Guatemala, 10 Jahre danach... "Es braucht Räume, um frei denken zu können"
Fijáte 375 vom 27. Dezember 2006, Artikel 2, Seite 1
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Guatemala, 10 Jahre danach... "Es braucht Räume, um frei denken zu können"
Miguel Ángel Albizures erlebte die Zeit des bewaffneten Konflikts als Gewerkschafter, Menschenrechtsaktivist und Journalist. Sein Engagement zwang ihn, ins Exil zu gehen. Heute ist er Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation CALDH und Teil der Nationalen Menschenrechtsbewegung, in der verschiedene Organisationen vereint sind. In einem am 4. Dezember in ALAI, América Latina en Movimiento (http://alainet.org/) publizierten Interview mit Andrés Cabanas spricht Albizures über seine Einschätzung der Umsetzung der Friedensabkommen und darüber, wie er sich eine "linke" Zukunft in Guatemala vorstellt. Frage: Verschiedene Analysen kommen zu dem Schluss, dass die Friedensabkommen nur ungenügend umgesetzt wurden. In welchen Aspekten hat sich in Guatemala in den letzten 10 Jahren eine Veränderung zum Guten entwickelt, in welchen Bereichen wurden die Abkommen umgesetzt? Miguel Ángel Albizures: Ein wichtiger Aspekt ist, dass der Krieg zu Ende ging, dass die Waffen schweigen. Die Demobilisierung der URNG war ein historischer Moment, ebenso die Verkleinerung der Armee, auch wenn in diesem Bereich bereits wieder Rückschritte zu verzeichnen sind. Es gab den Versuch, das Justizsystem zu transformieren, leider ist es bei dem Versuch geblieben. Ein anderer Versuch war die Schaffung einer Polizeiakademie, eine absolute Notwendigkeit, die aber leider noch nicht so funktioniert, wie sie eigentlich sollte. Zu Bedenken ist auch der Grad der politischen Beteiligung der indigenen Bevölkerung. Ob diese nun politisch ausgenützt wird, oder ob es ihre eigene Suche nach Spielräumen ist, ihre Partizipation ist jedenfalls enorm wichtig. Einen weiteren Fortschritt sehe ich in der Schaffung verschiedener Sekretariate und Institutionen wie z.B. das Präsidiale Sekretariat für Frauenfragen, SEPREM, die Präsidiale Kommission gegen Diskriminierung und Rassismus, CODISRA, und andere. Es stimmt, dass diese Institutionen an ihre Grenzen kommen, dass ihnen Hindernisse in den Weg gestellt werden und sie ein zu kleines Budget haben, aber es sind Instrumente, die existieren und deren Dynamik eines Tages zum Tragen kommen kann. Frage: Wo siehst du die fundamentalen Defizite bei der Umsetzung der Abkommen? M.Á.A.: Man muss bedenken, dass die Friedensabkommen als ein Instrument gedacht waren, um das Land zu verändern. Im Moment der Friedensunterzeichnung hätte man eine Einheitsregierung bilden sollen. Doch man entschied sich, mit einer Regierung weiter zu arbeiten, die Vertreterin der Oligarchie war und keinerlei Interesse daran hatte, die Abkommen umzusetzen. Es wäre wichtig gewesen, in jenem Moment per Volksabstimmung eine Regierung zu wählen, in der alle Sektoren vertreten gewesen wären, die an den Friedensverhandlungen beteiligt waren. Wäre dies geschehen, müssten wir heute nicht so lamentieren wie wir es tun. Da dies aber nicht geschehen ist, haben wir nun ein Defizit, was die Veränderung und Modernisierung des Staates betrifft. Der Staat als solcher existiert quasi nicht, unser Justizwesen funktioniert nicht, die Korruption korrodiert alles. Allgemein kann man von strukturellen Menschenrechtsverletzungen sprechen und es ist nirgends ein politischer Wille auszumachen, diese Situation zu verändern. Frage: Wie sieht deine Evaluation des Abkommens über die Menschenrechte aus? Dieses Abkommen war ja seinerzeit strategisch sehr wichtig, es war das einzige, das bereits vor der definitiven Unterzeichnung der Friedensabkommen in Kraft trat. M.Á.A.: Meine Beurteilung fällt sehr, sehr negativ aus. Wir haben ein Defizit in Sachen Gesundheit, was eine Menschenrechtsverletzung ist, ebenso im Bereich Erziehung. Aber das Schlimmste ist, dass in Guatemala Menschen verhungern. Dies sollte den Unternehmenssektor und die RegierungspolitikerInnen beschämen: Leute verhungern zu lassen in einem Land, das über so grosse Ressourcen verfügt. Diejenigen, die wirklich Veränderungen bewirken könnten, unterlassen dies geflissentlich. Das chronische Übel in Guatemala, die Landfrage, wird nicht angegangen. Es werden gewaltsame Landräumungen vorgenommen anstatt Lösungen zu suchen. Es werden Sekretariate geschaffen, Abkommen unterzeichnet, die nicht bindend sind und entsprechend nicht eingehalten werden. Die BäuerInnenorganisationen haben mit dieser und den vorherigen Regierungen zahlreiche Verträge unterzeichnet, doch die Situation auf dem Land hat sich nicht verändert. Ein weiterer Aspekt ist die politische Gewalt, denen gewisse Sektoren ausgesetzt sind, speziell die Menschenrechtsorganisationen. Sie werden überwacht, verfolgt, die ganze soziale Bewegung wird kriminalisiert, eine Politik die übrigens in ganz Lateinamerika anzutreffen ist und die von den Vereinigten Staaten ausgeht. Die sozialen Organisationen sollen demobilisiert, ihre Aktivitäten paralysiert werden. Dies war im Jahr 2005, bei den Protesten gegen die Freihandelsabkommen, TLC, sehr augenfällig. 2005 und 2006 konnte man es gegen die Bewegungen beobachten, die sich gegen den Minenbau wehrten, die Tendenz wird 2007 weitergehen. Frage: Du selber gehörst einer Organisation an, die immer wieder bedroht wird… M.Á.A.: Ich habe das Gefühl, dass wir einen Rückschritt in die Vergangenheit machen. Die Menschenrechtsorganisationen, die sich zum Ziel gesetzt haben, die am Völkermord beteiligten Ex-Funktionäre vor Gericht zu bringen, werden wieder mit einem antikommunistischen Diskurs belegt. Dies führte zu Drohungen gegen uns, gegen Einzelpersonen, Organisationen, oder ganze Gemeinden, wie in Rabinal. Es wurde zu einem geschlossenen Vorgehen gegen die Menschenrechtsorganisationen und zur Verteidigung der beschuldigten Ex-Militärs und Ex-Funktionäre aufgerufen. Der Ruf nach Gerechtigkeit und nach der Würdigung der Opfer wird kriminalisiert. Man will verhindern, dass Recht gesprochen wird und damit ist ein anderes wichtiges Thema angesprochen: Man will verhindern, dass es Präzedenzfälle gibt. Wenn die Justiz funktionieren würde, würden sie sich nicht trauen, uns öffentlich, in Pressekonferenzen und in Zeitungsinseraten, zu bedrohen. Frage: Ist es also in Guatemala weiterhin gefährlich, Oppositionspolitik zu machen? M.Á.A.: Zweifellos. Wir durchleben einen bevormundeten Demokratisierungsprozess. Es ist klar vorgegeben, was drin liegt und wo die Grenzen sind. Es ist gefährlich, das Recht zu verteidigen, seine Rechte einzufordern, oder sich auf das Recht auf politische Beteiligung zu berufen. Die Gründung von MAIZ (Movimiento Amplio de Izquierdas - Breite Bewegung der Linken), ursprünglich bekannt als Frente Político y Social de Izquierdas (Soziale und Politische Front der Linken) hat viele Ängste wieder erweckt. Solche Prozesse, mit all den Schwächen, die ihnen innewohnen, erschrecken die guatemaltekische Bourgeoisie. In solchen Momenten ist dann plötzlich der Diskurs der "harten Hand" wieder populär und die verschiedenen Parteien werden von Militärs bevölkert. Es tauchen plötzlich wieder "besorgte BürgerInnen" auf, die glauben, dass es in Guatemala eine kommunistische Gefahr gibt und dass diese bekämpft werden muss. Dies zu tun, legitimiert auch die Anwendung repressiver Mittel. Nach oben |
Heute ist unsere Gesellschaft gespalten, die einen ziehen in eine Richtung, die anderen in die gegenteilige. Sobald sie aber einen gemeinsamen Feind haben wie in den 70er Jahren, schliessen sich der konservative Wirtschaftssektor und das Militär zusammen, das sich weigert, die ihm durch die Friedensabkommen auferlegte Rolle zu übernehmen. Erst langsam beginnt auch ein Teil der Linken zu merken, dass sie sich vereinen muss, dass es gemeinsame Ziele gibt und dass wir uns eine Spaltung nicht leisten können. Frage: Kann man unterscheiden zwischen der Gewalt als eine Politik des Staates und der Gewalt, die von den parallel zum Staat funktionierenden Gruppen ausgeht? M.Á.A.: Es ist sehr heikel, die Gewalt als eine Politik des Staates zu interpretieren, das wäre ein riesiger Rückschritt. Ganz sicher existiert aber eine Komplizenschaft, die sich in Nichtstun und Geschehenlassen ausdrückt und für die der Staat die Verantwortung trägt. Auf der anderen Seite gibt es aber auch keine Sicherheitsstrategie, mit der den BürgerInnen das Ausüben ihrer Rechte garantiert würde. Es gibt repressive Apparate, die sich in den staatlichen Institutionen eingenistet haben. Es gibt klandestine Gruppen und illegale Körperschaften, in deren Machenschaften Militär- und Polizeiangehörige involviert sind, und auch die ungehinderte Verbreitung des organisierten Verbrechens gehört zu dieser Thematik. Abgerundet wird das Ganze von der Unterlassung des Staates, irgendetwas zu tun. Frage: Du bezeichnest die Prozesse gegen Ex-Militärs und Ex-Funktionäre, die wegen Genozids angeklagt sind, sowohl als einen Unsicherheitsfaktor für euch MenschenrechtsaktivistInnen, wie auch als etwas Positives bei der Suche nach Gerechtigkeit. Wie sieht die Zukunft für diese Prozesse aus? M.Á.A.: Ich glaube, dass es sich hier um einen historischen Moment handelt. Es ist das erste Mal, dass die guatemaltekische Justiz, unter Druck und aus Angst, das internationale Recht könnte angewendet werden, zu handeln beginnt. Ich glaube nicht, dass diese Auslieferungen bald vollzogen werden, aber ich hoffe, dass wenigstens die nationalen Justizbehörden sich gezwungen fühlen, rechtmässig zu handeln. In diese Richtung lenken wir unsere Hoffnung und überlegen uns, welche Art von Druck wir ausüben können, um diesen Prozess zu beschleunigen. Ich hoffe, dass sich Ríos Montt eines Tages der Justiz stellen muss, ob das nun die guatemaltekische oder die internationale Justiz ist, und diese Hoffnung verliere ich nicht. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, deren er sich schuldig gemacht hat, können nicht straflos bleiben. Zweifellos wird die Angelegenheit politisiert. Es gibt Abmachungen und Händel innerhalb des Kongresses, in den oberen Führungsetagen. Aber ich glaube, am Ende sind der internationale Druck und das Prinzip des internationalen Rechts stärker. Es ist aber auch eine Frage der Würde: Irgendwann können sie ihre Augen nicht länger verschliessen, vor allem, wenn es reale Beweise gibt. Wir führen den Fall des Massakers von Dos Erres, Petén seit 1994/95. Wir haben Exhumierungen durchgeführt, es gab 34 Einsprüche seitens der Angeklagten, die Staatsanwaltschaft meinte, es gäbe nicht genügend Beweismaterial um einen Prozess durchzuführen. Wir haben 162 Skelette gefunden, 67 davon gehörten Kindern unter 12 Jahren. Und die Richter behaupten immer noch, dass zu wenige Beweise vorliegen und sprechen von einer bewaffneten Auseinandersetzung. Aber irgendwann wird sich das ändern müssen und irgendwann werden wir unsere Beweise vorlegen können. Es ist nicht mehr so wie früher, als das Justizwesen gänzlich der Exekutive unterworfen war, heute versucht es wenigstens, ein Mindestmass an Unabhängigkeit zu erreichen. Frage: Wie siehst du in diesem Kontext der Gewalt und dem nicht Respektieren der Menschenrechte die Zukunft der Friedensabkommen? Sind sie immer noch eine gültige Agenda für Guatemala? M.Á.A.: Mit all den Schwächen, die sie haben, sind sie immer noch gültig. Es ist wichtig, dass die soziale Bewegung sich die Friedensabkommen auf die Fahnen schreibt. Man muss weiterhin den Finger auf die wunden Punkte legen und auf ihre Umsetzung insistieren. Die Friedensabkommen sind eine Minimalagenda, nichts Übertriebenes. Ausserdem sind sie realistisch, was ihre Umsetzung betrifft. Das Problem sind die Interessen, die in Guatemala gegeneinander ausgespielt werden und der konservative Charakter der Bourgeoisie: Es geht ihr nur um Akkumulation, die Rechte der weniger Bemittelten werden mit Füssen getreten, die Arbeitskraft aufs Maximum ausgenützt, ohne sich gleichzeitig Gedanken darüber zu machen, wie die Kaufkraft erhöht werden könnte, um den internen Markt anzutreiben. Wenn wir über die Rolle des Militärs in einer demokratischen Gesellschaft sprechen, müssen die Friedensabkommen beim Wort genommen werden. Das Militär darf sich nicht in interne Sicherheitsfragen einmischen, es muss eine zivile Sicherheitskraft ausgebildet werden, es müssen die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden, dass eine solche überhaupt arbeiten kann. Frage: Werden die politischen Veränderungen in Lateinamerika auch Guatemala beeinflussen? Oder wird das Land weiterhin intern gespalten und extern isoliert bleiben? M.Á.A.: Guatemala kann so nicht weiter machen. Es muss zumindest einen kleinen, gewaltig modernisierten, ökonomischen Sektor geben, der weniger aufs Hamstertum aus ist. Auch im Militär muss es Sektoren geben, die nicht aus Granit sind, solche hat es schon immer gegeben und die sind auch zu Veränderungen fähig. Die guatemaltekische Bourgeoisie hat sich als unfähig erwiesen, Änderungen herbeizuführen, nicht einmal zu ihren eigenen Gunsten. Sie ist gescheitert, ein Beispiel dafür ist die aktuelle Regierung, die ein Fiasko für die dominante Klasse ist. Was in Bolivien geschehen ist, jetzt auch in Ecuador, oder mit Chávez in Bolivien - die Kritik an seinem Personenkult ist erlaubt - wird auch Guatemala beeinflussen. Guatemala kann nicht zurück stehen. Wir müssen nach Auswegen suchen, und dafür braucht es ein klares Bewusstsein der sozialen Bewegung, der sozialen FührerInnen. Sie müssen wissen, wie solche Veränderungen herbei geführt oder ausgehandelt werden müssen und sie müssen dafür einstehen, dass Guatemala nicht eine Hazienda bleibt, auf der einige wenige Familien machen können, was sie wollen. Frage: Du hast von der Notwendigkeit der Einheit der Linken gesprochen und der Suche nach Gemeinsamkeiten. Worin besteht die Herausforderung für die Linke, die Friedensagenda durchzusetzen? M.Á.A.: Mir macht ein Punkt in diesem Vereinheitlichungsprozess innerhalb der Linken Sorgen: Es ist das erste Mal, dass sich die sozialen Bewegungen als Organisationen öffentlich aussprechen und sich unter ein gemeinsames Dach stellen. Bisher haben sie sich immer einzelnen Personen angeschlossen. Mit diesem gemeinsamen Dach identifizieren sich ganze Bewegungen: Ceiba, das Kollektiv der sozialen Organisationen… das bedeutet auch eine Veränderung der Selbstdefinition dieser Organisationen. Meine Angst ist, dass dies in der Zukunft erneut zu Spaltungen führt. Es braucht eine grosse politische Reife der Führung der diversen Sektoren, damit nicht das geschieht, was wir schon einmal erlebt haben: Die Spaltung der URNG führte auch zu Spaltungen ihrer Organisationen, z.B. innerhalb der Gewerkschaften. Eine andere Sorge die ich habe, betrifft die Wahlkandidaturen. Hoffentlich zerbricht der ganze Prozess nicht an persönlichen Interessen oder an Gruppeninteressen, die nach wie vor bestehen. Wir haben uns stark von den Streitereien der Führungsspitzen, von parteipolitischen Einflüssen, und mehr noch, vom "Kommandantismus" beeinflussen lassen. Was es braucht, ist ein eigenständiges Denken, das Entwickeln eigener Meinungen, ja, es braucht überhaupt erst Räume, in denen frei gedacht und argumentiert werden kann. Räume, in denen unterschiedliches politisches Denken Platz hat und nicht nur blinder Gehorsam. Wir müssen das Sektierertum überwinden, wir müssen daran denken, was uns als Land und als Personen erwartet, wenn wir nicht in der Lage sind, minimale Gemeinsamkeiten zu finden. |
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