser Teil der Zerstörung konnte in den vergangenen zehn Jahren nicht repariert werden, im Gegenteil, sie wird durch die politische Krise, in der das Land steckt, verstärkt. Kurz nach dem Krieg gab es immerhin noch bestimmte Sektoren, die aus der revolutionären Bewegung entstanden waren, die eine Alternative boten und die Hoffnung auf die Durchführbarkeit ihrer politischen Projekte verbreiteten. Heute sind diese Sektoren total zerschlagen und bieten niemandem mehr eine Alternative, von der es sich zu träumen lohnte. Ich kenne viele Leute, die Teil dieser Bewegungen waren und heute total frustriert sind. Frage: Sehen die Friedensabkommen Mechanismen vor, um die psychosozialen Wunden zu heilen? M.A.G.: Man muss zwischen den Zeilen lesen können, um solche Stellen zu finden. Eine der grossen Schwächen der Friedensabkommen ist, dass das Thema der psychosozialen Gesundheit an sich nicht vorkommt, sondern es ist in vielen Bereichen implizit enthalten. Es fehlt jeglicher explizite Hinweis, dass Anstrengungen gemacht werden müssen, um die Subjektivität wieder herzustellen. Vergleichen wir es mit der ökonomischen Situation: Guatemala hat eine historische Finanzkrise und es wurden immer wieder Versuche gemacht, daraus herauszukommen. In den 70er Jahren der Plan zur interamerikanischen Integration, der Währungsfonds in den 80ern, heute das Freihandelsabkommen CAFTA (Central America Free Trade Agreement). Wir haben eine politische Krise, auch die hat man immer wieder versucht zu lösen. Der Krieg war ein Versuch, die (sozio-) politische Krise zu lösen. Aber es gibt auch eine Krise auf der Beziehungsebene, die man normalerweise nicht wahrnimmt und die zu lösen sich niemand die Mühe macht. Es kann nicht bloss darum gehen, in einem Dorf einen Wasserhahn zu installieren, weil er die Leuten dazu bringt, sich im Streit über seine Benutzung gegenseitig umzubringen. Diese Beziehungskrise wird als Thema völlig marginalisiert und sie wird nicht tiefgreifend genug analysiert. Es gibt keine Vision, es gibt keine Programme oder Strategien, die dieses Phänomen angehen. Frage: Was sind denn die Erfolge, die du erwähnt hast? M.A.G.: Zum Thema Reartikulierung der zwischenmenschlichen Beziehungen wurde sehr wenig gemacht und wenn, dann an der Basis. Von Organisationen wie uns, die konkrete Projekte in diese Richtung haben oder gewisse Sektoren der Kirche. Aber staatlicherseits könnte ich dir kein Beispiel nennen. Es gab den Versuch, über Entwicklungsprojekte eine stärkere Partizipation der Bevölkerung zu erreichen, aber viele dieser Projekte sind gescheitert. Frage: Was ist mit dem staatlichen Entschädigungsprogramm für die Opfer bzw. deren Hinterbliebenen? Man sagt ja, für einen Versöhnungsprozess braucht es Wahrheit, Gerechtigkeit und eine Entschädigung, sei diese nun moralisch oder finanziell. M.A.G.: Das Entschädigungsprogramm ist sicher eine sehr wertvolle Initiative in diesem Zusammenhang. Doch leider hat es nicht funktioniert. Einer der grossen Fehler war, die Ausführung des Programms den Organisationen der sozialen Bewegung zu überlassen. Für die Gemeinden, für die betroffenen Leute, die sog. Opfer, war es eine riesige Enttäuschung. Viele dachten, jetzt würde endlich etwas geschehen, am Schluss war es aber wie immer: Es profitierten die selben wie immer, diejenigen, die eine Beziehung zu den im Programm arbeitenden AktivistInnen hatten oder wussten, wie man zu seiner/ihrer Sache kommt. Leider gab es auch Konkurrenz innerhalb der für das Programm Verantwortlichen. Die Liga, die zum Thema der verschwundenen Kinder arbeitet, wurde zum Beispiel nie berücksichtigt, weil wir aus alten Rivalitäten als "politische Feinde" betrachtet wurden. Für die betroffenen Leute, die irgendwo weit weg von der Hauptstadt leben und von dem nichts wussten oder nichts mitbekamen, war das total frustrierend. Sie warfen dem Programm vor, zentralistisch zu sein, das Geld für die Gehälter der Angestellten zu vergeuden, nie aus ihren endlosen Sitzungen und Büros herauszukommen, um einen Augenschein vor Ort zu nehmen, etc. Vor einem Jahr hat die Regierung interveniert und die Kontrolle über das Programm übernommen, viel Personal wurde ausgewechselt und es wurden ein paar Gruppen organisierter Witwen entschädigt. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Regierung viel daran liegt, in nächster Zeit noch mehr Leute zu entschädigen - schliesslich ist 2007 ein Wahljahr und es müssen Wahlstimmen mobilisiert werden. Wir sehen das pragmatisch und empfehlen den Leuten, sich darauf einzulassen und das Geld anzunehmen solange es noch welches gibt, denn wer weiss, was unter einer neuen Regierung mit dem Programm geschieht. Leider, und das muss auch gesagt werden, konzentriert sich das Programm vor allem auf die ökonomische Entschädigung, auf der psychosozialen Ebene läuft sehr wenig und was da zum Teil gemacht wird, ist absolut hahnebüchern, die Leute werden für ziemlich dumm verkauft. Frage: Worin besteht die psychosoziale Arbeit der Liga? M.A.G.: Das Konkreteste, was wir machen, findet im Arbeitsbereich "Psychosoziale Arbeit und Gewalt" statt. Dort arbeiten wir in zwei Bereichen. Zum einen haben wir einen Vertrag mit den guatemaltekischen Gefängnisbehörden und arbeiten seit nun vier Jahren in Gefängnissen. Zum anderen haben wir das Programm Todos por el Encuentro, das sich der Suche von während des Krieges verschwundener Kinder und dem Zusammenführen mit ihren Familienangehörigen widmet. Mit diesem Programm haben wir 1999 begonnen, übrigens auf Initiative der Schweizer Pestalozzi-Stiftung. Ursprünglich hatten wir den Auftrag, eine Untersuchung zum Thema zu machen. Zum Abschluss der Untersuchung gab es eine Veranstaltung in der Kathedrale und das war's dann. Ich fragte mich dann, "Und jetzt, was machen wir mit den Leuten, die wir über die Untersuchung kennen gelernt und bei denen wir auch eine gewisse Hoffnung geweckt hatten?" Es konnte doch nicht einfach darum gehen, viel Lärm und Brimborium um eine Studie zu machen und dann die Sache auf sich beruhen zu lassen. So haben wir uns entschieden, an dem Thema weiter zu arbeiten. Das Programm läuft jetzt seit bald sieben Jahren. Es ist ein Versuch, das Vertrauen, die Kampfeslust und den Protagonismus der Leute zu wecken und zu stärken, die ins Programm involviert sind. Das gewaltsame Verschwindenlassen als ein soziopolitisches Phänomen hat nämlich genau dies zum Ziel: Der überlebenden Person oder der Person, die jemanden verliert, die Kontrolle über das eigene Leben zu nehmen. Die Logik unseres Programms ist, einfach ausgedrückt, den Leuten die Kontrolle über ihr Leben zurück zu geben. Und dieses zurückgeben bzw. zurücknehmen der Kontrolle ist für sie heilend. Die Leute beginnen wieder zu kämpfen, sie beginnen zu fordern. Sie fordern, die Wahrheit über das Schicksal ihrer Liebsten zu erfahren und sie fordern Gerechtigkeit vom Staat, der für das Verschwindenlassen ihrer Angehörigen verantwortlich ist. Als wir begannen, haben wir die Familienangehörigen völlig isoliert angetroffen, allein. Viele, etwa 60% der Leute, mit denen wir arbeiten, haben ihre Fälle nicht einmal den Wahrheitskommissionen (REMHI und Guatemala - Nunca Más) erzählt. Es ging also zuerst darum, in ihnen selber die Kraft wieder zu erwecken, sich auf die Suche nach den Verschwundenen zu machen, eine Suche, die u.U. das ganze Leben lang dauern wird. Wir verfolgen aber auch ein strategisches Ziel mit unserem Programm: Die Organisation. Wir sind seit Jahren daran, eine Organisation der Familienangehörigen und Hinterbliebenen von Verschwundenen aufzubauen. Denn die Liga wird sich früher oder später aus dieser Arbeit zurückziehen und wir wollen verhindern, dass in dem Moment das ganze Projekt in sich zusammenfällt. Wir hoffen, nächstes Jahr mit der Organisation an die Öffentlichkeit treten zu können. Es war ein langer Prozess, mit vielen Verzögerungen, aber es war uns wichtig, die Leute einzubeziehen, ihnen nicht einfach zu sagen, so, du bist jetzt Teil einer Organisation, sondern sie wirklich an diesem Prozess teilhaben zu lassen. Nach oben |
Frage: Von wie vielen Leuten sprechen wir? M.A.G.: Im Moment begleiten wir 504 Fälle. Also 504 Fälle, wo es Zeugenaussagen und Anklagende gibt. Aber oft ist es pro Fall mehr als eine Person, sind es die Eltern oder die Geschwister. Wir verstehen die Organisation nicht bloss als ein soziopolitisches Werkzeug, sondern auch als eine Ressource für die psychosoziale Gesundheit der Betroffenen. Das Zusammenkommen der Leute, der Austausch unter ihnen war fabelhaft. Die Leute haben auch persönlich eindrückliche Prozesse durchlaufen, zum Teil sind sie nicht mehr wiederzuerkennen im Vergleich dazu, wie wir sie damals angetroffen haben. Frage: Was bietet ihr den Leuten? Es ist ja oft so, dass diese Programme gekoppelt sind, Bewusstseins- oder Organisationsarbeit und im Gegenzug finanzielle Unterstützung. Denn das tägliche Überleben ist für die Leute auch ein ganz reales - und oft vordringliches - Problem. M.A.G.: Das war tatsächlich sehr schwierig. Die Logik, nach der in Guatemala viele Projekte funktionieren, ist genau diese. Die Leute haben sich an ihren "Opferstatus" gewöhnt, daran haben auch die Entwicklungsorganisationen mit ihren assistentialistischen Projekten einen Teil der Verantwortung. Wir waren von Beginn an sehr klar in dieser Hinsicht. Die Leute wissen genau, dass es im Programm kein Geld für niemanden hat. Ich erinnere mich an eine Frau in Chisec, die mich fragte, ob wir ihr finanziell helfen würden. Ich sagte "Nein, Doña Maria. Aber - geht es um Ihren Sohn oder um meinen?". "Um meinen", sagte sie. "Und Sie wollen ihn finden?", fragte ich. "Aber natürlich will ich ihn finden", sagte sie. "Wir können Sie im Rahmen des Möglichen unterstützen, aber vielleicht müssen auch Sie etwas investieren, Ihre Mahlzeiten selber bezahlen, wenn sie zu einem Treffen kommen oder auf ein Amt gehen müssen." Ich sage dir, diese Frau ist heute sehr aktiv im Programm. Es brauchte viel Überzeugungsarbeit unsererseits und es war eine Katastrophe, als dann das Wiedergutmachungsprogramm kam und es plötzlich hiess, es gäbe 24'000 Quetzales pro Toter/Totem. Doch für unsere Leute ist unterdessen klar, Wiedergutmachung heisst für sie Wahrheit und heisst, ihre Verschwundenen zu finden. Frage: Viele behaupten, es brauche drei Dinge als Voraussetzung für Versöhnung: Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. In Guatemala sind sämtliche juristischen Bestrebungen, Gerechtigkeit zu erlangen, blockiert. Kann es unter diesen Umständen überhaupt zu einer Versöhnung kommen? M.A.G.: Selbstverständlich. Als wir unser Programm entwickelten und Definitionen und Prinzipien aufstellten, gingen wir davon aus, dass es sich in erster Linie um ein menschliches Problem handelt. Zweifellos, seine Ursachen sind politisch und brauchen politische Lösungen. Aber wir dürfen die Menschen und ihre Geschichten dahinter nicht vergessen. Im Zusammenhang mit den verschwundenen Kindern gab es zwei Mythen: Erstens, es gäbe gar keine verschwundenen Kinder, die noch leben, die Politik der "verbrannten Erde" habe sie alle umgebracht, und zweitens, die Hinterbliebenen hätten Angst, in dieser Sache etwas zu unternehmen. Beide Annahmen haben sich im Verlauf der Arbeit als falsch herausstellte. Klar haben die Leute Angst, aber es kommt darauf an, wie du das Thema an sie heranträgst. Die Leute in unserem Programm wollen in erster Linie wissen, was mit ihren Kindern geschehen ist. Es geht ihnen nicht so sehr darum, irgendwen dafür zu bestrafen. Wenn sie dann aber ihre Kinder gefunden oder eben nicht gefunden haben aber die Umstände kennen, unter denen ihre Kinder gestorben sind, dann beginnt möglicherweise ein anderer Prozess. Doch darf man nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen und gleich zu Beginn von Exhumierungen und juristischen Prozessen sprechen. Da blocken sie ab. Die Angst, der Terror ist internalisiert. Doch das Thema der verschwundenen Kinder - entweder es befreit dich, du stirbst ohne es je gewusst zu haben, oder es hilft dir, die Ängste zu überwinden. Die Frage, die wir den Leuten stellen ist: Wenn du ein Kind hattest, das dir vor 20 Jahren weggenommen wurde und du hättest heute die Möglichkeit herauszufinden, was mit ihm geschehen ist, würdest du die Sache anpacken oder nicht? Normalerweise sagen die Leute ja, wer würde das nicht wollen? Bisher hat niemand gesagt, dass er oder sie es nicht wissen wollte. Ich denke, unser Programm konnte sich entwickeln und konnte überleben, weil wir keinen konfrontativen Diskurs führen. Natürlich sehen wir den politischen Aspekt des Problems, ganz klar, aber wir wollen die Leute nicht manipulieren, sie nicht zu etwas zwingen, zu dem sie vielleicht noch gar nicht bereit sind. Und das müssen wir respektieren. Ich bin sicher, dass der Tag kommen wird, wo 1000 oder 2000 Familien sich politisch für ihre Verschwundenen einsetzen werden, aber das ist ein Prozess, dessen Tempo sie bestimmen müssen. Die politische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit unserer Arbeit ist uns sehr wichtig, doch wo bleibt diese, wenn wir die Prozesse forcieren? Frage: Ohne generalisieren oder kulturalisieren zu wollen, aber haben Indígenas andere Methoden als Ladinos/-as, um die Vergangenheit zu bewältigen? Ich komme auf diese Frage angesichts der Tatsache, dass es im Fall der Ladinos/-as oft einzelne, selektive Morde waren und im Fall der Indígenas ganze Gemeinden, ganze Gemeinschaften massakriert wurden. M.A.G.: Das Phänomen von kollektiven Traumata ist in den Maya-Gemeinden historisch. Für viele Ladinos/-as war der Krieg DIE grosse Tragödie, während es für die bäuerlichen Mayas eine weitere unter vielen Tragödien war. Durch die Kultur oder die Religion haben die Leute über die Jahre Formen des Widerstandes entwickelt. Dies hat bereits mit der Conquista begonnen. Ich habe mich einmal mit einem alten Mann im Ixcán über den Krieg unterhalten. Und ich fragte ihn, wie sie das überhaupt aushalten konnten. "Wir machten dies und das, aber weisst du mein Sohn, für uns war das der kleine Krieg", sagte er mir. "Wie, der kleine Krieg, welches ist denn der grosse Krieg?" "Der grosse Krieg war die Epoche der Kolonialisierung." Wenn du die Geschichte der Kolonialisierung anschaust, ist sie voller Tragödien, die die Mayas erlebt haben. Frage: Du meinst also so etwas wie eine kollektive historische Erinnerung? M.A.G.: Ja, all das was wir als "factor resiliente" bezeichnen, der dir erlaubt, Widrigkeiten zu begegnen und sie auszuhalten. Die Mayas lernten dies, weil sie immer wieder traumatische Prozesse durchleben mussten. Die CPR (Widerstandsdörfer in den guatemaltekischen Bergen/Urwäldern) sind ein Beispiel dafür. Die CPR waren keine neue Erfindung. Während der Kolonialisierung sind ganze Dorfgemeinschaften im Quiché, in Huehuetenango oder in Baja Verapaz in die Berge geflüchtet, um die von den Spaniern verlangten Tribute nicht erbringen zu müssen. Sie hatten dort ihre Dörfer, die sie Pajuides nannten und die Spanier haben sie verfolgt, ihnen regelmässig ihre Häuser und Felder abgebrannt, sie gezwungen, zurückzukommen, worauf sie dann wieder geflüchtet sind. Die CPR sind in dem Sinne Teil einer Erinnerung an den Widerstand während der Kolonialisierung. Frage: Hilft diese kollektive Erinnerung den Indígenas, mit ihrer individuellen Geschichte umzugehen? M.A.G.: Ja und Nein. Denn wir müssen auch berücksichtigen, dass sich gewisse Umstände verändert haben. Der Prozess des Widerstands, ausgehend von der Kultur oder der Organisierungsform der Maya, hat Risse bekommen. Wir dürfen auf keinen Fall die Maya idealisieren. All diese Geschichten von DER Kosmovision DER Maya sind Blödsinn! Es gibt Maya die 150%-ige orthodoxe Evangelisten sind, die nichts mir der Maya-Kosmovision am Hut haben. Wir müssen die Angelegenheit etwas differenzierter betrachten. Dazu gehören ökonomische Phänomene wie die Globalisierung, die in den Maya-Gemeinden diese bestimmte Vision von Widerstand zerstört haben. Mit dem Erstarken der Maya-Bewegung in den letzten Jahren hat nochmals eine wichtige Verschiebung stattgefunden: Diejenige vom Widerstand zum Aufbruch (Konstruktion). Bisher war die Logik und Identität der Mayabewegung der permanente Widerstand, doch jetzt nach dem Krieg, mit den Friedensabkommen, der weltweiten Entwicklung und der Tatsache, dass der guatemaltekische Staat gemerkt hat, dass er die Maya nicht mehr einfach so ausschliessen kann, zeigt sich ein Bild von einer sich im Aufbruch befindenden Maya-Bevölkerung. Jetzt geht es darum, diese jahrhundertealte Logik des Widerstandes zu überwinden, ein schwieriger Prozess, der nicht ohne Widersprüche und Konflikte ablaufen wird. Von der Subjektivität her gesehen, und ohne es idealisieren oder romantisieren zu wollen, sind das natürlich enorm positive Prozesse. (Zweiter Teil des Interviews im nächsten ¡Fijáte!) |
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